Jürgen Trittin über grünen Wahlkampf: „Keine Regierungsperspektive“
Weniger Koalitionsspekulationen, mehr Einsatz für Klimaschutz, Mobilitätswende, soziale Gerechtigkeit und Europa: Das fordert Jürgen Trittin von seiner Partei.
taz: Herr Trittin, die grüne Urwahl ist beendet. Wenn Sie ein Parteisoldat wären, müssten Sie jetzt das Spitzenduo überschwänglich loben, vehement bestreiten, dass das Ergebnis eine Niederlage für die Parteilinke ist, und uns etwas von der großen Geschlossenheit der Grünen im anstehenden Wahlkampf erzählen. Aber Sie sind kein Parteisoldat, oder?
Jürgen Trittin: Nein, mein Soldatensein ist vorbei. Nach einem halben Jahr als Fernmelder habe ich 1974 erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht meinen Status als anerkannter Kriegsdienstverweigerer eingeklagt. Ihren Feststellungen zur Geschlossenheit der Grünen habe ich trotzdem nichts hinzuzufügen.
Aber als Kriegsdienstverweigerer müssen Sie doch gar nicht mehr strammstehen.
Das heißt ja nicht, dass man nicht diszipliniert aus Überzeugung sein kann. Wir werden einen sehr schwierigen Wahlkampf mit einer großen Herausforderung von ganz rechts haben. Alle Grünen teilen das Wahlziel, drittstärkste Kraft zu werden. Dafür müssen wir deutlich zulegen. Um das zu erkennen, muss man nicht soldatisch sein, sondern da reicht ein Blick auf das politische Kräfteparallelogramm dieses Landes.
Was haben die Grünen falsch gemacht, dass sie in den Umfragen kaum höher als beim Wahlergebnis 2013 liegen?
Ach, ich weiß gar nicht, ob wir so viel falsch gemacht haben. Bedingt auch und gerade durch die Entwicklung des Rechtspopulismus in Europa sind wir vielmehr in einer komplizierten politischen Situation. Die Umfragen sind selbstverständlich unbefriedigend. Aber gönnen wir uns doch eine neue Erfahrung: Bei den vergangenen Malen sind wir mit hohen Umfragewerten in den Wahlkampf gestartet und dann schwächer rausgekommen. Jetzt können wir mal etwas niedriger starten und kommen dafür höher raus.
62, war von 2009 bis 2013 Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag, dem er seit 1998 als Abgeordneter angehört. In der rot-grünen Koalition ab 1998 war er Minister für Umweltschutz und Reaktorsicherheit. Heute ist Trittin unter anderem Mitglied des Auswärtigen Ausschusses.
Eigentlich müsste eine Große Koalition geradezu optimal für die Opposition sein. Aber davon profitiert derzeit nur die äußerste Rechte. Sowohl Grüne als auch Linkspartei stagnieren. Was läuft da schief?
Es stimmt zwar, dass die erste Große Koalition Angela Merkels 2009 mit einer historischen Niederlage der SPD sowie Rekordergebnissen für die Grünen und die Linkspartei endete. Ich glaube aber, dass eine mechanische Übertragung auf heute nicht taugt. Damals hat die SPD schwere Fehler gemacht, die Rente mit 67 etwa. Diesmal hat sie – so fair sollte man gegenüber Sigmar Gabriel sein – viele Teile des sozialdemokratischen Wahlprogramms umgesetzt, übrigens auch Teile, die die Grünen im Wahlkampf vertreten haben, zum Beispiel den Mindestlohn. Den hat sie unter Rot-Grün gegen die Grünen ja noch blockiert.
Die SPD dümpelt in den Umfragen sogar unter ihrem letzten Bundestagswahlergebnis.
Da gibt es augenscheinlich für alle Parteien links der Mitte gemeinsame Hausarbeiten, die gemacht werden müssen. Sie haben den Menschen nicht die Sicherheit vermitteln können, die unter den Bedingungen der Globalisierung erwartet wird. Die SPD hat sich von „new labour“ noch nicht wieder erholt. Uns Grünen hängt noch die Phase neoliberaler Emphase Anfang der 2000er Jahre nach. Und der Strukturkonservatismus der Linkspartei wird nun von anderen besetzt. Alle drei Parteien stehen vor der Aufgabe, diejenigen wieder zu mobilisieren, die sich abgehängt fühlen und aus dem politischen Diskurs verabschiedet haben. Und neu durchzubuchstabieren, was gesellschaftliche Sicherheit – und das ist mehr als soziale Sicherheit – in diesen Zeiten geben kann.
