Spätfolgen von Covid-19: Wenn Corona nicht verschwindet
Das Gesundheitssystem ist auf eine große Zahl von Long-Covid-Patient:innen nicht vorbereitet. Viele Betroffene fühlen sich im Stich gelassen.
Die Infektionszahlen sinken, die Angst vor Corona rückt in den Hintergrund. Doch es gibt viele Menschen, die sich bis heute nicht von ihrer Erkrankung erholt haben. In der Medizin nennt man ihren Zustand Long Covid oder auch Post-Covid-Syndrom. Ersten Studiendaten zufolge leiden rund 10 Prozent aller Erkrankten noch Monate nach ihrer Infektion unter schweren Symptomen. Das wären in Deutschland rund 350.000 Menschen.
Viele von ihnen sind zwischen 20 und 50 Jahre alt, weiblich, ohne Vorerkrankungen und haben sich während der Infektion nie besonders krank gefühlt. Nun sind sie teilweise wochen- oder monatelang nicht arbeitsfähig. Manche werden vielleicht sogar nie in ihren Beruf zurückkehren können. Die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem sind noch gar nicht absehbar, fürchten Expert:innen.
„Die Infektion der Sozialsysteme hat gerade erst begonnen“, sagt Andreas Gonschorek, Leiter des Neurozentrums am BG Klinikum Hamburg. Außerdem steht man bei der Definition des Post-Covid-Syndroms noch ganz am Anfang. In Studien werden teils mehrere Hundert Symptome genannt. Die häufigsten: ständige Müdigkeit und Erschöpfung nach geringster Belastung, Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Geruchs- und Geschmacksverlust, Kurzatmigkeit und Schlafstörungen. Ob es sich dabei um ein einzelnes Krankheitsbild handelt oder um verschiedene, ist momentan ebenso unklar wie die Ursache selbst.
Virusreste im Darm, eine fehlgeleitete Autoimmunreaktion und Entzündungsprozesse werden als erste Erklärungsansätze genannt. Abzugrenzen ist das Post-Covid-Syndrom von den Langzeitfolgen meist älterer Menschen, die sich nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation nur langsam erholen.
Versorgungskapazitäten nicht ausreichend
Von Long Covid sind auch Kinder und Jugendliche betroffen. Uta Behrends leitet das MRI Chronisches Fatigue Centrum für junge Menschen bis 25 Jahre an der Kinderklinik Schwabing. Die Ambulanz gab es bereits vor Corona, auch andere Virusinfektionen wie das Pfeiffersche Drüsenfieber können chronische Erschöpfungszustände auslösen – das Chronische Fatigue Syndrom (CFS). Jetzt haben Behrends und ihr Team das Zentrum auch für junge Coronapatient:innen mit Langzeitfolgen geöffnet.
„Die Versorgung dieser Patient:innen ist sehr aufwendig“, sagt die Ärztin. „Man findet in den Untersuchungen der Organe mit Routinemethoden häufig keine Auffälligkeiten – trotzdem sind die Patient:innen sehr krank.“ Durch Anamnesegespräche, spezielle Untersuchungen, Blutanalysen und verschiedene Bildgebungsverfahren würden zunächst andere mögliche Gründe für eine Fatigue ausgeschlossen, erklärt sie. All das brauche viel Zeit, in ihrer Ambulanz gibt es derzeit eine Warteliste.
Behrends weist darauf hin, dass die Versorgungsstruktur für Menschen mit postinfektiöser chronischer Fatigue schon vor der Coronapandemie schlecht war. „Wir müssen dringend ausreichend Anlaufstellen schaffen, damit nicht zigtausend Patienten unversorgt sind“, sagt sie. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS befürchtet, dass zu den 250.000 bereits vor der Pandemie betroffenen Menschen mit CFS noch 100.000 Fälle durch Covid-19 hinzukommen könnten.
Die Initiative Long Covid Deutschland, die online Informationen über Covid-19-Folgen bereitstellt und eine der ersten Selbsthilfegruppen im Netz gründete, listet auf ihrer Webseite rund 50 Post-Covid-Ambulanzen auf. Betroffene würden teilweise monatelang auf einen Termin warten und die, die außerhalb von Ambulanzen nach Hilfe suchen, würden oft stigmatisiert, sagt ein Mitglied der Initiative, der anonym bleiben möchte.
Die Suche nach dem richtigen Ansprechpartner
„Das größte Problem ist immer noch, wahrgenommen und ernst genommen zu werden“, sagt der Mann. Insbesondere wenn Betroffene angeben, nicht mehr belastbar und ständig erschöpft zu sein, würden ihre Beschwerden oft als psychosomatische Leiden abgetan.
Bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags hat die Initiative kürzlich ihre Forderungen vorgebracht. Sie möchte mehr finanzielle Mittel für die Long-Covid-Forschung, eine Plattform, auf der sich die Betroffenen vernetzen können, und eine bessere ambulante Versorgung bei Langzeitfolgen. Und die Initiative hat viele Mediziner:innen auf ihrer Seite. Mehrere Fachgesellschaften arbeiten gerade gemeinsam an einer Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Post Covid.
