Indikatoren für Coronapolitik: Zeit für neue Werte?
Lange wurde auf die Inzidenz geschaut, jetzt soll der Blick geweitet werden. Taugen R-Wert, Krankenhauszahl und Impfquote als Frühindikatoren?
Es klingt nach einem heftigen Streit: „Mit steigender Impfrate verliert die Inzidenz an Aussagekraft“, sagt Gesundheitsminster Jens Spahn in dieser Woche in der Bild. Es brauche „zwingend weitere Kennzahlen, um die Lage zu bewerten“. Damit reagierte der CDU-Mann auf einen Bericht der Zeitung über ein angebliches „geheimes Panik-Papier“, in dem der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, für ein Festhalten an der Inzidenz als „Leitindikator“ plädiert hatte.
Doch das Papier, eine zehnseitige Power-Point-Präsentation, ist weder geheim, noch wird darin Panik geschürt. Für ein Festhalten an der Inzidenz als wichtigstem Indikator, der weiterhin möglichst niedrig gehalten werden sollte, plädiert das RKI darin aber tatsächlich, und dafür gibt es auch gute Gründe. Die Forderung steht auch keinesfalls im Gegensatz zur von Spahn geforderten zusätzlichen Betrachtung weiterer Indikatoren – soweit diese überhaupt verfügbar sind. Ein kurzer Überblick:
Der Inzidenzwert
Zur Erinnerung: Die Inzidenz gibt an, wie viele Neuinfektionen es innerhalb von sieben Tagen bezogen auf 100.000 Einwohner*innen gibt. Durch diese festen Bezugsgrößen ist der Wert theoretisch über verschiedene Zeiträume und Regionen gut vergleichbar. In der Praxis gab es schon immer ein paar Einschränkungen. So wird die Inzidenz davon beeinflusst, wie viele Menschen unter welchen Voraussetzungen getestet werden. Außerdem werden Fälle, die mit mehr als einer Woche Verzögerung gemeldet werden, für die Inzidenz nicht berücksichtigt.
Doch solange die Bedingungen einigermaßen vergleichbar bleiben, vermittelt der Inzidenzwert ein recht gutes und vor allem aktuelles Bild vom Infektionsgeschehen. In Deutschland liegt er aktuell bei 17 – weitaus niedriger als im Dezember, als der bisherige Spitzenwert von knapp 200 gemessen wurde, aber schon wieder mehr als dreimal so hoch wie vor gut drei Wochen.
Diese Entwicklung zeigt bereits: Mindestens ebenso wichtig wie die Infektionszahl ist ihre Veränderung. Denn weil der Anstieg zumindest zeitweise exponentiell verläuft, können aus kleinen Zahlen ziemlich schnell große werden. Zuletzt lag die Wachstumsrate in Deutschland bei gut 30 Prozent pro Woche. Wenn es dabei bliebe, entspräche das einer Verdopplung innerhalb von zweieinhalb Wochen.
Alternativ kann man das Wachstum auch am sogenannten R-Wert erkennen. Der gibt an, wie viele weitere Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Weil sich dies auf einen Zeitraum von vier Tagen bezieht, ist er schwerer interpretierbar; eine wöchentliche Wachstumsrate von 30 Prozent entspricht ungefähr einem R-Wert von 1,17. Dieser Wert wird bei politischen Entscheidungen schon jetzt regelmäßig berücksichtigt, etwa in Berlin, wo er Teil der Corona-Ampel ist.
Krankenhauszahlen
Im Mittelpunkt der aktuellen Debatte um neue Corona-Indikatoren steht die Zahl der Patient*innen, die aufgrund einer Coviderkrankung im Krankenhaus behandelt werden müssen. Denn sie könnte zuverlässig anzeigen, wie viele schwere Verläufe es gibt – zumindest theoretisch. In der Praxis konnte die sogenannte Hospitalisierungsrate in Deutschland bisher nicht wirklich genutzt werden, weil es Zahlen dazu nur unvollständig, einmal pro Woche und mit großer Zeitverzögerung gab. Tagesaktuell gemeldet wurden bisher nur Zahlen von den Intensivstationen. Erst seit Mitte Juli sind Krankenhäuser durch eine neue Verordnung verpflichtet, die Zahl aller aufgenommenen Coronapatient*innen kurzfristig und vollständig zu melden.
Wie gut das gelingt, ist offen. Bisher sind sich die zuständigen Stellen noch nicht mal einig, wer unter die Verordnung fällt: nur Patient*innen, die aufgrund einer Coviderkrankung aufgenommen werden – so stellt es das Bundesgesundheitsministerium auf taz-Anfrage dar. Oder alle Krankenhauspatient*innen, die unabhängig vom Aufnahmegrund positiv auf Corona getestet wurden – davon gehen die Deutsche Krankenhausgesellschaft und das RKI aus.
Seit gut einer Woche veröffentlicht das RKI auf Grundlage der erfassten Zahlen eine neue Hospitalisierungsinzidenz; sie zeigt, angelehnt an die 7-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen, wie viele Coronapatient*innen innerhalb der letzten sieben Tage pro 100.000 Einwohner*innen ins Krankenhaus aufgenommen wurden. Die wenigen Werte, die es dafür bisher gibt, zeigen auch für diesen Indikator einen deutlichen Anstieg um 35 Prozent innerhalb einer Woche.
