Linken-Politiker über Sahra Wagenknecht: „Sie bekommt Zuspruch von rechts“
Sahra Wagenknecht beleidigt viele, die sich für eine andere Klimapolitik oder gegen Rassismus engagieren, sagt Linken-Politiker Luigi Pantisano.
taz: Herr Pantisano, Sahra Wagenknecht hat ein neues Buch geschrieben, es heißt „Die Selbstgerechten“, Sie schreiben auf Twitter, der richtige Titel wäre gewesen: „Die Selbstgerechte“. Was stört Sie an dem Buch?
Luigi Pantisano: Es ist die reinste Abrechnung mit dem Programm der Partei Die Linke und mit der gesellschaftlichen Linken. Sie beleidigt viele Menschen und Bewegungen, die sich für eine andere Klimapolitik und gegen Rassismus einsetzen. Das macht es schwierig, sich mit ihrem Buch sachlich auseinander zu setzen.
Wollen wir konkreter werden, weil nicht alle das Buch gelesen haben? Ich habe drei Zitate rausgesucht, Sie sagen etwas dazu?
Ja, gern.
Okay, das erste Zitat: „Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein.“ Was halten Sie davon?
Was sie schreibt, ist falsch. Ich setze mich nicht gegen Rassismus ein, weil ich irgendwelche individuellen Merkmale habe und irgendeinen Anspruch daraus ableite. Ich setze mich gegen Rassismus ein, damit das Aussehen oder die Herkunft einer Person nicht zum Nachteil geriert – sei es bei der Job-, bei der Wohnungssuche oder in anderen Bereichen, in denen es um gesellschaftliche Teilhabe geht. Und ich will auch nicht von der Polizei ständig kontrolliert werden, weil ich schwarze Locken habe.
Das sind doch keine Marotten, sondern ganz konkrete Kämpfe, die bestehen. Es geht somit nicht um persönliche Identität oder um Gefühle. Aufgrund bestimmter Merkmale erfahren Menschen Diskriminierung, die zu einer schlechteren Bezahlung führen und oft eine schlechtere Wohnung bedeuten. Wagenknecht ignoriert einfach, dass der Einsatz gegen Rassismus sich sowohl gegen individuelle Diskriminierung als auch gegen sozioökonomische Benachteiligungen richtet.
Wagenknecht kritisiert in dem Buch immer wieder, dass sich die „Lifestyle-Linke“ von der Arbeiterklasse entfernt habe. Wie sehen Sie das?
Jahrgang 1979, ist seit 2016 Stuttgarter Stadtrat für die Wählervereinigung Stuttgart ökologisch sozial (SÖS). Seit 2017 ist er Mitglied der Linkspartei und arbeitet auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Stuttgarter Wahlkreisbüro des Bundestagsabgeordneten Bernd Riexinger (Die Linke). Pantisano hat einen Hauptschulabschluss, über den zweiten Bildungsweg absolvierte er ein Architekturstudium und ein Studium der Stadtplanung. Für die Bundestagswahl 2021 kandidiert er für die Linke im Wahlkreis Waiblingen.
Ich nehme das persönlich. Meine Mutter hat zwei bis drei Jobs gleichzeitig gehabt. Sie hat am Nachmittag Klos geputzt in den Häusern meiner Klassenkameraden. Sie hat das gemacht, damit ich studieren kann. Ich bin ein Arbeiterkind, ich habe einen Hauptschulabschluss, ich habe mir meine zwei Diplomabschlüsse über den zweiten Bildungsweg erkämpft. Und das wird mir jetzt zum Vorwurf gemacht von einer Frau, die in ihrem Leben vermutlich nur zu ihrer eigenen Putzfrau Kontakt hatte? Mich ärgert das.
Viele Linke oder Linken-Mitglieder haben oft aus persönlichen Erfahrungen ein Engagement entwickelt. Aber wir haben auch eine Politik entwickelt, die über das Persönliche hinaus geht. Menschen, die sich für eine vielfältige, klima- und sozial gerechte Gesellschaft einsetzen, wirft sie vor, sich von der sogenannten Arbeiterklasse zu entfernen. Aber wann stand denn Sahra Wagenknecht zuletzt vor einem Werkstor oder hat eine Fabrik von innen gesehen? Ich und viele andere Studierende haben während des Studiums in den Semesterferien monatelang in Fabriken gearbeitet, um uns das Studium zu finanzieren.
Ist das wichtig, ob sie eine Fabrik von innen gesehen hat?
