Hilfswerk-Sprecherin zu Vorwürfen: „UNRWA trägt zur Stabilität bei“

Nach Terrorvorwürfen haben Länder wie Deutschland die Zahlungen an das Hilfswerk gestoppt. UNRWA-Sprecherin warnt vor den Folgen – nicht nur für Gaza.

Mehrer protestierende Frauen schlagen mit Händen an eine Wand, auf der das Logo der UNRWA abgebildet ist

„Das Ausmaß der Verzweiflung ist sehr groß“: Protest gegen die Kürzung von UNRWA-Hilfsprogrammen Ende Januar in Gaza Foto: Ashraf Amra/dpa

taz: Frau Touma, sprechen wir über die jüngsten Anschuldigungen gegen das UN-Hilfswerk für palästinensische Geflüchtete. 12 UNRWA-Mitarbeiter sollen am Massaker der Hamas vom 7. Oktober beteiligt gewesen sein. Wie begegnet das UNRWA den Vorwürfen?

Juliette Touma: Als die Vorwürfe aufkamen, waren wir die Ersten, die sich damit befassten und eine Erklärung herausgaben – noch vor Veröffentlichung jeglicher Medienberichte. Die Anschuldigungen waren uns während eines Treffens zwischen israelischen Behörden und dem UNRWA-Generalkommissar am 18. Januar zugetragen worden. Als wir diese sehr schwerwiegenden Anschuldigungen erhielten, überprüfte der Generalkommissar diese Informationen. Wir konnten letztlich bestätigen, dass es sich bei den 12 Mitarbeitern, die an dem schrecklichen Angriff auf Israel am 7. Oktober angeblich beteiligt waren, tatsächlich um UNRWA-Mitarbeiter handelt. Anschließend flog er nach New York, wo er sich mit UN-Generalsekretär António Guterres traf. Er informierte ihn und einige unserer größten Geber über diese Anschuldigungen. Er forderte eine unabhängige Untersuchung durch eine der höchsten UN-Untersuchungsinstanzen. Und er beschloss, den Vertrag der betreffenden Mitarbeiter sofort zu kündigen.

Eine andere Zahl besagt, dass etwa zehn Prozent der 13.000 UNRWA-Mitarbeiter in irgendeiner Weise mit der Hamas verbunden sein sollen. Stimmt das?

Wir haben von dieser ebenfalls schwerwiegenden Anschuldigung aus den Medien erfahren. Als die israelischen Behörden uns über die 12 Mitarbeiter informierten, wurde diese Zahl nicht genannt. Das UNRWA legt jedes Jahr eine Liste aller Mitarbeitenden vor, die in der gesamten Region für uns arbeiten. Also überall, wo wir tätig sind – auch in Jordanien, Libanon, Syrien. Im Westjordanland und in Gaza übermitteln wir die Liste unter anderem auch der israelischen Regierung als Besatzungsmacht, das letzte Mal im Mai 2023. UNRWA hat von der israelischen Regierung darauf nie eine Antwort erhalten.

Welche Ergebnisse erwarten Sie sich von der unabhängigen Untersuchung?

Im Moment konzentrieren wir uns auf das Überleben von UNRWA. Dies hängt direkt mit dem Überleben der Menschen zusammen, denen wir helfen, einschließlich der zwei Millionen in Gaza, die auf UNRWA angewiesen sind.

ist seit September 2022 Pressesprecherin des UNRWA mit Sitz in Jordanien. Davor war sie bereits in verschiedenen anderen Funktionen für die Vereinten Nationen im Einsatz.

Deutschland, die USA und mehrere andere UNRWA-Geberländer haben ihre Finanzierung vorerst eingestellt. Welche Auswirkungen wird das haben?

Die finanzielle Unterstützung kommt direkt den Familien zu. Über eine Million Menschen in Gaza suchen derzeit Schutz in unseren Einrichtungen. Wir koordinieren die wenigen Lastwagen, die Hilfsgüter nach Gaza bringen. Wir verteilen Lebensmittel und Medikamente. Wir setzen mobile medizinische Teams ein, die Schwangere und Ältere versorgen. Bieten psychologische Beratung. Kurz, wir sind der größte humanitäre Akteur in Gaza. Wenn die Finanzierung ausbleibt, steht das Leben von 2 Millionen Menschen in Gaza auf dem Spiel. Ohne finanzielle Unterstützung werden auch Kinder in Jordanien, Syrien und im Westjordanland ihrer Bildung beraubt. Das UNRWA trägt zur Stabilität in einem Pulverfass bei. Derzeit steht es in Flammen.

Sie waren jüngst selbst in Gaza. Wie ist die Lage vor Ort?

Ich bin gerade erst zurückgekehrt, es war mein zweiter Besuch seit Beginn des Krieges. Es ist eine überwältigende Situation. Der Großteil der Menschen ist vertrieben. Konkret bedeutet das, dass sie gezwungen sind, ihre Zufluchtsorte immer wieder zu verlassen. Einige von ihnen sind in den letzten Monaten bis zu zehnmal geflohen und noch immer nicht sicher. Die meisten sind nach Rafah geflohen. Unseren Schätzungen zufolge ist die Bevölkerungszahl dort sechsmal so hoch wie vor dem Krieg. Rafah ist eine der ärmsten Städte in Gaza und mehr als überbevölkert. Es ist ein Meer von Menschen, die sich auf jeden freien Platz drängen, den sie finden – am Strand, an der Grenze zu Ägypten, mitten auf der Straße. Unsere Notunterkünfte sind extrem überfüllt. Menschen haben angefangen, kleine Hüttenstrukturen aufzubauen, die lediglich mit Plastikplanen abgedeckt sind. Das Ausmaß der Verzweiflung ist sehr groß.

Was berichten Ihnen die Menschen vor Ort?

Die meisten befinden sich in einer Art Autopilot, im Überlebensmodus. Sie sind vor allem darauf fixiert, Nahrung, Wasser und einen Platz zum Bleiben zu finden. Manche schlafen in Autos, manche im Sand, manche auf Beton. Es gibt keinen sicheren Ort in Gaza. Die Menschen stehen immer noch unter Schock, wegen des Ausmaßes und der Geschwindigkeit des Krieges.

Mehr als die Hälfte des Gazastreifens ist zerstört. Welche Rolle spielt das UNRWA bei Wiederaufbau- und Bergungsarbeiten?

Wir kümmern uns nicht um die Bergung von Leichen. Was den Wiederaufbau angeht, so haben wir in früheren Kriegen eine aktive Rolle übernommen. Im Moment konzentrieren wir uns auf humanitäre Hilfe.

Was erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft?

Wie haben seit Beginn dieses Krieges über 240 Angriffe auf unsere Einrichtungen, einschließlich Schulen, verzeichnet. Es muss einen sofortigen, humanitären Waffenstillstand geben. In diesem Krieg gibt es keine Gewinner. Es gibt nur Trauer, Verlust, mehr Zerstörung, mehr Tote. Es sollten auch mehr humanitäre Lieferungen erfolgen. Die Länder, die die UNRWA-Finanzierung ausgesetzt haben, sollten dies überdenken. Das Leben von Millionen von Menschen hängt davon ab.

Anfang dieser Woche tauchten Bilder eines Hilfstransporters in Gaza auf, der offenbar von Israel beschossen wurde. Was ist passiert?

Israel versucht, den Zugang zu den wenigen Hilfsgütern, die UNRWA in den Gazastreifen bringen will, zu verhindern. Die Gefahr einer Hungersnot ist extrem hoch. Es ist das dritte Mal, dass ein Hilfsgüter-Transporter ins Visier genommen wurde.

Welche Erwartung haben Sie an Deutschland?

Deutschland ist eines der großzügigsten Geberländer der Arbeit des UNRWA für das palästinensische Volk. Es ist auch an unserer Arbeit vor Ort beteiligt. Dank Deutschland können wir Kinder in Schulen ausbilden und auf Krisen reagieren. Gaza ist die schlimmste und vehementeste Krise. Aber auch im Südlibanon, im Westjordanland und in Syrien ist die Lage verheerend. Wir hoffen, dass Deutschland die Finanzierung des Hilfswerks wiederaufnimmt. Millionen von Menschen sind auf diese Unterstützung angewiesen.

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