Juristin über Migrationspolitik: „Verschärfungen ändern nichts“
Gisela Seidler kritisiert die Migrationspolitik der Bundesregierung. Sie erklärt unter anderem, warum die neuen Regelungen Kommunen kaum entlasten.
taz: Frau Seidler, am Mittwoch will das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Vereinfachung von Abschiebungen beschließen. Sind Sie damit zufrieden?
Gisela Seidler: Diese Vorhaben greifen tief in die Grundrechte Asylsuchender ein. Wir sind entsetzt, dass das im Schnellverfahren durchgepeitscht werden soll. Es ist unmöglich, in gerade mal zwei Tagen eine qualifizierte juristische Stellungnahme abzugeben. Die wäre aber nötig, denn der Entwurf ist nicht durchdacht. Er wird Abschiebungen nicht beschleunigen, sondern möglicherweise verlangsamen, und das auf Kosten zahlreicher grundlegender Rechte. Aber offensichtlich möchte der Gesetzgeber gar nicht hören, was wir zu sagen haben, sondern auf die Schnelle Handlungsfähigkeit demonstrieren.
ist 58 Jahre alt und Vorsitzende im Ausschuss Migration des Deutschen Anwaltsvereins. Sie praktiziert als Fachanwältin für Migrationsrecht in München.
In der aktuellen Debatte geht es um die stark belasteten Kommunen. Werden diese Regelungen Entlastungen bringen?
Wohl kaum. Man könnte sagen: Wenn mehr Menschen in Abschiebehaft kommen, werden sie nicht auf die Kommunen verteilt. Aber das wäre als Begründung für Freiheitsentziehung nicht nur absurd, sondern europarechtswidrig. Ansonsten werden die Kommunen überhaupt nicht entlastet, ebenso wenig wie die zuständigen Behörden. Die werden durch unzählige neue und komplizierte Regelungen und durch neue Aufgaben eher noch eine Mehrbelastung erfahren.
Die Sicherungshaft zum Beispiel bei Fluchtgefahr soll von drei auf sechs Monate erweitert werden, der Ausreisegewahrsam von zehn auf achtundzwanzig Tage. Werden dadurch weniger Abschiebungen scheitern?
Freiheit ist eins unserer höchsten Rechtsgüter, gleich nach der Menschenwürde. Damit darf man nicht spielen. Es darf für drei Monate in Sicherungshaft genommen werden, bei wem die Abschiebung absehbar in diesem Zeitraum vollzogen werden kann. Wenn das jetzt etwa bei ungeklärter Staatsbürgerschaft ausgeweitet wird, hat das eher den Charakter einer Sanktionierung, als dass wahrscheinlicher abgeschoben werden kann. Noch dramatischer ist es beim Ausreisegewahrsam: Da muss nicht mal Fluchtgefahr oder ein anderer Haftgrund vorliegen, man will bloß sichergehen, dass die Person am Tag der Abschiebung greifbar ist. Dabei gibt es gar keine Evaluierungen dazu, wie viele Abschiebungen daran scheitern, dass jemand nicht auffindbar ist.
Sie haben von Mehrbelastung für die Behörden gesprochen. Wo sehen Sie die?
Zum Beispiel bei der Ausweitung der Strafbarkeit. Falsche oder unvollständige Angaben im Asylverfahren zu machen oder das Nichtaushändigen von Urkunden führte bisher dazu, dass ein Asylantrag abgelehnt wurde. Jetzt soll daraus eine Straftat werden, mit Haft bis zu drei Jahren. Das bedeutet einen enormen Aufwand für die Ermittlungsbehörden und Gerichte. Vor allem aber ist es ein weiterer enormer Grundrechteeingriff.
Wieso?
Niemand darf gezwungen werden, sich selbst zu belasten – schon gar nicht mit Mitteln des Strafrechts. Dieser Grundsatz ist direkt aus der Menschenwürde abgeleitet. Nehmen wir eine Person, die erst vier Wochen nach ihrer Einreise einen Asylantrag stellt: Die muss dann entscheiden, ob sie zugibt, den Asylantrag nicht unverzüglich innerhalb von zwei Wochen gestellt zu haben, was zu einer Anzeige wegen illegalen Aufenthalts führt – oder ob sie unwahre Angaben macht, was wiederum strafbar ist.
Aber ist es nicht sinnvoll, Straftaten aufzudecken?
Aber niemand muss sich selbst belasten. Das gilt auch für jeden Strafprozess. Es geht hier immerhin um eins unserer grundlegenden Rechte. Und nicht alles, was man verbieten will, muss strafbar sein. Unwahre Aussagen im Asylverfahren führen wie gesagt schon jetzt dazu, dass ein Antrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird, mit schwerwiegenden Folgen: Eine Klage hat keine aufschiebende Wirkung, die Person wird sofort ausreisepflichtig und bekommt keine Arbeitserlaubnis. Insofern ist der Vorschlag auch ein Verstoß gegen das Strafrecht als Ultima Ratio. Es wundert mich sehr, dass dieser Vorschlag ausgerechnet von einer SPD-Innenministerin kommt. Ähnliches hatte 2019 schon ihr Vorgänger Horst Seehofer von der CSU vor –die damalige SPD-Justizministerin Katarina Barley war strikt dagegen.
Es gibt rund 280.000 Ausreisepflichtige. In den vergangenen beiden Jahren wurden im Mittel jeweils 12.000 Personen abgeschoben. Da scheint es doch Handlungsbedarf zu geben.
Mit solchen Verschärfungen ändert man daran nichts. Es wirkt eher, als habe man händeringend gesucht, was nach all den Verschärfungen der vergangenen Jahre jetzt noch zum Verschärfen übrig ist. Stattdessen könnte man die Mittel für die Behörden aufstocken, die unter massivem Personalmangel leiden – aber das würde mehr kosten. Oder man könnte pragmatisch der sehr großen Gruppe Ausreisepflichtiger eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, die sowieso nicht abgeschoben werden können – etwa, weil ihre minderjährigen Kinder hier einen Schutzstatus haben. Das würde die Zahl der Ausreisepflichtigen senken und wäre auch endlich im Einklang mit Europarecht.
Im Entwurf werden Grundrechtseingriffe in die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Fernmeldegeheimnis benannt. All das sei gerechtfertigt. Sehen Sie das auch so?
Keineswegs. Künftig sollen beispielsweise die Handys von Asylsuchenden komplett ausgelesen werden, inklusive etwa intimer Fotos oder Nachrichten. Und das alles noch vor der ersten Anhörung. Man muss den Menschen doch erst mal die Chance geben, Angaben zu machen. Im Entwurf steht, man gehe davon aus, die Zahl der Abschiebungen so um 600 jährlich zu erhöhen. Für ein so kleines Ziel so schwerwiegende Eingriffe hinzunehmen, ist wirklich bitter.
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