Sie greift einen großen Teil der Linken an und bezeichnet diese herablassend als „Lifestyle-Linke“. Ich frage mich wirklich, aus welcher Position heraus sie das macht. Die taz hat ja auch einige Genoss*innen aus Nordrhein-Westfalen zitiert: den Bundestagsabgeordneten Niema Movassat, Daniel Kerekeš vom Kreisverband Essen. Wir wohnen in Vierteln, in denen vor allem Migrant*innen leben, Arbeiter*innen. Wir sind in Familien groß geworden, dessen Eltern Arbeiter*innen waren und noch sind, und wir haben uns meist hoch gekämpft. Und jetzt wird uns zum Vorwurf gemacht, dass wir Akademiker*innen sind und uns entfernt hätten von der Arbeiterklasse? Diesen Vorwurf akzeptiere ich nicht.
Es scheint, dass es gerade en vogue ist, über Identitätspolitik zu streiten, aber es verstehen alle etwas anderes darunter. Eine ähnliche Debatte gab es zuletzt ja auch mit Wolfgang Thierse. Sehen Sie da Parallelen?
Mein Bruder Alfonso Pantisano hat innerhalb der SPD diese Thierse-Debatte mit losgetreten. Er hat in der taz auch einen Artikel zu dieser Auseinandersetzung geschrieben.
Ach, ich wusste nicht, dass das Ihr Bruder ist!
Ja, diesen Zusammenhang gibt es. (lacht) Aber zurück zum Thema: Ich glaube, dass es aktuell en vogue ist, über dieses Thema zu streiten. Mit Sarrazin in der SPD und mit Boris Palmer bei den Grünen gab es ähnliche Auseinandersetzungen auch schon in der Vergangenheit. Es prallen hier unterschiedliche Weltbilder zusammen. Kritiker wie Wagenknecht meinen, früher sei alles besser gewesen. Aber sie verkennen die vielfältige Gesellschaft und neue Realitäten, in denen wir heute leben. Menschen, deren Eltern eingewandert sind – und das sind mittlerweile viele – reden jetzt mit. Wir sind nicht mehr still, wir mischen uns ein. Das ist das, was sich geändert hat, und das stört manche wohl sehr.
Wagenknecht wird vorgeworfen, rechte Positionen zu vertreten. Würden Sie das auch sagen?
In Teilen ja. Sie selbst sagt zwar in ihrem Buch, sie ist linkskonservativ, aber manche Dinge, die sie sagt, sind nicht linkskonservativ, sondern rechtskonservativ. Stellen Sie sich vor, ein CDU-Politiker würde sich heute hinstellen und fordern, dass man mehr über Glaube, Nation und Heimat sprechen soll. Es gäbe sicher viel Widerspruch zu einer solchen Forderung. Das Problem ist, dass Sahra Wagenknecht unter anderem genau das fordert in ihrem neuen Buch. Zudem verteidigt Sie in diesem Buch rechte Politiker wie Bernd Lucke oder Jörg Meuthen.
Moment, zu dem Thema habe ich auch ein Zitat: „Es ist ja richtig, den Anfängen zu wehren. Aber wer den wirtschaftsliberalen Professor einer Verwaltungshochschule Jörg Meuthen verdächtigt, er wollte einen neuen Faschismus in Deutschland einführen, erreicht damit nur, dass Warnungen selbst da, wo sie berechtigt sind, nicht mehr ernst genommen werden. Wenn jedes AfD-Mitglied ein Nazi ist, was ist dann Björn Höcke?“, schreibt Wagenknecht.
Björn Höcke ist Mitglied der Partei, dessen Vorsitz Meuthen hat. Was Meuthen als Wirtschaftsprofessor auszeichnet, ist doch völlig irrelevant. Er ist Vorsitzender einer zutiefst rechtsextremen und faschistischen Partei. Sich als bekannte Linkenpolitikerin hinzustellen und die Personen zu kritisieren, die Kritik üben an Meuthen, das verstehe ich einfach nicht. Viele Mitglieder der Linken, aber auch anderer demokratischer Parteien, der Grünen, der SPD, stehen auf Demos und stellen sich der AfD entgegen. Das als Linke zu kritisieren, das geht nicht.
Umstritten sind auch Passagen zum Thema Migration. „Dass die Löhne allerdings in vielen Branchen um bis zu 20 Prozent sanken und selbst ein jahrelang anhaltendes Wirtschaftswachstum daran nichts ändern konnte, das war allein wegen der hohen Migration nach Deutschland möglich. Denn nur sie stellte sicher, dass die Unternehmen die Arbeitsplätze zu den niedrigen Löhnen unverändert besetzen konnten.“
Das ist ein Part, wo ich sagen würde, das könnte genauso von einem AfD-Politiker kommen. Im Grunde genommen sagt sie damit, die deutschen Arbeiter*innen verdienen so schlecht, weil wir Zuwanderung haben. Dabei verkennt sie völlig die Rolle der Migrant*innen in der deutschen Arbeiterschaft in Deutschland – auch historisch betrachtet. Viele Arbeitskämpfe und Verbesserungen für bessere Löhne und geringere Arbeitszeiten hätte es nicht gegeben ohne die Migrant*innen, die mit auf die Straße gegangen sind, um die Masse zu erzeugen. Ich kann Wagenknecht gerne mal einladen, mit mir in eine Werkshalle bei Daimler zu gehen. Dann soll sie mal gucken, wer da steht. Sie soll sich anschauen, wer hier für bessere Löhne kämpft. Was sie schreibt, hat nichts mit der Realität in Deutschland zu tun.
