Kevin Kühnerts Werdegang: Ein echter Sozialdemokrat
Er soll als Generalsekretär die SPD-Botschaft ins Land tragen. Wie der einstige Scholz-Verhinderer nun den Kanzler promotet – und zu welchem Preis.
D er Ausflugsdampfer fährt auf der Spree gerade an der Fischerinsel vorbei, da bricht es aus Ruth Boeker heraus und über Kevin Kühnert herein: „Also eine Sache würde mich doch noch mal interessieren, nämlich das Auftreten der SPD. Die fokussiert sich jetzt im Europawahlkampf ja toootal auf Herrn Scholz.“ Pause. „Und der ist ja nun wirklich nicht der Bringer.“
Boeker, adrette Bluse, graublonde Haare, redet sich in Fahrt, man merkt, die SPD liegt ihr am Herzen. Und die müsste doch gerade jetzt gegen diese unsägliche FDP die Konflikte deutlich machen und zeigen, wo die Unterschiede liegen. Aber der Scholz: „Wie eingeschlafene Füße!“
Kevin Kühnert hört zu, das Gesicht in die Hand gestützt und lächelt müde. Gerade ist es noch um ihn gegangen. Die Menschen aus seinem Berliner Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg, zu denen auch Ruth Boeker gehört und die auf seine Einladung hin einen Tag lang das politische Berlin zu Fuß und per Schiff erkunden, haben ihn geradezu mit Komplimenten überhäuft. „Bestechend, wie Sie das machen“; „Sehe Sie so gern in Talkshows.“ Aber der Scholz, nun ja.
Den Kanzler zum Glitzern bringen
„Sie müssen ihn ja nicht verteidigen“, sagt Ruth Boeker beschwichtigend. „Muss ich nicht“, murmelt Kühnert. „Kann ich aber.“ Denn das gehört ja zu seiner Aufgabenbeschreibung als Generalsekretär der SPD – den politischen Gegner auszubremsen und die eigene Partei und den SPD-Kanzler zum Glitzern zu bringen. Aber Kühnert ist an diesem Mittwoch Ende April vor allem unterwegs, um zuzuhören. Und Ruth Boeker ist schließlich nicht der politische Gegner, sie ist das, was sie in der Wahlforschung Fokusgruppenmitglied nennen. Eine Frau, die ausspricht, was die Wählerinnen denken. Und das, was sie sagt, so fasst es Kühnert nach dem Bootstrip zusammen, sei „ultra-repräsentativ.“ „Die Leute wollen weniger Streit in der Ampel und gleichzeitig mehr SPD-Profil. Beides gleichzeitig wird schwerlich möglich sein.“
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Es ist wie die Quadratur des Kreises. Für den Zusammenhalt in der Ampel ist der Kanzler zuständig, was bedeutet, beständig sozialdemokratische Positionen zu verwässern und Zugeständnisse vor allem an die schwer geltungssüchtige FDP zu machen. Für das Profil der SPD und damit für hundertprozentige, unverdünnte Sozialdemokratie ist er, Kevin Kühnert, zuständig.
2021 wählten ihn die Delegierten auf dem SPD-Parteitag zum ersten Mal zum Generalsekretär, im Dezember 2023 bestätigten sie ihn mit über 90 Prozent im Amt. Er ist Chef von 200 Mitarbeitern des Willy-Brandt-Hauses, der Berliner Parteizentrale, wo die SPD kampagnenfähig gemacht wird: Geschlossenheit nach innen, Attacke nach außen. Und nun muss Kühnert liefern.
Die Europawahl am 9. Juni, bei der die SPD den Kanzler breitflächig neben der eigentlich zur Wahl stehenden Spitzenkandidatin Katarina Barley plakatiert, ist die erste, die Kühnert als Generalsekretär von Anfang bis Ende orchestriert. Sie ist sein Gesellenstück. Die Bundestagswahl 2025 soll sein Meisterstück werden, die Wiederholung des „Wunders von Berlin“, als die SPD wie aus dem Nichts nach 16 Jahren Merkel wieder den Kanzler stellte. Olaf Scholz.