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Klar ist aber auch, dass diese neue Aufgabe eine zusätzliche Belastung für die Hausärzt:innen darstellt. „Bei der Masse an Betroffenen stößt das Gesundheitssystem in relativ kurzer Zeit an seine Grenzen“, sagt Arzt Andreas Gonschorek, der im BG Klinikum Hamburg Patient:innen mit Covid-19-Langzeitfolgen betreut.
Seiner Meinung nach hapert die gute Versorgung der Patient:innen daran, dass sie oft eine Vielzahl von Symptomen haben, die unterschiedliche Fachgebiete betreffen – worauf die Gesundheitsversorgung aber nicht ausgelegt sei. „Da finden viele keinen Ansprechpartner oder nicht den richtigen.“
Die BG Kliniken haben zusammen mit der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) ein Programm für Beschäftigte des Gesundheitswesens gestartet, die unter Corona-Langzeitfolgen leiden. Das Programm ist mehrgliederig. Es startet mit einem Telefoninterview und kann je nach Bedarf um einen mehrtägigen Krankenhausaufenthalt erweitert werden. Dort wird dann ein sogenannter Post Covid Check durchgeführt, der in einer individuellen Behandlungsempfehlung mündet.
Von 96.443 Anzeigen, berufsbedingt an Covid-19 erkrankt gewesen zu sein, wurden nach Angaben der BGW bis Anfang Juni 61.493 anerkannt. „Wenn wir schätzen, dass 5 oder 10 Prozent davon Langzeitbeschwerden haben, dann ist das eine erhebliche Anzahl von Betroffenen“, sagt Gonschorek.
Nächste Welle könnte Versorgungskapazität erschöpfen
Den Zulauf am BG Klinikum könne man derzeit noch gut bewältigen, auch weil der Norden im Vergleich zu anderen Teilen Deutschlands weniger von der Pandemie betroffen sei. „Aber wir müssen schon zusehen, dass wir unsere Ressourcen noch effizienter nutzen und vielleicht auch ausbauen, um der nächsten Welle Herr zu werden. Ich erwarte, dass die Zahlen in den nächsten Monaten deutlich nach oben gehen werden.“
Und auch Uta Behrends vom Chronischen Fatigue Centrum in München betont, dass die angemessene Versorgung von Patient:innen mit CFS eine große sozioökonomische Bedeutung hat. „Es ist überhaupt keine Frage, ob es zusätzliche komplex und chronisch Kranke geben wird, wenn wir die Betroffenen nicht rechtzeitig angemessen diagnostizieren und versorgen.“
Welche Kosten dabei auf die Sozialversicherungssysteme zukommen, lässt sich noch nicht absehen. Erst seit Januar gibt es den Diagnoseschlüssel „Post-Covid-19-Zustand“. Entsprechend dünn sind die Daten der Krankenkassen bisher.
Beim Wissenschaftlichen Dienst der gesetzlichen Krankenkasse AOK hat man bis April 217.000 erwerbstätige Versicherte mit bestätigter Covid-19-Erkrankung registriert. 11.000 von ihnen – also 5,1 Prozent – waren in der Zeit von Januar bis April 2021 arbeitsunfähig aufgrund einer Diagnose mit dem Post-Covid-19-Zustand.
Man sehe das als Frühwarnsystem, sagt der stellvertretende Geschäftsführer Helmut Schröder. Die Krankheitskosten ließen sich aber noch nicht schätzen – zu viele Unbekannte. Abrechnungsdaten würden frühestens in einem halben Jahr vorliegen. Ähnliche Antworten kommen auch von anderen Krankenkassen. Von der Deutschen Rentenversicherung heißt es, erste Daten zu bewilligten Rehabilitationen nach Covid-19-Infektionen lägen voraussichtlich im Sommer vor.
Nach den mahnenden Stimmen aus der Wissenschaft und der Medizin kommt nun auch die Politik um das Thema Long Covid nicht mehr herum. Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) sicherte Ende Mai 5 Millionen Euro für die interdisziplinäre Forschung zu Spätsymptomen von Covid-19 zu. Auf der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) verständigten sich diese Woche die Gesundheitsminister:innen der Länder auf die Erarbeitung eines Aktionsplans zum Post-Covid-Syndrom.
Ziel sei es, alle Bereiche der Gesundheitsversorgung und Arbeitswelt für die Thematik zu sensibilisieren und spezialisierte Behandlungs- und Selbsthilfestrukturen zu schaffen. Es sei wichtig, jetzt zu handeln, sagte der bayerische Gesundheitsminister und GMK-Vorsitzende Klaus Holetschek (CSU). „Damit wir den Betroffenen auch dann helfen können, wenn die Hochphase der Pandemie überstanden ist.“
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