Sie arbeiten auch für Bernd Riexinger, der bekanntermaßen ein Gegenspieler von Sahra Wagenknecht ist. Geht es Ihnen um das Buch oder geht es auch um einen Lagerkampf innerhalb der Partei?
Nein, das hat nichts damit zu tun, dass ich für Riexinger arbeite. Übrigens hat sie ihm auch immer vorgeworfen, sich von der Arbeiterklasse zu entfernen. Dabei ist er viel auf Demos von Gewerkschaften und begleitet Arbeitskämpfe. Aber darum geht es hier nicht. Es geht mir um mein eigenes politisches Arbeiten. Ich bin in Konstanz zur Oberbürgermeisterwahl angetreten – und habe eines der besten Ergebnisse in Westdeutschland für einen Linken bei einer Wahl erreicht.
Im ersten Wahlgang haben Sie mit 38 Prozent die meisten Stimmen geholt, im zweiten Wahlgang haben Sie mit 45 Prozent verloren.
Ich habe dieses gute Ergebnis erreicht, indem ich ein breites Bündnis geschaffen habe. Ich wurde unterstützt von Grünen, von Linken, anderen ökosozialen Organisationen und von außerparlamentarischen Bewegungen wie Fridays for Future, Seebrücke und Black Lives Matter. Aber Wagenknecht kritisiert in ihrem Buch genau diese Bewegungen und behauptet, durch diese Zusammenarbeit marginalisiere sich die Linke. Mein Ergebnis bei der OB-Wahl in Konstanz beweist das Gegenteil. Wir brauchen mehr Kooperationen und Zusammenarbeit mit der Klimabewegung und mit antirassistischen Bündnissen und nicht weniger.
Ich sitze ja auch im Stuttgarter Gemeinderat im Sozialausschuss. Wir kämpfen auf der einen Seite darum, Kitagebühren zu senken, wir haben dafür gesorgt, dass es ein Sozialticket für Menschen gibt, die Hartz IV beziehen, wir versuchen Schüler*innen aus Arbeiterfamilien zu unterstützen. Aber wir sind auch diejenigen, die kritisieren, wenn „Querdenker“ durch Stuttgart laufen zusammen mit Neonazis und Rechtsextremist*innen. Das ist doch kein Widerspruch.
Sie wollen nicht, dass Sahra Wagenknecht am Samstag zur Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen gewählt wird. Weil sie dieses Buch geschrieben hat?
Ihr Buch ist der letzte Beweis dafür, dass es nicht nur um einzelne problematische Sätze bei ihr geht, die mal wieder falsch verstanden werden. Sie macht in ihrem Buch ein Gegenprogramm zur Linken auf. Wenn sie so viele Positionen kritisiert, wofür viele Linke heute stehen, die Vorsitzenden, der Vorstand, viele Kreisverbände, Mitglieder, dann kann sie nicht auf einem Spitzenplatz für die Bundestagswahl stehen. Wenn sie alles so meint, wie sie das in diesem Buch schreibt, dann muss sie sich mittlerweile überlegen, ob sie noch in der richtigen Partei ist.
Müsste die Linke das nicht unter Meinungspluralität aushalten?
Es geht hier nicht darum, eine andere Meinung auszuhalten. Sie überzieht in ihrem Buch viele Menschen, die eine andere Meinung haben, mit Häme, bezichtigt sie ja schon im Titel als „selbstgerecht“. Sie verteidigt rechte Politiker. Da kann man schon darüber nachdenken, ob sie eine geeignete Person ist als Vertreterin der Linken im Bundestag.
Sahra Wagenknecht ist zwar umstritten, aber auch populär.
Ja, aber sie bekommt eben auch viel Zuspruch aus dem rechten Lager. Sie könnte sich auch mal fragen, warum das so ist.
Aber jetzt zerfleischt sich die Linke wieder selbst.
Ja, leider. Aber wir müssen auch klarstellen, dass Wagenknecht ihr sehr eigenes Programm hat und nicht für die Linke als Ganze spricht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül