Lindner und die Zukunft der FDP: Der Gegen-Merkel
Was treibt den Mann an, der Jamaika platzen ließ? Christian Lindner glaubt tatsächlich, seine FDP so weiter zu stärken. Eine Analyse.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner wird gerade zum Helden gestraft. Julia Klöckner von der CDU spricht ihm den Anstand ab, Jürgen Trittin von den Grünen geißelt ihn als hinterlistig. Reinhard Bütikofer, ebenfalls von den Grünen, sagt, Lindner führe die rechteste FDP seit 1968 an. Der Berliner Meinungsforscher Manfred Güllner droht dem FDP-Chef mit enttäuschten Mittelständlern, und schon beklagt der hohenlohische Schrauben-Milliardär Reinhold Würth eine Blamage.
Angela Merkel, die traditionell eigentlich eher mit Missachtung straft, hat Lindner das Wort „Zielgerade“ angeheftet. Auf der habe er die Verhandlungen um ein Jamaika-Bündnis abgebrochen, übersetzt: Der Typ hat schlappgemacht. Das Politbarometer hat schon eine Zahl: 55 Prozent der Deutschen gäben der FDP die Schuld am Scheitern der Gespräche; die Mehrheit der Deutschen ist sauer auf ihn, den Lindner.
Das Abstrafen des Lindner läuft, aber dabei wächst und wächst er. Die Zeit bringt seinen Kopf auf ihrer Seite eins ebenso mächtig wie den der Kanzlerin. Titel: „Er oder sie?“ Das Spiegel-Cover zeigt ein riesenhaftes Lindner-Porträt vor einer nicht halb so großen Angela Merkel, sie zerfurcht, er jung, wach, bedrohlich. Ach, und der Autor dieses Textes hat den Mann am Montag als Plastikpolitiker gedisst, der das politische Leben schon verpacke, bevor er es gelebt habe. Halten wir selbstverständlich dran fest.
Warum aber bringt Lindner so viele in Rage? Weil er nicht mitmachen möchte in einer sehr komplizierten Regierungskoalition aus vier Parteien? Ist das verwerflich? Man kann sich aufregen, man kann aber auch nach Lindners Motiven für den Ausstieg aus Jamaika fragen. Davon gibt es mindestens drei, spulen wir ein wenig zurück.
Regieren ist Mist (1)
Anfang September 2016. Die FDP hat in fünf Landtagswahlen des Jahres zugelegt, in Rheinland-Pfalz regiert sie sogar, nur in Mecklenburg-Vorpommern kam sie nicht ins Parlament. Sie hat eine Lücke gesehen und sie hat sich dort festgesetzt. Wer Merkels Flüchtlingspolitik ablehnt, sich aber vor der rassistischen Alternative für Deutschland ekelt, dem bietet sich Lindners Partei an: als „Alternative für Demokraten“, wie es der baden-württembergische Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke formuliert hat. Es sieht schwer danach aus, dass die FDP in einem Jahr nicht nur in den Bundestag zurückkehren kann, sondern auch als Koalitionspartner gefragt werden wird. „Nicht um jeden Preis“, sagt Lindner schon damals. Anderswo in der FDP hört man hinter vorgehaltener Hand sogar ein drastisches Nein: Lindner wolle auf keinen Fall regieren. Ja, warum das denn?
Was eine Partei erlebt, die wie die Liberalen 2013 nach Jahrzehnten aus dem Parlament kippt, ist von außen nur schwer vorstellbar. Abgebrochene Karrieren, leere Kassen, abrupte Berufswechsel. Die Partei wird mit Spott überschüttet: Leute, ihr habt doch den Wettbewerb gepredigt, viel Erfolg auf dem freien Markt. Die FDP ist ein Traumapatient.
Hingegen ist die Oppositionszeit unter Guido Westerwelle im Gedächtnis der Partei ganz anders abgespeichert: Die fetten Jahre, gipfelnd in 14,6 Prozent bei der Bundestagswahl 2009. Die Schlussfolgerung: Opponierst du, wirst du groß. Regierst du, wirst du klein – vor allem, wenn die Kanzlerin Angela Merkel heißt. Der FDP war und ist zudem klar, wie schwer es ist, sich personell in der Breite wieder professionell aufzustellen. Ihre Prämisse lautet: Opposition ist nicht Mist, Opposition ist Wachstum.