Die Grünen werden derzeit weniger als Partei der sozialen Gerechtigkeit wahrgenommen denn als Partei von Unisex-Toiletten und Gendersternchen. Haben sie sich bei solchen Fragen „radikalisiert“, während ihnen die soziale Frage nicht mehr viel bedeutet?
Das ist Quatsch. Diese Zuschreibung versucht man uns meist von rechts außen aufzudrücken. Die Grünen sind in erster Linie die Partei des ökologischen Wandels. Aber der Kern der grünen Wähler findet auch Themen jenseits der Ökologie wichtig. Und die Frage, ob man einen grünen Justizsenator von Berlin nach nicht mal 100 Tagen daran messen soll, dass es eine Pressemitteilung zu Unisextoiletten gegeben hat, finde ich eigentlich eher lächerlich – insbesondere nachdem diese Koalition daran gegangen ist, die Versäumnisse der CDU in der Gefahrenabwehr mit viel Geld zu beheben.
Frustriert es Sie nicht, dass für die Grünen – angesichts der Umfragen – nur eine Koalition mit der Union realistisch erscheint, um wieder in die Regierung zu kommen?
Zurzeit haben die Grünen überhaupt keine Regierungsperspektive – weder links noch rechts. Wenn wir die bekommen wollen, müssen wir stärker werden. Das kriegen wir jedoch nur hin, wenn die Partei offensiv für ihre Inhalte streitet: für den Klimaschutz und die Mobilitätswende, für mehr Gerechtigkeit und Verantwortung gegenüber sozial Schwachen, für Europa. Das ist die Grundvoraussetzung. Das Spekulieren auch innerhalb der Grünen über Farbvarianten führt hingegen nur dazu, dass jegliche Regierungsperspektive unrealistisch wird.
Aber Sie sind doch kein Fan von Schwarz-Grün.
In der Tat würde es diesem Land guttun, wenn es nach zwölf Jahren mal wieder ohne die Union regiert würde. Selbstverständlich kann man mit Frau Merkel genauso gut oder schlecht koalieren wie mit Sigmar Gabriel. Aber sie gibt es nur mit Horst Seehofer als Doppelwhopper. Nicht unbedingt fürs Wohlergehen der Grünen, aber für die Entwicklung der Demokratie in Deutschland wäre es aus meiner Sicht notwendig, dass die Union in der Opposition landet. Das hat einen vergleichsweise einfachen Grund: Es wäre die einzige Chance, den Etablierungsprozess der AfD zu bremsen.
Damit die Union auch wieder besser den deutschen Stammtisch bedienen kann?
Die AfD ist aus einem Zerlegungsprozess der demokratischen Rechten entstanden. Den Etablierungsprozess dieser rechtspopulistischen Partei wird die Union nicht bremsen können, solange sie in einer Großen Koalition mit der SPD eine Politik der Mitte machen muss. Das schafft sie erst recht nicht, wenn sie in einer Koalition mit den Grünen, also dem Gottseibeiuns des rechten Lagers, regieren würde.
Sonst haben Sie keine Probleme mehr mit der Union?
Das habe ich nicht gesagt. Ich nehme vielmehr wahr, dass gegenwärtig Kräfte innerhalb der Union dabei sind, die Möglichkeiten für eine Koalition mit den Grünen systematisch zuzumauern. Herr Seehofer sagt, er mache eine Regierung nur mit einer Obergrenze für Flüchtlinge. Das ist eine Ansage, auf die Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir eindeutig geantwortet haben: Dann wird es keine Koalition mit den Grünen geben. Und wenn die Union festschreibt, mit ihr werde es keinerlei Veränderung im Steuersystem geben, insbesondere nicht zulasten jener Oligarchen, die sich bei uns in Deutschland als Familienunternehmen tarnen, steht auch das im Widerspruch zu den Beschlüssen der Grünen. Wir wollen nicht, dass die Vermögensteueroase Deutschland erhalten bleibt.
Aber ist das nicht alles nur Verhandlungsmasse?
Sehen Sie, ich habe diese Erfahrung ja schon mal gemacht. 2013 hat die Union die schwarz-grünen Sondierungen scheitern lassen. Ein ausschlaggebender Grund war die Differenz in einem Punkt, der für viele überraschend war, mich eingeschlossen: Europa. Wir haben damals gedacht, mit einer proeuropäischen Partei wie der CDU könne man ein Stück Gemeinsamkeit begründen. Die Wahrheit sah anders aus. Knallhart hat sie auf der ruinösen Austeritätspolitik bestanden, die den Zusammenhalt Europas gefährdet. Unter der Ägide Wolfgang Schäubles hat sich die CDU in dieser Frage bisher nicht bewegt. Die schwarze Null verhinderte Schwarz-Grün.
Sie sehen die Europapolitik als ein zentrales Hindernis für Schwarz-Grün?
