Ideologien und kognitive Fähigkeiten: Den Tunnel überwinden
Je überzeugter wir sind, dass unsere Haltung die einzig richtige ist, umso schlechter steht es wohl um unsere kognitiven Fähigkeiten, sagt eine Studie.
V or ein paar Wochen beendete ich eine meiner engsten Freundschaften via WhatsApp. Thema war das Berliner Antidiskriminierungsgesetz. Meine Freundin war dagegen, ich dafür. Es ging hin und her, bis sie schrieb, das Gesetz diskriminiere die Polizei – und das sei genauso schlimm wie die Diskriminierung von Minderheiten wie BPoCs. Ich erstarrte. Sie verglich die Staatsgewalt mit rassistisch diskriminierten Minderheiten? Sie, die sich leidenschaftlich gegen Rassismus einsetzt? Ich sah nur noch diesen einen Satz.
Meine Freundin sah ich nicht mehr. Ich schrieb, dass ich ihr nichts mehr zu sagen hätte. Später fragte ich mich: So falsch ich ihre Aussage fand, warum hörte ich meiner Freundin nicht mehr zu? Warum verneinte ich, dass sie, genau wie ich, aus mehr besteht als nur aus einer einzigen Haltung, einem einzigen Satz?
Du siehst es wie ich oder du stehst auf der falschen Seite – so führen wir viele Diskussionen. Etwas ist richtig oder falsch. Ist kapitalistisch oder eben, was sonst, kommunistisch. Man nimmt die Polizei in Schutz oder man ist, logisch, gleich ganz gegen Polizei und Staat. Du bist entweder gegen Abtreibung oder, klar, du unterstützt Mord. Israelis oder Palästinenser. Gesundheit oder Wirtschaft. Freund oder Feind. Rechts oder links. Es gibt nichts dazwischen. Unsere Oder-Reihe ist endlos.
Zu diesem Tunnelblick gibt es psychologische Korrelate. In einer Studie der Universität Cambridge wurde die kognitive Flexibilität US-amerikanischer Studienteilnehmender untersucht. Ergebnis: Wer sich stärker an eine Ideologie, an eine Idee band, hatte auch tendenziell schlechtere kognitive Fähigkeiten bei der allgemeinen Verarbeitung von Informationen. Frei interpretiert könnte man sagen: Je mehr wir überzeugt sind, dass unsere Haltung die einzig richtige ist, umso stärker unser Tunnelblick, umso erstarrter unser Geist.
Nicht im Tunnel verschwinden
Heißt das, dass wir nicht für unsere Überzeugungen einstehen sollen? Dass wir akzeptieren sollen, dass sich Dinge nicht zum Besseren verändern? Nein. Im Gegenteil. Wenn wir uns einfangen können in dem Moment, in dem wir drohen im Tunnel zu verschwinden, weitet sich unsere Wahrnehmung. Wir haben mehr Möglichkeiten zu reagieren, zu überzeugen, nicht weniger. Wir haben Zugang zu all unseren intellektuellen Ressourcen. Unser Geist bleibt wach, anstatt im Oder-Land zu verschwinden.
Nichts davon gilt für menschenverachtende, rechtsextreme Ideologien; bei Menschen, die diesen anhängen, ist die Identifizierung mit der Idee so vollkommen, dass sich die kognitiven Fähigkeiten verabschiedet zu haben scheinen. Überhaupt behaupte ich, dass die kognitive Einengung rechts stärker ist als links. Oder ist das meine eigene kognitive Einengung?
Meine Freundin und ich haben uns vor Kurzem, nach langer Funkstille, wieder getroffen. Wir haben auch über das Antidiskriminierungsgesetz gesprochen. Ohne im Tunnel zu verschwinden. Es war gut.
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