Lkw überrollt Radfahrerin: Unterm Rad

Vor drei Jahren verändert ein Unfall Steffi Langs Leben. Sie kämpft noch heute mit den Folgen – und sie hat radikale Forderungen an die Politik.

Steffi Lang steht auf der Unfallkreuzung in Kreuzberg

„Warum hab ich das nicht gemerkt?“ Steffi Lang auf der Kreuzung in Berlin-Kreuzberg Foto: Karsten Thielker

Wir treffen uns im Foyer. Bin mit Gehhilfe unterwegs.“ Steffi Lang beschreibt in einer Mail vor dem ersten Treffen, woran man sie erkennt.

Leuchtend roter Lippenstift, weiße Mütze, eine weite schwarze Hose, goldene Sneaker. „Ich hab mich nicht extra fein gemacht“, sagt die Frau und lächelt schelmisch. „Ich sehe immer so aus.“ Erst recht hat sie sich nicht für die Bilder herausgeputzt. Denn eigentlich, sagt sie, „müsstet ihr ein Foto von meinem Bein machen. Damit man sieht, was passiert, wenn man von einem Laster zertrümmert wird.“

Wenig später steht Steffi Lang auf der Kreuzung unweit des Checkpoint Charlie in Berlin-Kreuzberg. Genau dort, wo es passiert ist, vor fast drei Jahren, am 24. Juni 2013. Sie war nicht mehr oft hier seitdem. „Es ist halt eine Scheißecke für mich“, sagt die 52-Jährige. Dann tritt sie auf den Asphalt, der gerade wegen einer Baustelle für den Autoverkehr gesperrt ist, posiert für die Kamera, hält ihre Krücke, so, dass man sie gut sieht. Und bricht hemmungslos in Tränen aus. „Das geht vorbei“, sagt Lang, „das muss ich aushalten“. Steffi Lang will ihre Geschichte erzählen.

Diese Kreuzung ist etwas besonderes. Hundert Meter weiter nördlich war einst der Checkpoint Charlie, der Grenzübergang der Berliner Mauer, an dem sich 1961 auf der Friedrichstraße sowjetische und amerikanische Panzer gegenüber standen. Heute wimmelt es hier von Touristen, die fotografierend kreuz und quer über die Straße laufen. Südlich der Kreuzung ist der Eingang zur U-Bahn-Station. Damit die Fußgänger leicht von der U-Bahn zum Checkpoint kommen, gibt es eine besondere Ampelschaltung. Sie können die Kreuzung diagonal queren, während die Autos aus allen vier Richtungen rot haben.

Gigantischer Sattelschlepper

Radler aber sollen diese Kreuzung zusammen mit dem motorisierten Verkehr passieren, wenn alle Fußgängerampeln auf rot stehen. Macht das diese Ecke so gefährlich? Im Februar 2013 wurde hier eine junge Frau von einem Betonmischer überrollt. Sechs Wochen später traf ein gigantischer Sattelschlepper auf Steffi Lang. Im März 2015 wird wieder eine Radfahrerin von einem Sattelschlepper überfahren. Alle drei Frauen hatten Glück. Sie wurden „nur“ schwer verletzt.

Die Kreuzung am Checkpoint Charlie ist etwas besonderes. Der Unfallhergang aber ist es nicht. Es gibt nichts gefährlicheres für Radfahrer, als rechtsabbiegende LKW. In Berlin kamen in diesem Jahr schon sieben Fahrradfahrer ums Leben, drei von ihnen wurden von Lastwagen überfahren.

Dieser Unfalltypus sei nicht häufiger als andere, sagt eine Sprecherin des Radlerverbandes ADFC, nur die Folgen seien ungleich schwerer. Vor allem wenn es um LKW mit über 7,5 Tonnen Gewicht geht, hat eine Studie der Unfallanalyse Berlin GbR ergeben, die 141 solcher Fälle analysiert hat. Wird ein Fahrradfahrer nicht nur touchiert, sondern überrollt, endet das sogar in zwei von drei Fällen tödlich.

„Da ist sie ja“, ruft Steffi Lang erfreut und zeigt in das Starbucks-Cafe gleich an der Ecke. Sie meint die Bedienung hinter dem Tresen. Die die den Unfall gesehen und als Zeugin vor Gericht ausgesagt. Drinnen fallen sich beide in die Arme. „Wie gut, dass es dir gut geht“, sagt die Bedienung. Steffi Lang bekommt „den besten Tisch“. Durch das große Fenster hat man einen wunderbaren Blick auf die belebte Kreuzung.

Die Überwachungskamera

Steffi Lang klappt ihren Laptop auf. Sie zeigt das Video von der Überwachungskamera, die auf der anderen Straßenseite hängt. Eine Radfahrerin kommt von links ins Bild hinter der Häuserecke aus der Friedrichstraße hervor. Sie ist offenbar zu früh losgefahren, hat nicht gewartet bis sie grün bekam. Ein Regelverstoß. Sie erreicht problemlos die andere Seite der Kreuzung.

