Inklusiver Sport für alle Geschlechter: Das Märchen von der Gerechtigkeit

Erbittert wird im Sport über Geschlecht und Fairness diskutiert. Fair ist Wettbewerb nie, aber wie könnte Sport gerechter werden?

Wettkampfbahnen einer Schwimmhalle

Leistungssport sollte die belohnen, die im Vergleich zu ihren Möglichkeiten am meisten leisten Foto: M. Scott Brauer/NYT/Redux/laif

Vor einigen Wochen wurde Lia Thomas unfreiwillig eine der berühmtesten Schwimmerinnen der Welt. Nachdem die trans Frau bei den US-College-Meisterschaften gegen cis Frauen siegte, gab es weltweit Debatten: Floridas Gouverneur Ron DeSantis wollte ihr den Sieg absprechen, in den USA mischten sich Transfeindlichkeit und legitime Vergleichbarkeitsdebatten zu einem unappetitlichen Gebräu, auch in Deutschlands Medien war Thomas tagelang Thema. Es ist ein schon gewohnter Aufruhr im Sport, der wie kaum eine andere Branche ein binäres System propagiert. Stets auf Kosten derer, die unter den Verdacht des Hybriden gerieten – und mittels Genitaltests, später Chromosomentests, zuletzt Testos­teron­ober­gren­zen bei den Frauen ausgeschlossen wurden.

Dieses rigorose System neigt sich wohl dem Ende zu. Das olympische Komitee (IOC) hat unter dem Druck ausgeschlossener Athletinnen und fehlender Studien 2022 die Testosteronobergrenze gekippt und die Verantwortung an die Fachverbände übertragen. Gleichzeitig werden geschlechtergemischte Formate etwa bei Olympia stark gefördert. Doch auch das Mixed-Format ist paritätisch organisiert, die großen körperlichen Differenzen machen es nötig. Geht Sport überhaupt anders?

Dass binärer Spitzensport unumgänglich ist, glaubt die trans Läuferin und Medizinerin Joanna Harper. Sie berät das IOC zum Thema. „Wenn wir uns nur den Männerwettbewerb oder den Frauenwettbewerb angucken, sagen die Testosteronlevel nicht unbedingt den Erfolg vorher“, sagt Harper der taz. „Aber wenn wir auf die Differenz zwischen Männern und Frauen im Sport schauen, ist der wichtigste Faktor – der Grund, warum Männer größer, stärker, schneller sind – Testosteron.“ Teile man Ath­le­t:in­nen nach anderen Kategorien, mache das die Frauen unsichtbar. „Wenn wir Basketballteams neu nach Körpergröße einteilen, werden trotzdem fast nur Männer in den Topteams stehen.“

Harpers Schlussfolgerung: „Wenn Frauen an der Spitze glänzen sollen, brauchen wir eine Frauenkategorie. Und eine sorgfältige Auswahl, wer teilnehmen darf.“ Einer Inklusion von trans, nichtbinären oder inter Athletinnen stehe das nicht im Weg. Denn Harper sagt auch: In einigen Sportarten seien etwa hohe Testosteronwerte gar nicht so entscheidend. Und im Breitensport sei eine binäre Ordnung ohnehin unnötig. „Wir können gerade im Breitensport viel inklusiver, kreativer sein.“ Es gebe aber auch Spitzendisziplinen, etwa den Lauf, wo Testosteron ein sehr entscheidender Faktor sei. Intersex-Athletinnen seien auf den Medaillenplätzen der Frauen-Laufwettbewerbe rund 2.000-fach überrepräsentiert. Dass Athletinnen dort gezwungen werden, ihre Testosteronwerte zu senken, hält sie deshalb für „nicht perfekt, aber gerechtfertigt“. Ein Kompromiss.

