Impfgerechtigkeit und Priorisierung: Pragmatisch und ungerecht

Einfach alle ohne Reihenfolge zu impfen, klingt verheißungsvoll. Aber dabei bleiben die Schwächeren auf der Strecke.

Eine Frau wird in einem Impfzentrum geimpft.

Streng nach der Priorisierung: Impfung einer Lehrerin in Hannover am 10. März Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa

Sachsen will an der Grenze zu Tschechien, wo die Coronazahlen kaum kontrollierbar sind, die festgelegte Impfreihenfolge aufheben. Alle ab 18 aufwärts sollen so schnell wie möglich geimpft werden. Warum nicht gleich so, rufen jetzt viele – und warum nicht überall? Wir haben jetzt doch gemerkt, dass die deutsche Impfbürokratie dem Virus nicht gewachsen ist. Können wir jetzt nicht einfach alles in die Oberarme drücken, was geht – statt darauf zu warten, dass auch die letzte Greisin ihren Weg zum Impfzentrum gefunden hat?

Nein, nicht ganz. Es bleibt richtig, die am stärksten Gefährdeten zuerst zu impfen. Jede andere Lösung – etwa eine Priorisierung nach Verbreitungswahrscheinlichkeit – ist nicht nur ethisch schwer zu vertreten.

Es steckt auch eine andere Form der Gerechtigkeit in der Priorisierung: Sie soll gewährleisten, dass sich nicht die Stärksten vordrängeln. Die vielen Beispiele von Kommunalpolitikern und anderen ehrenwerten Sich-wichtig-Nehmern zeigen, dass diese Gefahr sehr groß ist.

Und sie wird wachsen, wenn die HausärztInnen das Impfen übernehmen. Es mag pragmatisch und angebracht klingen, das Impfen in die Praxen zu verlegen. Aber wer kontrolliert eigentlich, ob dort tatsächlich das größte Risiko entscheidet – und nicht etwa eine Privatversicherung oder andere Virus-fremde Erwägungen?

Das bisschen Impfstoff, das Deutschland sich gesichert hat, findet seinen Weg quälend langsam zu den Berechtigten – die neuen Mutanten sind schnell. Der Druck, die Impfreihenfolge zu realitätsfernem Gedöns zu erklären, wächst. Die Notmaßnahme in Sachsen wird kein Einzelfall bleiben.

Wenn aber die Priorisierung massenhaft unterlaufen wird, muss niemand lange raten, wen das treffen wird: die schlecht Artikulierten mit Vorerkrankungen. Das sind meist die Ärmeren, oft MigrantInnen, ohne institutionelle Zugänge. Sie bekommen den rettenden Stoff dann als Letzte oder Vorletzte. Wenn Covid-19 sie nicht vorher erwischt hat.

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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