Linke-Politiker André Brie über die Partei: „Kein Gefühl mehr für normale Leute“

Der einstige PDS-Wahlkampfleiter und EU-Abgeordnete André Brie kennt die Linkspartei wie kaum ein anderer – und sieht sie in einer tiefen Krise.

ein Tisch und Bänke und ein Sonnenschirm mit Linkspartei-Logo

„Wir sind nicht mehr bei den Menschen“, sagt André Brie über seine Partei Foto: imago/Seeliger

taz: Herr Brie, die deutsche Sozialdemokratie befindet sich in einer existenziellen Krise. Was bedeutet das für die Linkspartei?

André Brie: Die gesamte politische Linke steckt in einer tiefen Krise. Weder von der SPD noch von meiner Partei noch von den Gewerkschaften kommen echte Alternativen. Es passiert nichts.

Nichts?

Meine Partei schreibt Anträge, hält Reden, verfasst Presseerklärungen, tritt in Talkshows auf. Das ist alles gut und schön. Aber wir sind nicht mehr bei den Menschen. Die gehen jetzt zur AfD. Die hat, anders als der Name verspricht, keine Alternativen. Aber sie bedient etwas. So viele Menschen sind unzufrieden. Und sie suchen ein Ventil. Früher waren das die PDS und die Linkspartei. Das ist vorbei.

Jahrgang 1950, saß bis 2016 für die Linkspartei im Schweriner Landtag.

Klar, wer in Thüringen, Brandenburg und Berlin in der Regierung sitzt, kann nicht gleichzeitig überall Protestpartei sein.

Richtig. Im Wahlkampf 2016 in Mecklenburg-Vorpommern habe ich ständig zu hören bekommen: Egal, ob CDU, SPD oder ihr, das macht keinen Unterschied. Diese Stimmung gibt es nicht erst seit 2015, seit den Flüchtlingen. Die AfD war schon 2014 in Brandenburg erfolgreich.

Kennen Sie AfD-Wähler persönlich?

Natürlich. Hier bei mir im Ort. Viele haben keine Arbeit, sind unzufrieden, manche trinken auch. Die haben keine Zuversicht. Und die linken Parteien können ihnen das ganz offensichtlich nicht geben – Zuversicht. Inzwischen wählen auch andere Menschen AfD. Ärzte, Rechtsanwälte, Unternehmer, also studierte Leute. Das sind nicht alles verbohrte Rechte.

Wie kann die Linkspartei diese Leute erreichen?

Zunächst muss sie aufhören, sich selbst in die Tasche zu lügen.

Inwiefern?

Auf dem Pasewalker Parteitag in Mecklenburg-Vorpommern im November 2015 hat die damalige Parteivorsitzende Heidrun Blum Journalisten gesagt: Kein einziger linker Wähler geht zur AfD. Das war schon damals falsch. Wenn man das noch nicht mal zur Kenntnis nimmt, kann man in Bezug auf die AfD nichts erreichen.

In Mecklenburg-Vorpommern hatte die Linkspartei beziehungsweise PDS 1998 noch um die 11.000 Mitglieder. Jetzt sind es nur noch rund 4.000. Stirbt die Linkspartei aus?

Auf den Gedanken kann man kommen. Die Demonstration zum Antikriegstag am 1. September organisieren oft Leute, die über 80 Jahre alt sind. Wir haben zwar auch junge Leute. Aber weil es so wenige sind, kommen viele gleich in die Ämter und in die Parlamente. Das ist ja ein Teil unseres Problems: zu viele, die Karriere machen, die nur ja sagen und wissen, wie man Mehrheiten auf Parteitagen organisiert. Aber die kein Gefühl mehr für normale Leute haben. Und keine Sprache.

Ein desolates Bild. Hilft bei so viel Parteienverdrossenheit eine linke Sammlungsbewegung?

Ich glaube anders als Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht nicht daran.

Warum nicht?

