Ifo-Ökonomin über AKWs in Reservebetrieb: „Die Lage ist nicht mehr so angespannt“
Am Samstag werden die verbliebenen drei Atommeiler abgeschaltet. Sie für den Notfall in Reserve zu halten, würde nicht viel bringen, sagt die Ifo-Ökonomin Karen Pittel.
taz: Frau Pittel, an diesem Samstag – den 15. April – ist Schluss mit der hiesigen Stromproduktion in Atomkraftwerken. Dann werden die letzten drei Anlagen abgeschaltet. Halten Sie das für eine gute Idee?
Karen Pittel: Die drei Kernkraftwerke produzieren nur noch 5 bis 6 Prozent unserer Elektrizität. Trotzdem war ihr Weiterbetrieb im vergangenen Jahr sinnvoll. 2022 brauchten wir die Anlagen für die Netzstabilität, weil viele französische Kernkraftwerke vorübergehend nicht produzierten. Außerdem entlastete uns der zusätzliche Atomstrom etwas von den sehr hohen Gaspreisen. Jetzt jedoch liegen diese deutlich niedriger, und die französischen Kraftwerke sind wieder am Netz. Die Verlängerung des Betriebs über den vereinbarten Abschalttermin erscheint deshalb aktuell nicht unbedingt nötig. Ob die Entscheidung des Atomausstiegs grundsätzlich richtig war, ist jedoch eine andere Frage.
ist Professorin für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Energie und Klima an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Und sie leitet das Zentrum für Energie, Klima und Ressourcen beim ifo Institut für Wirtschaftsforschung.
Halten Sie den Atomausstieg für falsch?
Nach der Katastrophe von Fukushima 2011 hat die Bundesregierung diese Entscheidung sehr schnell getroffen. Dabei scheint wenig bedacht worden zu sein, dass auch Strom aus Kohle und Erdgas die Kernkraft ersetzen wird. Wäre das anders gelaufen, hätte Deutschland seine klimaschädlichen Kohlendioxidemissionen zumindest schneller reduzieren können.
Wäre es nun sinnvoll, drei Atomkraftwerke in Reserve zu halten, um sie im Notfall noch einmal anschalten zu können, wie es etwa die FDP will, die quasi täglich neue Rettungsversuche startet?
Dann bräuchten die Anlagen neue Brennstäbe, und aufwendige Sicherheitsüberprüfungen würden fällig. Das verursachte hohe Kosten, die sich die Betreiber vom Staat erstatten ließen. Der energiepolitische Nutzen einer solchen Atomreserve wäre aber unsicher. Die Lage ist jetzt nicht mehr so angespannt wie im vergangenen Jahr.
Wegen des Ausfalls der russischen Gaslieferungen sind heute wieder mehr Kohlekraftwerke am Netz als vorher beabsichtigt. Können wir den Ausstoß des klimaschädlichen Kohlendioxids in den kommenden Jahren wie geplant verringern?
Den Energieunternehmen und der Bundesregierung ist es gelungen, mehr Erdgas von anderen Lieferanten zu beschaffen. Außerdem sollen die erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden. Gelingt dies, sollte die Transformation zur Klimaneutralität auch ohne Kernkraftwerke zu bewältigen sein.
Halten Sie die Planungen der Bundesregierung für die kommenden Jahrzehnte insgesamt für plausibel, etwa das Ziel, 2030 schon 80 Prozent des Stroms mit erneuerbarer Energie zu produzieren?
Das ist eine große Herausforderung. Sorgen bereiten mir nach wie vor die langwierigen Planungsverfahren, die den Ausbau der Windenergie an Land verzögern. Zwar hat die Bundesregierung mittlerweile viele Maßnahmen eingeleitet, um die Sache zu beschleunigen. Ob diese jedoch die gewünschte Wirkung entfalten, bleibt abzuwarten. Es könnte etwa passieren, dass die versuchte Vereinfachung des Natur- und Artenschutzes wieder zu Klagen und zeitraubenden Prozessen führt.
Das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 erfordert ungefähr die Verdoppelung der deutschen Stromproduktion, die Versechsfachung der Leistung der hiesigen Solarkraftwerke und die Verdreifachung der Leistung der Windkraftwerke an Land. Halten Sie das für realistisch?
Ich halte es für schwierig, aber nicht für unmöglich. Gegen den starken Ausbau der Windanlagen an Land gibt es nach wie vor bei vielen Menschen Vorbehalte. Einfacher ist es dagegen bei der Solarenergie. Eine größere Rolle sollte auch die Energieeffizienz spielen: Strom, der nicht verbraucht wird, muss man nicht produzieren. Trotz all dieser Vorhaben wird Deutschland aber auch in Zukunft große Mengen Energie importieren müssen, etwa Wasserstoff.
Kleinere Industriefirmen zahlen momentan um die 40 Cent für eine Kilowattstunde Strom – doppelt so viel wie 2021. Die Großindustrie profitiert schon von deutlichen Rabatten. Ist es dann trotzdem nötig, die Energiekosten für die Wirtschaft zu senken?
Wir müssen uns fragen, was möglich ist. Wir werden es nicht schaffen, die hiesigen Energiekosten auf US-Niveau zu drücken. Bisher konnten viele Unternehmen diesen Nachteil dadurch ausgleichen, dass sie energieeffizienter arbeiten als ihre internationalen Konkurrenten. In der aktuellen Krise ist der Kostennachteil gegenüber den USA jedoch weiter gestiegen. Wir werden versuchen müssen, die Stromkosten durch Investitionen in erneuerbare Energien zu senken und die Energieeffizienz weiter zu erhöhen. Ob wir allerdings damit alle energieintensiven Unternehmen in Deutschland werden halten können, ist durchaus nicht sicher.
Manche Unternehmen und ihre Verbände fordern einen sogenannten Industriestrompreis. Was heißt das?
Dahinter steht der Wunsch, der Staat könne den Strompreis für Unternehmen beispielsweise auf 4 Cent pro Kilowattstunde reduzieren. Weil diese Größenordnung deutlich unter dem Marktpreis für Strom liegt, müsste der Staat den Preis aber massiv subventionieren. Das würde große Summen aus Steuergeldern kosten, die entweder die Privathaushalte oder die Wirtschaft oder beide aufbringen müssten. Ein sogenannter Industriestrompreis erscheint mir deshalb kaum realisierbar.
Dennoch arbeitet das Bundeswirtschaftsministerium aktuell an bestimmten Vergünstigungen. Stichwörter sind sogenannte Differenzverträge und PPA. Was ist darunter zu verstehen?
Im Rahmen von Differenzverträgen können beispielsweise Stahlerzeuger vorübergehend staatliche Beihilfen erhalten, wenn sie von Kohle auf teuren grünen Wasserstoff umstellen. PPAs – Power Purchase Agreements – sind Verträge etwa zwischen Windparks und Industriefirmen, die diesen direkte günstige Stromlieferungen garantieren. Beide Instrumente können sinnvoll sein, stellen aber Lösungen für spezielle Fälle dar, die nichts mit einer flächendeckenden Subventionierung der Strompreise zu tun haben.
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