Er ist nicht „komplett relaxt“
Aber wie glaubhaft ist das? Kühnert, der bei der letzten Europawahl noch Juso-Vorsitzender war, der „Parteirebell“, der Scholz als Parteichef verhinderte und eine No-Groko-Kampagne durchzog, ist heute der oberste Scholz-Vermarkter. Wie soll ein bekennender SPD-Linker, der mit knapp 35 Jahren noch gerade so im Juso-Alter ist, einen 65-jährigen Parteirechten bewerben, ohne sich selbst zu verleugnen? Einen Kanzler dazu, der ja offenbar selbst auf SPD-affine Wählerinnen so elektrisierend wirkt wie Baldrian. Und mit einer SPD im Rücken, die in Umfragen bei 16 Prozent liegt.
Kühnert glaubt: Ja, das geht. Eine Woche später, Anfang Mai in seinem Büro, im fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses. Die Kampagne läuft, die Plakate hängen. Die Bestellzahlen seien gut, die Veranstaltungen ordentlich besucht, sagt Kühnert. Aber abgerechnet wird am Wahltag. Nervös sei er nicht, meint er. Na ja, vielleicht ein bisschen angespannt. „Ich würde lügen, wenn ich sagte, ich bin komplett relaxt.“
Der Vertrauensvorschuss ist groß, die Erwartungen an ihn sind hoch. „Wir sind zum Plus verdammt, ein Minus wäre eine Katastrophe“, meint Axel Schäfer, der Anfang der 80er den Europawahlkampf für Willy Brandt leitete. Schäfer findet, dass die SPD europapolitisch im Tal der Tränen ist. Kühnert mache zwar einen guten Job, die Partei sei geschlossen wie nie. Aber man habe noch nicht die richtige Zuspitzung gefunden, „damit die Leute in besonderer Weise motiviert sind, SPD zu wählen“.
Vom Prakti an die Parteispitze
Bei der Europawahl 2019 erreichte die SPD 15,8 Prozent, das schlechteste Ergebnis in ihrer Geschichte. Was in der Berliner Parteizentrale eine Folge von Erschütterungen auslöste. Parteichefin Andrea Nahles schmiss hin, ihre Nachfolger mussten sich in einem öffentlichen Casting der Basis als Superduo beweisen, in dessen Finale der damalige Finanzminister Scholz brüskiert und die bis dato kaum bekannte Saskia Esken zusammen mit Norbert Walter-Borjans Parteichefin wurde. Gepusht von Kühnert, der sich damit als einer der einflussreichsten parteiinternen Strategen bewiesen hatte.
In der zehnten Klasse nahm er als Schülerpraktikant erstmals Kontakt zur SPD auf. Der Prakti sollte zunächst die übriggebliebenen Wahlkampfmaterialien der Europawahl 2004 in den Keller des Kreisbüros räumen. 2017 wurde er dann mit der eigenen Kampagne berühmt. Für die grokogeschädigten Sozialdemokraten war der rhetorisch brillante, klassenkämpferisch auftretende Juso-Vorsitzende eine Art Heilsbringer – die SPD, sie lebte. Und die Jusos waren wieder ein Machtfaktor in der Partei.
„Macht ist etwas Gutes, wenn man sie richtig einsetzt“, meint Lars Klingbeil, Co-Vorsitzender der SPD. Und Kühnert, klar, der habe immer Verantwortung übernehmen wollen. Das habe er als Juso-Vorsitzender von Anfang an gezeigt. Klingbeil war Kühnerts Vorgänger als Generalsekretär. Als Klingbeil das Amt 2017 antrat waren sie Gegenspieler – Klingbeil wollte die SPD in die Groko führen, Kühnert das verhindern. Doch schnell bildeten die beiden – der eine aus dem linken, der andere aus dem rechten Parteiflügel – eine zuverlässig funktionierende Achse innerhalb der SPD.
Kevin ist gradlinig
Kühnert hätte Klingbeil am liebsten schon 2019 als Parteichef gesehen. 2021 klappte es. Da schlug Klingbeil Kevin Kühnert als seinen Nachfolger vor. „Weil ich mich auf ihn verlassen kann“, sagt Klingbeil und schaut aus dem Fenster seines Büros. Im politischen Berlin gäbe es Leute, die hinten rum agierten. „Das macht er nicht.“
Ob das Erfolgsrezept von 2021 – von hinten ranpirschen und dann, zack!, Erster werden – bei der Europawahl noch hinhaut? Nur ein Fünftel der Wählerinnen findet derzeit, dass Scholz seine Arbeit als Kanzler gut macht, mit der Arbeit der von ihm geführten Ampel ist nicht einmal die Mehrheit der SPD-Wählerinnen zufrieden.
Dass die SPD bis zum 9. Juni auf 30 Prozent klettert, daran glaubt selbst Kevin Kühnert nicht.
Es dauerte, bis er mit Scholz warm wurde. Das erste ausführliche Gespräch zu zweit im März 2018, Scholz war gerade Finanzminister geworden, muss eine ziemliche Tortur gewesen sein. Kühnert erzählt, er sei ins Finanzministerium eingeladen worden, wo ihm Scholz eine Stunde lang seine Sicht auf die Welt erklärt habe. „So doziert zu werden, das war eher unangenehm und hat lange mein Bild geprägt.“
Als sich Scholz 2019 eher aus Pflicht denn aus Lust um das Amt als Parteichef bewarb, deklarierte ihn Kühnert zum „Pragmatiker ohne Charme“. Kühnerts Bestreben war es fortan, zu verhindern, dass dieser charmefreie Pragmatiker Parteichef wird. Was klappte. Kühnert findet es auch heute noch richtig, dass Scholz nicht Parteichef wurde. Die Partei habe ein feines Gespür für die jeweiligen Rollen bewiesen, als sie Scholz nicht zum Vorsitzenden machte, aber sehr wohl zum Kanzlerkandidaten. Diese Entscheidung fällte die neue Parteispitze dann aber ohne den Juso-Chef. Was diesen wurmte.
Mittwochs gibt's Frühstück im Kanzleramt
Die Wende kam im Wahlkampf 2021. Kühnert und Scholz sollten am Abend zusammen eine gemeinsame Wahlkampfveranstaltung in der Berliner Ufa-Fabrik bestreiten. Es war der Parteizentrale wichtig, dass die Antagonisten gemeinsam auftreten. Später Nachmittag, Kühnert klingelte gerade noch an Haustüren und verteilte Wahlprospekte, als sein Handy in der Hosentasche vibrierte: „Anruf Olaf Scholz“. Kühnert erinnert sich ziemlich genau an diesen Tag. Es sei das erste Mal gewesen, dass ihn Scholz anrief, um sich direkt mit ihm abzusprechen – nicht sein Sprecher, nicht sein Büro. „Und es war das erste Mal, dass ich dachte: Okay, wir machen jetzt wirklich seriös Politik zusammen. Es geht um was.“
Heute sehen sie sich häufig. Scholz komme regelmäßig zu Gremienssitzungen, Kühnert ist mittwochs beim Kabinettsfrühstück um 7.45 Uhr im Kanzleramt. Sind sie mittlerweile sogar befreundet? Kühnert zögert. „Ach nee, befreundet, das wäre ein zu großer Begriff, und das ist auch gar nicht nötig. Aber ich bin mir sehr sicher, dass wir uns wechselseitig mögen.“
Die Szene mit dem Anruf von Scholz ist gut dokumentiert. Ein Filmteam begleitete Kühnert drei Jahre lang von 2018 bis 2021. Herausgekommen ist eine sechsteilige Dokumentation, abrufbar in der ARD-Mediathek. Kühnert hat nur drei Teile geguckt, er ertrage es nicht, sich so lange selbst zuzuschauen.
Gefühlt jede zweite Szene der Doku spielt unterwegs und im Auto. Kühnert reist viel durchs Land, etwa ein Drittel des Jahres, sagt er. Häufig kommt er erst nachts nach Hause, schläft ein paar Stunden und geht im Morgengrauen wieder aus dem Haus. „Diesen Wahnsinn hält man nur durch, wenn man kinderlos ist“, sagt er. Und wenn man diszipliniert ist: Er raucht nicht mehr, trinkt keinen Alkohol und hat ein paar Pfunde abgenommen.
Kühnert ist wie ein Handlungsreisender im Auftrag der SPD: Immer unterwegs, stets einen Beutel mit Prospekten dabei, und überall versucht er die sozialdemokratische Botschaft zu verkaufen: Gerechtigkeit, Zusammenhalt, Arbeit, Wohlstand.
