Coronainfektionen in Großbritannien: Zuversicht im Königreich
Entgegen den Prognosen sinken die Infektionszahlen in Großbritannien deutlich. 92 Prozent der Erwachsenen haben Antikörper.
Das widerspricht fast allen Prognosen. Der neue britische Gesundheitsminister Sajid Javid hatte vor Kurzem erst aufgrund der Deltavariante 100.000 Neuinfektionen täglich prophezeit, ebenso der Epidemiologe Neil Ferguson, Chefberater der Regierung, der daher den Plan der Regierung skeptisch sah, am 19. Juli alle Coronarestriktionen zu beenden.
So fiel der 19. Juli eher verhalten aus: Man solle weiter vorsichtig sein, denn wir sind noch nicht aus dem Schlamassel raus, sagte Premier Johnson. Zwar feierten manche laut in Londons Clubs deren Wiederöffnung, aber den meisten verdrießten die schlechten Prognosen den lang erwarteten „Freedom Day“. Und nun tritt das Gegenteil ein: Die Zahlen sinken beständig. Steht das Vereinigte Königreich vielleicht doch am Ende der Pandemie?
Derartige Überlegungen sind nicht mehr nur unrealistisches Wunschdenken. 92 Prozent aller britischen Erwachsenen haben inzwischen Antikörper gegen Sars-Cov-2, weil sie entweder zu den 71,1 Prozent gehören, die komplett durchgeimpft sind, oder zu denen mit erst einer Impfung oder Resistenzen aufgrund einer vorherigen Infektion.
Die sogenannte Herdenimmunität, mit der eine ganze Bevölkerung gegen zirkulierende Viren unempfindlich wird, erscheint in greifbarer Nähe. Dennoch bleiben Wissenschaftler zurückhaltend, denn nach den Öffnungen erwarteten sie eigentlich ein Ansteigen der Zahlen.
Sommerferien und EM zeigen Wirkung
Inzwischen posaunt man aus 10 Downing Street wieder mehr Zuversicht. Ab Montag können vollständig Geimpfte aus den USA und aus EU-Ländern mit Ausnahme Frankreichs wieder ohne Quarantäneauflagen ins Vereinigte Königreich einreisen. Benötigt wird dann nur noch ein PCR-Test, der nicht älter als drei Tage sein darf, und ein weiterer PCR-Test innerhalb von zwei Tagen nach der Ankunft. Darüber freut sich vor allen die britische Tourismusbranche.
Hintergrund der sinkenden Zahlen ist nicht nur eine gestiegene kollektive Immunität. Der Beginn der Sommerferien bedeutet, dass sich das Virus nun weniger unter Schulkindern und deren Eltern verbreitet, ähnliches gilt auch an den Universitäten. Ebenfalls wird unter den signifikanten Faktoren das Ende der Fußball-EM am 11. Juli genannt. Bis dahin hatten die vollen Stadien und feiernden Menschenmengen gerade in England, das bis ins Endspiel gelangt war, stark zur Verbreitung der Viren beigetragen, vor allem unter jungen Männern. Letztendlich ist auch das Sommerwetter ein Faktor, weil Leute sich jetzt vor allem unter freiem Himmel treffen.
Hilfreich ist auch, dass viele Menschen weiterhin vorsichtig bleiben, Masken tragen, ihre Hände waschen und desinfizieren und Distanz halten. In vielen öffentlichen Verkehrsmitteln, etwa in der Londoner U-Bahn oder Londoner Bussen, gilt weiterhin Maskenpflicht. Und die Corona-Warn-App, die Kontaktpersonen von positiv Getesteten alarmiert, hat zuletzt wöchentlich über eine halbe Million Menschen in die Selbstisolation geschickt.
Das senkt einerseits die Reproduktion des Virus – andererseits hätten wohl viele die App schlicht abgeschaltet oder würden sich nicht mehr testen, um sich nicht den Urlaub versauen zu lassen, meint Christl Donellly, Professorin für statistische Epidemiologie an der Universität Oxford.
Medizinprofessor Paul Hunter von der Universität of East Anglia hielt die Vorhersagen von 100.000 Infektionen pro Tag ohnehin für völlig übertrieben. Andere Wissenschaftler*innen glauben, dass die Lage weiter beobachtet werden müsse und eine Erhöhung durchaus noch möglich sei. „Aber“, wie James Naismith von der Universität Oxford eingestand, „wir lagen auch vorher schon mal falsch und können auch in der Zukunft falsch liegen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt