Krankenhaus in Gaza: Ein Raketenschlag und viele Fragen
Nach einer Explosion mit vielen Toten bei einem Krankenhaus ist weiterhin vieles unklar. Das ist bisher bekannt.
Nach einem mutmaßlichen Raketeneinschlag auf einem Krankenhaus-Gelände im Gazastreifen beschuldigen sich Israel und die Hamas gegenseitig. Nachdem das Gesundheitsministerium in Gaza am Dienstagabend einen israelischen Luftangriff mit hunderten Toten gemeldet hatte, veröffentlichte Israel am Mittwoch Video- und Audioaufnahmen, denen zufolge eine fehlgeleitete Rakete der mit der Hamas verbündeten palästinensischen Gruppe Islamischer Dschihad die Explosion auslöste.
Als gesichert gilt, dass es am Dienstagabend zu einer Explosion auf einem Parkplatz nahe dem Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt kam. Das Gesundheitsministerium in Gaza meldete mindestens 500 Tote, der ebenfalls der Hamas unterstehende Zivilschutz sprach von 300. Medienberichten zufolge wurden zahlreiche Verletzte und Leichen ins nahe gelegene Al-Shifa-Krankenhaus gebracht.
Noch am Dienstagabend veröffentlichte die israelische Armee ein Video, auf dem zum Zeitpunkt der Explosion ein missglückter Raketenstart zu sehen sein soll. Am Mittwoch folgten Luftaufnahmen des Areals. Darauf zu sehen sind die Gebäude des Krankenhauses sowie ein Parkplatz mit mehreren ausgebrannten Autos. Erkennbar ist der Ort vor und nach dem Angriff. Die Armee wies darauf hin, dass kein Einschlagkrater sichtbar sei, wie er sonst bei israelischen Luftangriffen zurückbleibe. Auch wirken die umstehenden Häuser weitgehend intakt.
In einer ebenfalls von der Armee veröffentlichten Audiodatei eines mutmaßlich abgehörten Telefonats besprechen zwei als Hamas-Agenten gekennzeichnete Stimmen den Vorfall. Der Einschlag sei auf eine Rakete des Islamischen Dschihad zurückzuführen, sagt einer. Darauf würden Schrappnelstücke hinweisen. Die Rakete sei von einem Friedhof hinter dem Krankenhaus abgeschossen worden. Die Authentizität der Aufnahme ließ sich zunächst nicht verifizieren. Einschläge fehlgeleiteter Raketen hat es laut israelischer Armee immer wieder gegeben: Rund 450 palästinensische Raketen seien allein seit Beginn des aktuellen Krieges am 7. Oktober innerhalb des Gazastreifens eingeschlagen.
Das Gebäude selbst scheint nahezu unbeschädigt
Der Islamische Dschihad wies die Darstellung zurück. Arabische Medien kritisierten zudem widersprüchliche Angaben von israelischer Seite. So seien etwa zu anderen Zeitpunkten aufgenommene Videos von missglückten Raketenstarts geteilt worden. Ein offizielles X-Konto der israelischen Regierung hatte ein solches Video am Dienstagabend nach kurzer Zeit tatsächlich wieder gelöscht. Das Krankenhaus wurde nach eigenen Angaben zudem in den Tagen zuvor bereits von Israel angegriffen.
Die „Episkopale Kirche in Jerusalem und Nahost“, zu der das Krankenhaus gehört, veröffentlichte noch am Dienstag ein Statement, in dem sie eine eindeutige Schuldzuweisung umgeht. Sie sprach von „einem brutalen Angriff“ auf das Krankenhaus „während der dortigen israelischen Luftangriffe“. Die Zerstörung „berührt den Kern des menschlichen Anstands“, heißt es weiter. Das Al-Ahli-Krankenhaus wurde 1882 gegründet. Im Gazastreifen lebt eine winzige christliche Minderheit, insgesamt etwa 1.000 Gläubige, unter mehr als zwei Millionen Muslimen. Die meisten der palästinensischen Christ*innen sind griechisch-orthodox.
Während sich Israel bemühte, die Verantwortung von sich zu weisen, tauchte weiteres Foto- und Videomaterial auf, das von Experten analysiert wurde. Am Mittwochmorgen folgten auch Aufnahmen des Orts im Tageslicht, die in den sozialen Netzwerken geteilt wurden. Darauf zu sehen sind der offenbar verkohlte Boden des Parkplatzes sowie mehrere Autos, von denen viele ausgebrannt zu sein scheinen. Die Gebäude des Krankenhauses scheinen wie bereits in den von der israelischen Armee veröffentlichten Aufnahmen weitgehend unbeschädigt zu sein.
Elliot Higgins, Betreiber des Investigativ-Netzwerks Bellingcat, erklärte, dass fast alle Autos wahrscheinlich durch Feuer beschädigt wurden. Nur eines sei auf den Kopf geschleudert worden. Die Nachrichtenagentur Reuters veröffentlichte ein Bild, das – im Widerspruch zu den israelischen Angaben – einen Krater auf dem Parkplatz zeigt. Gemessen an der von der Hamas angegebenen sehr hohen Opferzahl, ist dieser allerdings recht klein. Er misst in etwa einen Quadratmeter.
Möglicherweise Flüchtlingslager auf Parkplatz getroffen
Der Analyst Tal Hagin, der in der Vergangenheit selbst in der israelischen Armee gedient hat, sich mittlerweile aber auf die Analyse von Krisen anhand von Online-Material spezialisiert, veröffentlichte eine ausführliche Analyse auf X. Diese stützt tendenziell die Darstellung der israelischen Armee.
Hagin analysiert einen Livestream von Al Jazeera zu einem Zeitpunkt, kurz bevor die Hamas die Verantwortung für den Start von Raketen für sich reklamierte. Darauf ist eine Rakete zu sehen, die offenbar zum Teil in der Luft explodiert. Anhand von „Geolocating“ – in diesem Fall mithilfe von sichtbaren Solarpanelen und einem Baum – schlussfolgert er, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit diese Rakete war, die auf dem Krankenhausgelände einschlug. Zu der Zeit sei kein israelischer Beschuss registriert worden.
Sein vorläufiges Fazit: „Eine Fehlzündung“ der Hamas oder des Islamischen Dschihads sei in einem Hof des Krankenhauses eingeschlagen, „der mit palästinensischen Flüchtlingen gefüllt war, was zu sekundären Explosionen von Fahrzeugen und einer großen Streuung von Splittern führte und schwere Verletzungen verursachte.“
Unbestritten ist: Seit vergangener Woche hatten sich tausende Menschen im Gazastreifen aus Angst vor israelischen Luftangriffen entweder in Schulen oder in Krankenhäuser begeben – in der Hoffnung, dass diese nicht Ziel von Angriffen werden. Dies, kombiniert mit Aufnahmen des Parkplatzes vom Mittwochmorgen, die herumliegende Pappteller und Essensreste zeigen, könnte eine Erklärung für eine hohe Opferzahl sein.
Ob die Opferzahl stimmt, ist nicht bewiesen
Dass die Explosion aber tatsächlich mindestens 471 Menschen tötete, wie die Hamas am Mittwoch spezifizierte, ist nicht bewiesen. Zweifel an der Darstellung weckt allein die Tatsache, dass die Hamas bereits kurz nach der Explosion die Zahl 500 nannte. Dass in solch kurzer Zeit so viele Leichen geborgen und gezählt werden können, ist kaum vorstellbar.
Unterdessen hat der Vorfall unabhängig davon, wer für die Explosion die Verantwortung trägt, längst Wirkmacht entfaltet. Für viele scheint kein Zweifel zu bestehen, wer hinter der Explosion steckt. Al Jazeera erwähnte am Mittwoch zwar, dass Israel den Islamischen Dschihad beschuldigt, berichtete aber ungeachtet dessen: „Die israelische Besatzungsarmee hat ein neues Massaker verübt, indem es das Krankenhaus bombardierte, was 500 Märtyrer und tausende Verletzte zur Folge hatte.“
Die Zeitung al-Sharq al-Awsat schrieb von „dem israelischen Angriff auf das Krankenhaus“ und titelte: „Das Krankenhaus-Massaker schockiert die Welt“. Auch die saudische Regierung, die in Bezug auf Israel eher gemäßigt ist, verurteilte „das abscheuliche Verbrechen der israelischen Besatzungstruppen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“