Nach ihr kommt eine zweite Radlerin. Es ist Steffi Lang. Direkt hinter, fast neben ihr, fährt der Laster, ein Sattelschlepper. „Wissen Sie, was komisch ist?“, fragt Lang. „Wenn ich das so sehe, denke ich, warum hab ich das nicht gemerkt?“ Es ist diese Frage, die sie quält. „Hast du nicht den Laster gehört? Alle fragen das“, sagt Lang. „Aber du merkst das gar nicht. Du denkst, der fährt geradeaus“, sagt Lang. Und dann noch mal: „Ich ging absolut hundertprozent davon aus, dass er geradeaus fährt.“

Tatsächlich fährt der Sattelschlepper geradeaus bis tief in die Kreuzung hinein. Dann macht der Fahrer sogar noch einen kleinen Schlenker nach links. Um auszuholen, damit er überhaupt um die Ecke kommt. Erst danach kommt er zurück und erwischt Steffi Lang. Vorne mit der rechten Ecke des Führerhauses.

Im Video sieht man einen Mann auf die Straße stürmen, wild winkend signalisiert er dem LKW-Fahrer, dass etwas passiert ist. Vor Gericht, erzählt Lang, habe der Fahrer gesagt, dass er gebremst habe. Aber ein Gutachter habe ihm widersprochen. Was ihn gebremst habe, sei nur die Frau unter seinem Vorderrad gewesen.

Im „Toten Winkel“?

Hat der Fahrer sie nicht gesehen? Nicht sehen können? In den letzten Jahren wurde viel über den so genannten „Toten Winkel“ diskutiert, den Bereich, in dem LKW-Fahrer Radler oder Fußgänger nicht sehen können. Mittlerweile sind die Sicht verbessernde Weitspiegel vorgeschrieben, die Unfälle gibt es immer noch.

Sie passieren auch nicht nur an engen, schlecht einsehbaren Ecken, sondern auch an weitläufigen Kreuzungen. Erst letzte Woche hat es in Berlin eine 72-jährige Frau getroffen. Auf einer mit roter Farbe markierten Fahrradspur geriet sie unter einen rechtsabbiegenden Sattelschlepper. Laut Polizei erlitt sie schwere, aber kein lebensgefährlichen Verletzungen. So wie Steffi Lang vor drei Jahren.

„Als ich den Ruck erlebt habe von dem Laster“, erzählt Steffi Lang und gerät ins Stocken, „du weißt sofort, das ist nicht gut, das ist heavy, eine irre Kraft.“ In dem Moment, fährt sie fort, habe sie sich daran erinnert, dass sechs Wochen zuvor an der gleichen Stelle eine Frau verunglückt war. „Ich dachte: Und jetzt ich! Das kann nicht sein. Jetzt ich. Genau die gleiche Situation. Und jetzt ich.“

Dann war sie mal bewusstlos, mal wach. Rund 20 Minuten lag sie unter dem Laster, ihr rechtes Bein unter dem Vorderrad. „Das war alles Matsch“, sagt Lang. Dann konnte die Feuerwehr den LKW mit Luftkissen anheben und sie bergen. „Ich kann mich nur an eine Frau erinnern, die hatte so lange Haare, die beugte sich über mich und hat gesagt, alles ruhig, ich bin Ärztin“, erzählt Lang.

„Ich weiß noch, wie du versucht hast, unter diesem Laster hervorzukommen“, sagt die Bedienung, die das Video auch noch mal sehen wollte. „Ach, echt?“, fragt Steffi Lang, „was habe ich gemacht?“ „Du hast nach den Leuten gegriffen und versucht, da unten wegzukommen“, sagt die Café-Mitarbeiterin, „das ist das Bild, das mir im Gedächtnis geblieben ist.“ Sie hat überlegt, ob sie ihre Arbeitsstelle wechselt, weil sie es nicht mehr aushält, dauernd auf diese Kreuzung zu schauen. Mindestens einmal pro Woche, sagt sie, sehe sei eine gefährliche Situation.

Acht Operationen

Steffi Lang lag drei Monate im Krankenhaus. Sie wurde acht Mal operiert. Der rechte Fuß wurde amputiert, vom linken Bein Muskeln ans rechte verpflanzt. „Das nennt man Altlappentransplantation“, sagt Lang. Sie kämpfte monatelang in der Reha. Heute geht sie am Stock, wenn es gut geht. An schlechten Tagen sitzt sie im Rollstuhl. „Die Leute denken immer, du kriegst ne tolle Prothese und dann ist gut und du gehst zu den Paralympics“, sagt Lang. Jüngst riet ihr ein Arzt, ein weiteres Stück ihres Beines amputieren zu lassen.