Weil es künstlich ist, von oben. Man bräuchte eine größeres, breites Bündnis, nicht verengt auf links. Dafür sind weder Sahra noch Oskar bereit. Die wollen das enger haben. Und selbst in der Hand behalten. Ein großes gesellschaftliches Bündnis, um soziale Spaltungen zu überwinden, geht nicht parteipolitisch. Es fehlt auch an Personen, die über das eigene Milieu hinaus wirken können.

Sie sehen keinerlei Charismatiker – auch nicht in ihrer eigenen Partei?

In meiner eigenen Partei würde mich noch Gregor Gysi elektrisieren, aber ansonsten ist da nichts mehr los.

Und Sahra Wagenknecht? Wenn sie auftritt, kommen Menschen, die nie die Linke wählen würden.

Natürlich. Bloß gewählt würden wir wegen Sahra Wagenknecht nicht. Sie kann wirklich was, sie hat Ausstrahlung. Schon damals. Mitte der 90er war Sahra mal hier, als ich noch mein altes Haus hatte. Da war es ziemlich kalt. Sie bekam einen Pullover von mir. Da haben mir viele Leute noch geraten, ihn nie wieder auswaschen. Behalten, so wie er ist.

Wow. Aber als Gesicht eines Aufbruchs – sei es in Form einer Sammlungsbewegung oder auch einer Parteineugründung sehen Sie sie nicht?

Die Idee einer Parteineugründung gab es ja schon mal. 2002, als wir aus dem Bundestag geflogen sind und nach dem Geraer Parteitag. Da waren Leute wie Gregor Gysi, Lothar Bisky, Heinz Vietze, mein Bruder, Dietmar Bartsch und ich verzweifelt. Wir saßen in der Wohnung von Gregor Gysi und haben diskutiert, eine neue Partei zu gründen, eine ganze Nacht. Aber am Ende waren wir uns sicher: Das wird niemals was. Das muss aus der Gesellschaft kommen. Aber nicht als Kopfgeburt.

Wie kann es die Linkspartei also schaffen, aus dem 10-­Prozent-Bereich herauszukommen?

Wenn man etwas erreichen will, dann muss man bereit sein, nicht einfach um linke Mehrheiten, sondern wirklich um gesellschaftliche Mehrheiten, gesellschaftliche Themen zu kämpfen.

Welche gesellschaftlichen Themen können das aus Ihrer Perspektive sein?

Ich denke, breit über Parteien hinaus müsste es gelingen, vor allem die Frage der sozialen Spaltung in dieser Gesellschaft und darüber hinaus in Europa und in der Welt zu thematisieren. Oxfam hat kürzlich berichtet, dass 42 Milliardäre so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Aber ich verzweifle manchmal an meiner Partei.

Aber die thematisiert solche Ungerechtigkeiten doch ständig.

Ich bin nicht gegen Politik in den Parlamenten und Rathäusern. Aber das reicht nicht. Es fehlen kreative Aktionen, die die soziale Spaltung zum Thema machen. Ganz konkret.

Zum Beispiel?

Ich kenne eine Arbeitslose. Das Arbeitsamt wollte die Frau zwingen, für einen lausig bezahlten Job und für nur drei Stunden Arbeit jeden Tag 70 Kilometer zu fahren. Sie hat einen schwerbehinderten Jungen. Ich habe den Fall skandalisiert. So etwas macht meine Partei viel zu wenig.

Warum?

Viele leben nur noch in ihrem Apparat. Es gibt viele, die sich in den Parlamenten für ­solche Menschen den Arsch aufreißen. Aber sie haben kaum persönlichen Kontakt mehr zu den Verlierern. Das war in den 90er Jahren noch anders. Da hatten wir über die Volkssolidarität, Gärten, Basisinitiativen Kontakte zu normalen Leuten und ihren Problemen. Vielleicht kann uns nur eins retten – wenn wir wieder kämpfen müssen, um über fünf Prozent zu kommen.

Die Partei braucht eine handfeste Krise? Warum?

Weil wir möglicherweise erst dann gezwungen wären, wieder Neues zu entwickeln, Mutiges, Modernes, Überraschendes, um wirklich die Breite der Gesellschaft zu erreichen.

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