Verschreckter Traumapatient (2)
Als die FDP 2017 mit 10,7 Prozent das Comeback in den Bundestag geschafft hat, hätte sie die Erinnerungen an 2013 erst einmal überwinden müssen. Ein erfahrener CDU-Politiker, der nicht namentlich auftauchen will, weil Stilkritik an Merkels Gesprächsleitung nicht in die derzeitige Strategie passt, sagte diese Woche: „Mit Grünen und FDP verhandeln Sie völlig unterschiedlich. Die Grünen brauchen große Runden mit Telefonanrufen und Rückkopplungen und Besprechungen zwischendurch. Die FDP braucht kleine Spitzenrunden mit frühen, motivierenden, klaren Erfolgen.“
Jamaika zog Merkel aber grünengerecht auf. Die Wochen in Balkonien begannen mit vielen Verhandlern, vielen Themen und wenigen Deals. Die Grünen vertrauten der CDU und sich gegenseitig immer mehr, die FDP hatte aber nichts davon. Vielleicht wäre es anders gelaufen, wenn Lindner, Wolfgang Kubicki und die anderen schon früh etwas in der Tasche gehabt hätten. Traumapatienten sollte man nicht durch eine Geisterbahn jagen.
Die Wachstumsidee (3)
Die FDP hat die Perspektive, sich gegen das angebliche CDU-CSU-SPD-Grünen-Ungetüm zu profilieren – und zu wachsen. Newcomer-Erneuerer Lindner gegen den Rest der merkeligen Wirrwarrwelt. Der Gegen-Merkel. Potenzial: von den aktuellen 10,7 Prozent Richtung 15 Prozent oder mehr.
Wenn die anderen schreien, weil die FDP die Verhandlungen platzen lässt, stört sie das ganz und gar nicht. Denn das verschafft ihr Profil. Gegen Merkel und gegen ihre neuen und alten Partner von CDU, CSU, SPD und Grünen. Wenn zum Beispiel 55 oder auch 65 Prozent Lindners nächtlichen Lieber-nicht-regieren-als-falsch-regieren-Auftritt ablehnen, bleibt ein großes Potenzial. Egal ob Minderheitsregierung, Große Koalition oder Neuwahl, die FDP rechnet mit Stimmengewinnen.
Was ist das Ziel? Wachstum warum? Bestimmt will Lindner ihn schon gern umsetzen, seinen halbierten Liberalismus, der die Freiheit der Starken schützt, auch wenn das die Unfreiheit der Schwachen nach sich zieht. Gewinner der Globalisierung können auf die FDP zählen, Verlierer der Globalisierung können nur darauf zählen, dass die FDP sie sich selbst überlässt – mit ein paar Almosen. „Ich bin also nicht links“, hat Lindner einmal gesagt, „aber dennoch sozial engagiert.“ Wer Politik für die Starken macht, will selbst stark sein. Er will auch den Erfolg des Erfolges wegen. Das Unternehmen soll abgehen, durchstarten, es soll durch die Decke gehen.
Doch die Strategie für das Wachstum führt zu einem Dilemma. Es muss einerseits möglich sein, den Merkelismus zu kritisieren, in den die CDU-Chefin in den vergangenen Jahren CDU, CSU, SPD und Grüne eingelullt hat. Sie hat Themen umschifft, Streit weggemerkelt und über die Länderregierungen im Bundesrat auch noch die Grünen an sich gebunden. Merkels Regierung profiliert vor allem eine: Merkel. Und der Merkelismus trug zum Aufstieg jener bei, die die übermächtig erscheinende Kanzlerin mit anderen Feindbildern mischten: Die Einwanderer sind drin und der Feminismus, die Medien und die EU, die ganze Globalisierung bis hin zum linksverträumten Papst. All die Entwicklungen, die dafür stehen, dass die bedrohlich erscheinende Welt sich verändert da draußen vor dem Fenster. Beziehungsweise dem Fernseher.
Die AfD artikuliert die Unzufriedenheit, sie verstärkt die Ängste. So ist eine Welle entstanden, die sie in den Bundestag getragen hat. Wie sehr reitet Lindner auf dieser Welle? Merkel herauszufordern ist legitim, ihre Machtmechanik zu kritisieren ist nötig. Der FDP-Vorsitzende trägt keine Schuld daran, dass die anderen Parteien mit Spitzenpersonal operieren, das so professionell ist wie Hillary Clinton – und ungefähr so erfrischend.
Er kritisiert Merkels Flüchtlingspolitik vom Herbst 2015. In der Frage, ob Flüchtlinge ihre Familien nach Deutschland holen dürfen, steht er irgendwo neben der CSU. Vom Ton her hält er sich einigermaßen zurück. Die Chiffre „Kontrollverlust“ reicht. Die Mischung macht’s schon, vor allem, wenn die Merkelkritik enthalten ist. Sie ist müde, die da oben sind müde, so geht diese Inszenierung. Und der junge FDP-Chef sitzt im Auto und dreht mit dem Smartphone gerade wieder einen Clip fürs Social Web. Er kritisiert die Flüchtlingspolitik, er basht die EU – und vor allem inszeniert er sich als Kämpfer gegen das Alte und Zähe, das sich so langsam dahinschleppt wie die Jamaika-Gespräche.
Der Grat zur rechten Systemkritik ist da schmal. Lindner tanzt darauf.
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