Der LKW hat eine sehr agile, sehr selbstständige Frau getroffen. Als Teenager zog sie allein nach West-Berlin. Mitte der 80er Jahre war sie Sängerin bei „The Nirvana Devils“. „Eine Countrypunkpowerpopindie-Band“, sagt Lang. Hagen Liebing, der später auch mal bei „Die Ärzte“ spielte, war ihr Bassist. Sie hat ein paar Jahre in New York gelebt, in den 90ern war sie Head of Music Video bei einer großen Produktionsfirma in London.

Zuletzt hatte sie in Berlin eine Werbeagentur, spezialisiert auf Events für Nobelautomarken wie Bugatti. Die Firma ging insolvent, als Lang im Krankenhaus lag. Arbeiten kann sie nicht mehr in ihrem Beruf. Dafür ist sie nicht mobil genug.

Steffi Lang hat Glück gehabt. Ihre Familie hält zu ihr – auch wenn die 14-jährige Tochter nicht glücklich ist, dass die Mutter ihr das Radfahren verbietet. Vor allem aber war sie gut versichert. „Mit Geld geht alles besser. Wenn ich Hartz-IV-Empfänger wäre oder nicht die Versicherung gehabt hätte, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. Da gibt es wahrscheinlich eine Menge Leute, die daran scheitern.“

Totaler Zusammenbruch

Sie würde gern einen Dokumentarfilm drehen über ihren Unfall. Schon seit über einem Jahr. „Aber dann kommt die Psyche, der totale Zusammenbruch“, erzählt Lang. „Du hast nicht mehr die Kraft, deine Sexualität, ich bin eine Frau, du hattest mal zwei Beine und jetzt …“. Sie stoppt. „Ich könnte mich auf die Straße setzen und auf Penner machen und bekäme einen Eimer voll Geld, weil das einfach richtig krass aussieht.“

Als sie aus dem Krankenhaus kam, da hatte sie das Gefühl, es gehe voran. „Aber dann holt es dich ein. Das bist jetzt du, so wie du bist, Steffi. Du brauchst deinen Bikini nicht mehr rausholen.“ Manchmal, sagt Steffi Lang, vermisse sie ihren Fuß. „Ich träume davon, dass ich durch den Wald renne.“

Der Fahrer des LKW wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Sauer auf ihn ist sie nicht. „Der Mann wollte mich mit Sicherheit nicht umfahren“, sagt Lang. „Ich habe damit Frieden geschlossen.“ Wütend aber machen sie die Verkehrspolitiker, die Menschen, die so etwas zulassen.

Denn es ist ja nicht so, dass es keine Verbesserungsvorschläge gibt. Im Mai 2015 zum Beispiel hat Berlins Verkehrssenator Andreas Geisel (SPD) eine Studie mit dem Titel „Sicher geradeaus!“ veröffentlicht. Dieser vom Bundesverkehrsministerium geförderte „Leitfaden zur Sicherung des Radverkehrs vor abbiegenden Kfz“ zählt auf 54 Seiten alle Möglichkeiten auf, wie Kreuzungen sicherer werden können. Politisches Programm ist er dennoch nicht.

Beifahrer als Lösung

Zudem bliebe selbst an einer bestens ausgestatteten Kreuzung immer noch der Risikofaktor Mensch. Einen bessere Sicht für die LKW-Fahrer sei zwar wünschenswert, aber nicht das Kernproblem, heißt es in der Studie der Unfallanalyse Berlin. „Ein Lkw-Fahrer, der an einer belebten und möglicherweise eng gestalteten großstädtischen Kreuzung mit einem schweren Sattelzug rechts abbiegt, kann sich gar nicht im erforderlichen Maß auf die mögliche Gefahr konzentrieren, die er für Radfahrer und Fußgänger rechts neben und rechts vor seinem Fahrzeug darstellt“, schreiben die Unfallanalytiker. Ihr Vorschlag: Der Einsatz eines menschlichen Beifahrers. Das sei der einfachste und den meisten Erfolg versprechende Ansatz.

Ginge es nach Steffi Lang, würde der Beifahrer sofort zur Vorschrift für alle innerstädtischen Schwerlaster. Noch lieber aber würde sie die Brummis komplett aus der Innenstadt verbannen. Zumindest tagsüber. Oder sie wünscht sich automatische Bremssysteme. Die müsse es doch längst geben, sagt Lang, schließlich würden schon auf Autobahnen Modellversuche mit LKW ganz ohne Fahrer durchgeführt.

„Aber da geht es immer ums Geld“, sagt sie. Es wäre ein hoher Preis, den Gesellschaft zahlen müsste, um schwächere Verkehrsteilnehmer zu schützen. Aber was ist das schon gegen einen Fuß.

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