Eine ähnliche Entwicklung ist in Großbritannien zu beobachten, wo der Anstieg der Infektionszahlen schon früher begonnen hatte: Auch dort folgt die Zahl der Krankenhauspatient*innen mit etwa einer Woche Verzögerung der Inzidenz, sodass diese weiterhin als Frühindikator gut geeignet ist. Was sich dort dagegen stark verändert hat, ist das Verhältnis der Werte zueinander: Die Zahl der Krankenhausfälle pro Infektionsfall ist im Vergleich zum Januar um etwa 80 Prozent gesunken.
Die Impfquote
Grund dafür, dass es pro Infektionsfall weniger Krankenhauspatient*innen und Tote gibt, sind natürlich die Impfungen. Wie gut sie gegen eine Infektion mit der Deltavariante schützen, ist nach unterschiedlichen Studienergebnissen zwar nicht mehr ganz klar. Doch gesichert ist, dass vollständig Geimpfte im Fall einer Infektion sehr viel seltener schwer erkranken oder sterben. Zudem ist in den Risikogruppen ein überdurchschnittlicher Anteil der Menschen geimpft; auch das führt dazu, dass die gleiche Zahl an Infektionen zu weniger schweren Verläufen führt.
Wenn es darum geht, die Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern, kann sich eine Gesellschaft also um so mehr Infektionen „leisten“, je mehr Menschen geimpft sind. In Nordrhein-Westfalen hat die vom CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet geführte Regierung deshalb härtere Auflagen bei einer Inzidenz ab 50 bereits ausgesetzt. Und Gesundheitsminister Spahn erklärte kürzlich, bei einer Impfquote von 75 Prozent gelte in Bezug auf die Inzidenz: „200 ist das neue 50.“
Diese Rechnung ist jedoch aus mehreren Gründen fraglich. Erstens kann sie in falscher Sicherheit wiegen – denn eine Vervierfachung der Inzidenz kann bei hohen Wachstumsraten innerhalb von einer Woche geschehen, wie kürzlich in den Niederlanden zu sehen war.
Zweitens ist unklar, ob die Entwicklung in Deutschland genauso läuft wie in Großbritannien, denn dort ist die Impfquote unter den älteren Menschen deutlich höher als in Deutschland.
Und zum Dritten kann man die Frage stellen, ob man die Maßnahmen wirklich darauf ausrichten will, dass die Krankenhäuser wie bei der letzten Welle kurz vor der Überlastung stehen, nur um wenige Wochen auf einige Maßnahmen verzichten zu können.
Langzeitschäden
Ein weiterer Grund, der gegen die Akzeptanz hoher Infektionszahlen sprechen könnte, sind die Langzeitschäden, die durch die Erkrankung entstehen können. So fordert etwa Gérard Krause, Leiter der Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, auch die durch Corona verursachte Arbeitsunfähigkeit als Indikator zu berücksichtigen.
Tatsächlich fließt in die derzeit genutzten Werte nicht ein, dass ein Teil der Covid-19-Patient*innen, und zwar nicht nur solche mit schweren Verläufen, nach der akuten Infektionsphase Wochen oder gar Monate braucht, um wieder gesund zu werden. Gibt es viele Long-Covid-Patient*innen, ist das nicht nur individuell dramatisch, sondern könnte auch eine Belastung für die Wirtschaft und die Sozialsysteme darstellen.
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Das bislang diffuse Krankheitsbild Long Covid ist allerdings noch zu wenig erforscht, um medizinisch genaue Angaben zu Ursachen und Verbreitung zu machen. Auswertungen der Krankenversicherungen AOK und Barmer haben ergeben, dass im Frühjahr 5 bis 6 Prozent der registrierten Infizierten mit der Diagnose „Post-Covid-19-Zustand“ länger krankgeschrieben waren.
Das Problem bei diesen Zahlen: Sie ergeben sich aus den Abrechnungen der Hausärzt*innen. Weil diese Daten aber gewöhnlich erst Monate nach der Diagnose zur Verfügung stehen, eignet sich der Indikator „Arbeitsunfähigkeit“ wohl kaum zur Steuerung kurzfristiger politischer Maßnahmen.
Womöglich aber als Argument für die Forderung des Robert Koch-Instituts, Schutzmaßnahmen nicht vorschnell aufzugeben. Und die wären übrigens gar nicht so umfangreich. Anders als Bild schreibt, fordert in dem Papier das RKI nämlich nicht „Lockdown statt Freiheit“, sondern plädiert vor allem dafür, die Basisschutzmaßnahmen wie Maskenpflicht und Abstand in Innenräumen beizubehalten, Schulen mit Lüftungen und besseren Tests auszustatten und die Impfkampagne durch leichter zugängige Impfungen für bestimmte Gruppen zu verbessern. Von einem Lockdown ist in der Präsentation dagegen keine Rede.
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