Ich sehe die Austeritätspolitik als zentrales Hindernis für Europa. 2017 wird über die Zukunft Europas entschieden. Wir werden dieses Europa nur zusammenhalten können, wenn wir die Gesellschaften in Europa zusammenhalten. Wenn sich jedoch die EU zerlegt, dann wird sich der Wunsch des neuen US-Präsidenten erfüllen, dass er die einzelnen Mitgliedstaaten so behandeln kann, wie er heute schon Mexiko behandelt. Die Wahl Trumps markiert eine Zeitenwende, die wir nicht unterschätzen sollten. Nur ein gemeinsames Europa kann eine starke Antwort auf Trump und die Internationale der Autokraten von Putin bis Erdoğan geben.
Was folgt daraus?
Die EU war ein dreifaches Versprechen: auf Frieden, auf Demokratie und auf Wohlstand für alle. Das dritte Versprechen ist das erste Opfer der nicht überwundenen Eurokrise geworden. Wenn es nicht glaubhaft erneuert wird, werden auch die anderen beiden nicht tragen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Austeritätspolitik beendet wird. Und selbstverständlich führt beispielsweise an einer Schuldenerleichterung für Griechenland überhaupt kein Weg vorbei. Das sagen nicht Grüne, das sagt der IWF. Wir müssen verstehen, dass die Arbeitslosen in Portugal, Spanien oder Griechenland auch unsere Arbeitslosen sind. Das ist eine gemeinsame Herausforderung – und keine bloß moralische, sondern eine ökonomische Frage. In Europa muss wieder massiv investiert werden im Sinne eines Green New Deal.
Das scheint derzeit aber keine zentrale Rolle im Wahlkampf zu spielen – im Gegensatz zur Sicherheitsdebatte.
Ich gehe auch davon aus, dass der Sicherheitsdiskurs uns begleiten wird. Aber ich finde nicht, dass wir uns bei dem Thema verstecken müssen. Ein Beispiel: In Berlin wollte der damalige Innensenator Frank Henkel von der CDU die Polizei mit ausgemusterten Pistolen aus Schleswig-Holstein ausstatten, während jetzt der rot-grün-rote Senat ihr moderne und neue Schusswaffen sowie entsprechende Westen verschafft und Tausend leere Polizeistellen besetzt. Das finde ich eine anständige Antwort, die die Roten, Grünen und anderen Roten auf die Sicherheitslage geben.
Das wäre ein interessanter Wahlkampfslogan: „Besser schießen – die Grünen“.
Das staatliche Gewaltmonopol muss gesichert werden. Denn die Alternative wäre, dass private Monopole oder Oligopole Sicherheit nur für die garantieren, die zahlen können. Das darf nicht passieren. Deshalb bin ich dafür, dass die mit dieser schwierigen Aufgabe Betrauten gut ausgebildet sind, sodass sie den Eingriff in die Grundrechte minimieren können. Ebenso bin ich dafür, dass sie gut ausgestattet sind. Deswegen habe ich mit so einer Parole überhaupt kein Problem. Ich finde, es ist ein Skandal, dass die Partei, die behauptet, sie sei für innere Sicherheit, die Polizisten mit ausgemusterten Knarren auf die Straße schickt. Das hätte sich mal ein Grüner erlauben sollen.
Wie vermeiden Sie, dass im Wahlkampf wieder Parteibeschlüsse aus der letzten Ecke – wie damals der Veggie-Day – hervorgekramt werden, um den Grünen zu schaden?
2013 waren nicht irgendwelche Parteitagsbeschlüsse das Hauptproblem, sondern dass der Wahlkampfslogan „Deutschland ist erneuerbar“ kaum tragen konnte, weil man permanent auf Vorhaltungen aus den eigenen Reihen reagieren musste. Ich glaube, daraus haben alle gelernt.
Sie meinen unter anderem Herrn Kretschmanns Einwände damals gegen die grünen Steuerpläne. Die harschen innerparteilichen Reaktionen auf Simone Peters Frage, wie angemessen die Kontrollen von Dunkelhäutigen in der Kölner Silvesternacht waren, deuten nicht auf allzu große Lernfähigkeit der Grünen hin.
Wir werden gemeinsam nur gewinnen, wenn wir so etwas vermeiden. Das gilt in beide Richtungen. Weder sollte man Polizeieinsätze, die man nicht kennt, aus der Entfernung Stuttgarts, Tübingens oder Saarbrückens für gelungen erklären noch mit einer dürren Basis Vermutungen über Racial Profiling anstellen, selbst wenn entsprechende kritische Fragen sich hinterher als berechtigt herausstellen sollten. Das ist das Maß der Disziplin, das wir die nächsten Monate bis zum 24. September aufbringen werden.
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