Die Startlinie als kollektive Inszenierung

Menschen lieben Wettbewerb. Und Wettbewerb braucht Vergleichbarkeit. Gleichzeitig sind die Vorteile, die derzeit öffentlich thematisiert werden, sehr selektiv. Körpergröße, Wohlstand der Eltern, Herkunftsland, Sporttradition und Infrastruktur vor Ort, Gewicht, Körperfettanteile sind alles nachweisliche Vorteilsfaktoren. Die, die heute klagen, keine gleiche Chance gegen eine inter oder trans Athletin zu haben, stehen auch deshalb oben, weil sie einst das kleine, dicke Kind aus dem prekären Viertel mühelos hinter sich ließen. Dafür wurden sie gefeiert. Die Startlinie ist nie gleich, sie ist eine kollektive Inszenierung. Damit Höchstleistung zelebriert werden kann, muss das Publikum glauben, der Kampf sei gerecht. Auch der Soziologe Dennis Krämer erinnert daran, dass fairer Wettbewerb ein Paradoxon sei; eine Hierarchisierung findet nie zwischen Gleichen statt.

Gerechtigkeit eines Wettbewerbs ist, auch bei präziser Messung, eine kapitalistische Illusion.

Doch die Tatsache, dass die Startlinie permanent ungleich ist, macht die Situation nicht befriedigender. Ein nur annäherungsweise gerechter Sport muss Gerechtigkeit ehrlicher diskutieren als heute. Und auf Basis der wichtigsten Vorteile Kategorien bilden. Im Behindertensport gibt es das längst: Niemand käme auf die Idee, einen Menschen mit Unterschenkelprothese gegen einen Rollstuhlfahrer sprinten zu lassen. Im Laufwettbewerb könnten Testosteron­werte eine kluge Einteilung sein, die nicht ständig Geschlecht reproduziert und Schwächere schützt. Im Basketball könnte der Korb je nach Durchschnittsgröße des Teams aufgehängt sein. Und auf Basis von Körperfettanteilen oder Gewicht kann es einen echten Plus-Size-Sport an der Spitze geben.

Um nicht alle zu vereinzeln, ist es klug, Faktoren zu Handicaps zusammenzufügen. Wenn mehr Chancengleichheit, dann für alle. Soziale Klasse, Herkunftsland, psychische Erkrankungen, all das muss in Form von Bonuspunkten oder Vorsprung einfließen. Und auch: Körper und Geschlecht.

Das wäre ein tatsächlicher Leistungssport: Einer, der die belohnt, die im Vergleich zu ihren Möglichkeiten am meisten leisten, nicht die mit den besten Voraussetzungen. Beim Integrated Football werden den Spie­le­r:in­nen anhand ihrer Fähigkeiten Handicaps verteilt, Stärkere dürfen zum Beispiel nicht gegen Schwächere in den Zweikampf gehen. Auch das sind Utopien für einen geschlechtergerechten Sport. Es ist freilich immer nur eine Annäherung. Gerechtigkeit eines Wettbewerbs ist, auch bei präziser Messung, eine kapitalistische Illusion.

Eine dritte, nichtbinäre Kategorie

„Neue Startklassen sind ein Schritt, aber auch keine endgültige Lösung“, sagt Julia Monro, die sich in Deutschland für die Rechte von trans Personen engagiert. Sie war selbst in einem Volleyballteam aktiv und kennt die Debatte zur Genüge. In ihrem Mixed Team mit Frauenquote sei es für die Mit­spie­le­r:in­nen kein Problem gewesen, dass sie eine trans Frau ist. Anders bei den Gegner:innen: „Wenn ich mit meinen 1,92 Metern einen Angriff ins gegnerische Feld schlage, kommen schon Kommentare, dass ich andere Voraussetzungen habe als eine cis Frau.“

Monro sagt, sie wisse selbst nicht, was die Lösung wäre. Sie kritisiert aber scharf, dass die Debatte sich immer nur um trans Frauen dreht und ihnen pauschal Unfairness vorgeworfen werde. Niemand habe den deutlichen Leistungsverlust im Blick, wenn trans Frauen eine hormonelle Behandlung vornehmen. Monro sieht eine mögliche Lösung darin, eine freiwillige dritte, nichtbinäre Kategorie einzuführen, in der alle mitmachen können. „Ich würde mir wünschen, dass der Spaß im Sport wieder mehr im Vordergrund steht. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ein queerer, diverser Sport wesentlich respektvoller ist.“

Karolin Heckemeyer, Sportsoziologin

„Die Geschlechtersegregation produziert nicht Gleichheit, sondern Hierarchie“

Leistung, Dominanz, Sieg und Niederlage, weltweit standardisierte Regelwerke und binäre Teilung wirken heute so selbstverständlich, dass vielen nicht bewusst ist, wie grundlegend Sport sich permanent wandelt. Im südostasiatischen Kooperationssport waren Zusammenarbeit und Rhythmik das Ziel, nicht Sieg und Niederlage. Dörfliche Massenraufereien ohne Tabellen, oder Adlige, die gerade die Nichtanstrengung feierten: Sport ist nicht objektiv, er ist der Sport einer Weltanschauung und einer Hierarchie.

Männersport und Frauensport, so absolut erfand ihn erst das 19. Jahrhundert, das statt punktueller Turniere den permanenten Wettbewerb erfand und die Frau als schützenswert. „Die Geschlechtersegregation produziert nicht Gleichheit, sondern Hierarchie“, so hat es etwa die Sportsoziologin Karolin Heckemeyer formuliert – eine Geschichte von der vermeintlich „natürlichen männlichen Überlegenheit“. Welche Leistung heute eine Leistung ist, haben Männer erfunden. Die Hierarchisierung zeigt sich auch in der trans Debatte: Laut einer aktuellen Studie glauben weniger als ein Viertel der befragten cis Sportlerinnen, dass trans Frauen gegen sie „unfaire Vorteile“ haben. Aber fast die Hälfte der cis Männer.

Der bessere Sport: ein Mosaik

Ein geschlechtergerechter Sport braucht also neue Spielideen. Warum nicht Kooperation oder Kreativität? Ein Sport als Kunst statt nach einem einzigen Regelwerk, demokratisch-fluide Regeln oder Galaxien statt eines erbarmungslosen Pyramidensystems mit Auf- und Abstieg, all das ist möglich.

Oft übrigens hat Verdrängung nicht einmal mit Leistung zu tun. Das zeigen jene Sportarten, die gar keine körperlichen Vorteile eines Geschlechts kennen: Schießen, Darts, Curling, Billard oder eSports. Viele davon sind extrem männerdominiert. Kristin Banse ist Diversity-Beauftragte beim eSport-Bund Deutschland. Sie bestätigt die Hürden für Frauen in der Branche, ist aber auch bemüht, mit dem Klischee des sexistischen Nerd-Sports aufzuräumen. „Der Sexismus ist hier nicht geringer und nicht höher als in der Gesellschaft.“

Ein hoch technologisches All-Gender-Spiel – kann der klassische Sport davon lernen? „Vielleicht“, sagt Banse. „Mithilfe von Virtual Reality kann man körperliche Nachteile ausgleichen. Dafür muss sich aber das Denken in den Verbänden verändern. Mittlerweile gibt es unter anderem VR-Spiele, die stark körperbetont sind, es gibt zum Beispiel VR-Volleyball oder VR-Tennis. Das ist tatsächlich anstrengend. Die körperliche Komponente ist noch da, aber man könnte Nachteile wohl durch Technik ausgleichen.“ Auch das ist eine Idee für einen inklusiveren Sport. Der bessere Sport, er wäre gewiss ein Mosaik.

Mehr zum Thema und weitere Utopien für die Sportwelt in „Futopia – Ideen für eine bessere Fußballwelt“ von Alina Schwermer, Verlag die Werkstatt, 448 Seiten

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