Anfang März ist Kühnert in Brandenburg unterwegs. In Brandenburg an der Havel ist er vormittags zum Wirtschaftsdialog mit Unternehmern verabredet. Etwa zwei Dutzend Männer sind gekommen und stehen an Tischen, einige in Zimmermannskluft. Eine Handvoll Frauen, einige in Kostüm. Die Herren vom Bau legen zuerst los: „Die Uffträge gehen deutlich zurück, die Leute bauen nicht. Keen Wunder, keen einfacher Arbeiter kann sich ein Haus für achthunderttausend leisten.“ Ein anderer beklagt die bürokratische Förderung: „Das sind hochkomplexe Anträge, da müssten wir extra jemanden für einstellen.“ Die Geschäftsführerin eines Pflegebetriebs weist daraufhin, dass sich viele Ältere die Mieten und die Pflege im betreuten Wohnen nicht mehr leisten könnten.
Kühnert sitzt als Bundestagsabgeordneter auch im Bauausschuss. Er weiß, dass die Ampel kaum geliefert hat. 400.000 Wohnungen pro Jahr hatte die SPD versprochen, viel weniger wurden gebaut.
Wie hätte der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert jetzt wohl reagiert? Hätte er mit der Faust auf den Tisch gehauen und verlangt, Bauland zu vergesellschaften? Hätte er die Enteignung von Wohnungskonzernen gefordert?
Von Sozialismus spricht er nicht mehr
Im Juso-Landesverband Berlin hätten sie damals sehr ernsthafte Debatten über den Demokratischen Sozialismus geführt, erinnert sich Annika Klose. Als die Berliner Bundestagsabgeordnete vor zehn Jahren zu den Berliner Jusos stieß, leitete Kühnert den Landesverband. „Und Kevin war es immer wichtig, Eigentumsverhältnisse zu thematisieren.“
Doch zu solchen Themen hat man schon längere Zeit nichts mehr von Kühnert gehört.
Ziemlich genau fünf Jahre ist es her, als der damalige Juso-Chef mit der Zeit über Sozialismus und die Überwindung des Kapitalismus sprach. Kühnert regte damals an, BMW auf demokratischem Wege zu kollektivieren. Das Interview sorgte mitten im EU-Wahlkampf für riesige Empörung. „Kühnert will BMW enteignen“, titelte die Bild. Der Sound war gesetzt. Die SPD-Spitze um Andrea Nahles reagierte verschnupft. Einige Tage nach der Veröffentlichung traf sich der Parteivorstand zur Vorbesprechung des Wahlkampfauftakts im Hinterzimmer einer Gaststätte in Saarbrücken. „Die Atmosphäre war ziemlich frostig. Ich wurde mit Nichtachtung gestraft“, erinnert sich Kühnert. Einzig Lars Klingbeil sei auf ihn zugegangen. Ob man das Lokal gemeinsam betreten wolle, fragte er den Geächteten. Der nahm das Angebot gern an. „Ich bin Lars heute noch dankbar dafür.“
Würde er ein solches Interview heute noch geben? „Dieses Interview war und ist mir wichtig. Ich werde mich auch nicht nachträglich distanzieren“, erklärt Kühnert. Aber? „Politiker sprechen ja nicht als Privatpersonen, sondern im Rahmen eines Amts, das uns anvertraut wurde. Und da haben der Juso-Chef und der SPD-Generalsekretär andere Spielräume – auch wenn der Mensch dahinter derselbe ist.“
Ampelkrampf statt Klassenkampf
Anders gesagt: Manchmal muss der Mensch dann eben hinter das Amt zurücktreten. Kühnert hat seinen Preis gezahlt. Die SPD war schon immer sehr um ihr seriöses Image bemüht, da darf nicht mal eben jemand kommen und die Revolution ausrufen. Und es passt auch gar nicht zur Tradition als Reformpartei, die lieber den Konsens sucht als Klassenkampf zu führen. Schon Kurt Tucholsky verspottete die SPD als Radieschen: „außen rot und innen weiß“. So gesehen ist Kühnert vom linken Juso zum echten Sozialdemokraten geworden. Ein Weg, den vor ihm schon andere gegangen sind, unter anderem Olaf Scholz. Ungewöhnlich bei Kevin Kühnert ist nur, wie schnell und geschmeidig es passierte. Und, dass man kaum jemanden findet, der ihn dafür kritisiert.
Im Kreise der Brandenburger Unternehmer schreibt Kühnert mit, nickt ab und zu. Er sehe ja die hohen Zinsen, aber man könne nicht alles über Förderung abfangen. Er verspricht der Frau aus der Pflege demnächst zum Treffen des Netzwerks Pflege zu kommen. Ein Handwerksmeister schlägt vor: „Wir sollten mal über eine Aufhebung der Schuldenbremse reden.“ Kühnert findet, das sei eine gute Idee. „Aber Christian Lindner ist ja nicht mein Leibeigener, es ist effektiver, wenn Sie ihm das sagen.“ Seine Hoffnung, dass Lindner sich in den nächsten anderthalb Jahren überzeugen lässt, sei eher gering. Kein Klassenkampf, stattdessen Ampelkrampf.
Auf der Fahrt zum nächsten Termin bekommt die Büroleiterin einen Anruf von der Polizei. Sie dreht sich zu Kühnert um. „In Premnitz stehen welche mit Reichskriegs- und Russlandfahnen vor der AWO. Gehen wir drumherum oder durch?“ – „Wir gehen da durch“, sagt Kevin Kühnert.
Der Wagen parkt ein paar Meter hinter dem gelben Flachbau, auf dem AWO steht. Kühnert klemmt sich seinen Beutel unter den Arm und stiefelt auf den Eingang zu. „Da kommta“, schallt es ihm entgegen, und ein ohrenbetäubendes Trommeln und Trillern hebt an. Kühnert gelangt ohne Probleme in den Saal, wo schon etwa 50 Leute sitzen. Eine der Trommlerinnen drängt sich hinter ihm hinein. „Die Trommel müssen Se aber abgeben“, weist ein Ordner sie streng an. Die Frau gibt die Trommel ab und setzt sich.
„Man muss nicht jeden Kompromiss gut finden“, sagt Kühnert drinnen. „Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht irgendwann an einen Punkt kommen, wo man Nichteinverständnis nur noch mit Trillerpfeife und Galgen deutlich macht. Wir müssen im Gespräch bleiben.“ Es sind Sätze, die er oft sagt.
Kühnert hat ein gutes Gespür für Menschen und Situationen. Im Gespräch blickt er dem Gegenüber ins Gesicht und konzentriert sich, als gäbe es jetzt und hier nichts Wichtigeres als zuzuhören. Er passt sich sprachlich an, Jüngere duzt er. Und bemüht sich, den Menschen nicht zu sehr nach dem Mund zu reden.
Ein älterer Mann lobt die Entscheidung des Kanzlers, keine Taurus-Raketen zu liefern. Kein Einzelfall. Dafür, dass der Kanzler jede neue Waffengattung für die Ukraine erst nach länglicher Bedenkzeit genehmigt, wird er zwar von Journalisten und Politikerinnen gegeißelt, bei der Bevölkerung kommt es gut an. Aus „Zaudern“ wird „Bedacht“.
Kühnert, der als Jugendlicher den Wehrdienst verweigerte, als Bundestagsabgeordneter im Sommer 2022 aber wie fast die gesamte Fraktion für das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen zur Aufrüstung der Bundeswehr stimmte, gibt dem Mann recht. „Ich lobe den Kanzler ja nur dort, wo ich es wirklich teile“, sagt er. Aber Scholz sei es gelungen, eine breite Unterstützung für die Ukraine zu wahren. „Sowohl bei denjenigen, die finden, das wird mir jetzt alles zu viel mit den ganzen Waffen, als auch bei denjenigen, die sagen, die Ukraine bräuchte mehr.“ Die Menschen nicken, viele klatschen.
Gegen die Vermögensabgabe
In einem Jugendzentrum in Neuruppin ist Kühnert dann am späten Nachmittag mit Jugendlichen verabredet. Etwa 100 Teenager sitzen vor der Bühne, das Format heißt „Popcorn und Politik“, es riecht süßlich. Er beantwortet ihre Fragen nach seinem abgebrochenen Studium, spricht darüber, wie er als Schüler in die Politik kam, hebt hervor, dass nun jede und jeder schon mit 16 Jahren über das EU-Parlament mitbestimmen darf, und nimmt Komplimente für die Legalisierung von „Bubatz“ entgegen. „Aber wir haben Cannabis natürlich nicht freigegeben, damit möglichst viele Leute kiffen“, beschwichtigt er. Der Saal stöhnt auf. Manchmal wirkt Kühnert wie ein sehr gesetzter 34-Jähriger.
Er sei einst seinetwegen bei den Jusos eingetreten, sagt ein junger Mann. Und er finde, auch als Generalsekretär mache Kühnert einen guten Job. „Auch wenn wir uns schon erhofft haben, dass er manche Dinge stärker infrage stellt: Die Finanzen, den Haushalt, die Schuldenbremse.“ Er ist einer der wenigen, die Kühnert auf Nachfrage auch kritisieren, will aber nicht namentlich zitiert werden.
Die Frage, wie viel vom linken Rebellen eigentlich noch in Kühnert steckt, drängt sich immer mal wieder auf.
Als ein Delegierter auf dem Parteitag im Dezember den Antrag für eine Vermögensabgabe stellt, hält Kühnert die Gegenrede. „Natürlich bin ich als Linker der grundsätzlichen Überzeugung, dass mehr Vermögensgerechtigkeit nötig ist“, sagt er im Mai in seinem Büro. Aber man hätte sich eben im Vorfeld in langen Diskussionen auf ein anderes Konzept geeinigt. Eines, das vor allem auf eine Reform der Erbschaftssteuer setzt. „Mir war wichtig, dass wir am Ende nicht mit einem Bauchladen rausgehen: Die SPD benennt alle Steuern, die ihr so einfallen.“ Schon als Juso habe er sich immer an parteiinterne Prozesse gehalten. „Es geht am Ende um Mehrheit und Akzeptanz.“
Selbst der Kanzler hat ihn links überholt
Der Antrag bekommt auf dem Parteitag eine Mehrheit. Die Delegierten wollen, dass die SPD nicht nur Vermögen von verstorbenen, sondern auch das der lebenden Millionär:innen zugunsten der Allgemeinheit abschöpft.
„Wenn man Kevin zuhört, hört man bis heute die linke Juso-Schule heraus“, findet Annika Klose. Aber jetzt vertrete er eben die gesamte SPD, dazu mit einem Kanzler Olaf Scholz und nicht nur einen superlinken Jugendverband. Sie habe ein Grundvertrauen in Kühnert. „Einfach weil ich ihn schon so lange kenne. Er hatte immer ein gutes Gespür dafür, was durchsetzbar ist und was nicht.“
Dieser Tage hat selbst der Kanzler Kühnert links überholt. Scholz forderte eine schrittweise Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro, Kühnert wandte sich gegen eine solche politische Festlegung, verwies auf die Mindestlohnkommission. Die hatte den Mindestlohn zuletzt um 41 Cent erhöht und das Arbeitnehmerlager dabei glatt übergangen.
Es ist längst dunkel, als der Dienstwagen im März mit Kühnert aus Brandenburg wieder zurück nach Berlin braust. „Ist das Mc Donald’s da vorn?“, fragt er die Büroleiterin. „Schwingt da Hoffnung mit?“, fragt sie zurück. Sie halten an. Die erste richtige Mahlzeit an diesem Tag. „Ich muss mich ab und zu ermahnen, mich nicht in die Sachzwanglogik reindrängen zu lassen“, sagt Kühnert. Er trägt sich seit einiger Zeit größere Blöcke in den Kalender ein – zum Nachdenken. Und auf längeren Reisen hat er seine Wanderschuhe dabei. Wenn Zeit ist, geht er eine Runde allein spazieren.
Seine Gedanken kreisen bereits jetzt um die Bundestagswahl und natürlich um das Duell der voraussichtlichen Kanzlerkandidaten von Union und SPD, Olaf Scholz und Friedrich Merz. Der CDU-Vorsitzende hat auf dem Parteitag betont, man denke die Gesellschaft vom Individuum her, nicht vom Kollektiv. Die Rede habe er mit ehrlicher Freude gehört, sagt Kühnert. „Man muss die beiden nicht schrill überzeichnen. Da sind einfach Unterschiede in Persönlichkeit, Welt- und Menschenbild, die in unterschiedliche politische Konzepte münden.“ Der eine setze auf Deregulierung, der andere auf einen starken Staat. „Diese Auseinandersetzung reizt mich jetzt schon“, sagt Kühnert. Noch rund 470 Tage bis zur Bundestagswahl.
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