Grüner Landrat Jens Marco Scherf: Der Lanz-Rat
Jens Marco Scherf ist Landrat in Miltenberg in Unterfranken. Beim Thema Geflüchtete warnt der Grüne vor einer Überlastung der Kommunen – auch in Talkshows. Seine Partei müsse sich ehrlich machen.
V ielleicht ist es ja ein Zeichen von Umsicht und Verantwortung, Alarm zu rufen, bevor wirklich Land unter ist. Die Flüchtlingsnotunterkunft im unterfränkischen Röllfeld, Landkreis Miltenberg, am Rande eines Wohngebiets, zwischen freiwilliger Feuerwehr und einem Sportgelände, macht jedenfalls nicht den Eindruck, aus allen Nähten zu platzen. Keine Container, keine Zeltstädte weit und breit. Man wäre fast dran vorbeigefahren.
Jens Marco Scherf öffnet die Tür zu der ehemaligen Grundschule. Mit seinen wuscheligen Haaren und dem Achttagebart würde man ihn eher für den Leiter der Einrichtung halten als für den Landrat.
Scherf hat Alarm gerufen – im zweiten Jahr des Kriegs in der Ukraine, und in einer Welt, in der über hundert Millionen Menschen auf der Flucht sind. Er hat nicht polemisch gesagt: „Wir schaffen das nicht.“ Oder: „Wir können nicht allen helfen“, wie es der mittlerweile Ex-Grüne Boris Palmer formulierte. Aber Scherf, der einzige grüne Landrat Bayerns, gab die Stimmung an der Basis schon früh nach oben weiter: Dass die Ehrenamtlichen nicht mehr können, dass er keine Immobilien mehr für die Erstaufnahme findet, und dass Schulen und Integrationskurse langsam überlaufen.
Er stieß auf taube Ohren, sagt er, bis er aus Sicht der Grünen zum Äußersten ging, sich mit Boris Palmer verbündete und in der Talkshow von Markus Lanz zu Gast war. Danach kannte man Jens Marco Scherf bundesweit.
In der Geflüchteten-Notaufnahme in Röllfeld geht an diesem Tag im März aber augenscheinlich alles seinen ruhigen Gang. 60 Menschen aus Afghanistan leben hier. Unten im Parterre haben zwei Familien einen eigenen Bereich, oben leben die jungen Männer in den alten Klassenzimmern mit sechs oder acht Betten. Die Jungs würden auch mit anpacken, wenn es was zu tun gibt, sagen die Mitarbeiter.
Die Haltestelle für den Schulbus, die wegen Befürchtungen der Anwohner vom Eingang der Unterkunft ein paar Meter die Straße runter verlegt worden ist, soll wieder zurückkommen. Es gibt hier keinen Ärger, weder mit Gegnern noch mit den Bewohnern. Alles kein Problem also?
Vielleicht nur auf den ersten Blick. Scherf lässt beim Gespräch dem Leiter der Notaufnahme Mathias Kunz den Vortritt: Der berichtet, dass man keine Mitarbeiter zur Betreuung der Notaufnahme findet. „Sachbearbeiter Asyl“, das will keiner mehr werden.
Auch die Zahl der Ehrenamtlichen bricht weg. Seit Corona, aber auch, weil die meisten Engagierten seit 2014 dabei sind und langsam nicht mehr können. Kunz und seine Mitarbeiterin leiten die Einrichtung. Neben den Security-Männern sind sie die Einzigen, die rund um die Uhr zuständig sind.
Die Dauerbelastung sei das Problem, sagt Scherf
Der Landkreis Miltenberg im nordwestlichen Zipfel von Bayern hat 130.000 Einwohner. 3.000 Geflüchtete sind hier mit Wohnungen und Arbeitsplätzen zu versorgen, Helfer müssen sie auf Behördengänge begleiten. 700 bis 800 der Geflüchteten sind noch aus den Jahren 2014 und 2015 hier, längst nicht alle von ihnen haben Arbeit und eigenen Wohnraum.
1.600 Geflüchtete kamen vergangenes Jahr allein aus der Ukraine. Im Moment kommen jeden Monat 30 bis 40 Geflüchtete dazu. Zurzeit vor allem aus Ländern wie Afghanistan. Kein Politiker, weder von der CSU noch von den Grünen, mache ihm Hoffnung, dass der Druck in den nächsten Monaten wieder abnehme, sagt Scherf. Die Dauerbelastung sei das Problem.
Es fehle Personal, Kita-Plätze, Lehrerinnen, Wohnungen für die Anschlussunterbringung anerkannter Geflüchteter. Engpässe, unter denen auch die deutsche Bevölkerung leide. Kein Bürgermeister sei unter diesen Bedingungen mehr bereit, eine weitere Unterbringung aufzumachen. Selbst wenn es bisher – wie in Röllfeld – problemlos läuft.
Neulich war Jens Marco Scherf in einer Bürgerversammlung. Es ging um eine kleine Einrichtung, wenige Familien in einem Privathaus sollten in einem kleinen Ort im Landkreis untergebracht werden. Es gab viel Zorn, viele Vorurteile. Erst hätten sich die Bürger gesorgt, was alles passieren könnte. Als Scherf ihnen versicherte, dass die Polizei regelmäßig präsent sein werde, hieß es, das wollen wir auch nicht, dass bei uns im Ort ständig die Polizei rumfährt.
„Das ist der Unterschied“, sagt Scherf. „2015 kippte die Stimmung ins Positive, jetzt ist es umgekehrt.“
An der Parteispitze der Grünen wolle das keiner hören, sagt Scherf. Das habe sich erst geändert, als er zu Markus Lanz eingeladen wurde. In der Sendung beschrieb Scherf plastisch die Situation in seinem Landkreis. Er sagte, dass er ein schlechtes Gewissen habe, junge Afghanen monatelang untätig in der Notunterkunft festhalten zu müssen, weil er keine Wohnungen für sie habe. Und auch, weil seinem Landkreis die Kapazitäten für Integrationsmaßnahmen fehlten.
Jens Marco Scherf, Landrat in Miltenberg
Er sagte, dass er gerade nach der Pandemie auf alle Fälle vermeiden wolle, wieder Turnhallen zu Notunterkünften zu machen. Kinder und Jugendliche hätten die vergangenen zwei Jahre auf Sport und so viel anderes verzichten müssen.
Als Lanz ihn fragte, ob er denn für Zäune an den EU-Außengrenzen sei, um den Zustrom zu regulieren, antwortete er: Wenn es das wirkungsvolle Mittel wäre, dann „hätte ich damit keine Probleme“. „Es ist doch nichts ethisch Verwerfliches daran, dass wir eine Kontrolle darüber haben wollen, wer in die Europäische Union hinein will. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit für ein staatliches Gebilde.“
Scherf entwirft die Idee von „Aufenthaltszonen“ an den EU-Grenzen oder Flüchtlingszentren in Krisenregionen, die „wirklich menschenwürdige Bedingungen bieten“. Dann würden nicht mehr nur junge Männer kommen, die die harten und gefährlichen Flüchtlingswege überstehen, sondern auch Frauen, Kinder und Familien.
Scherfs Botschaften von der Basis sind für Grüne unbequem. Sie haben schon vor 30 Jahren im Bundestag gegen den Asylkompromiss gestimmt. 2015 flogen der Kanzlerin Merkel dann auch grüne Herzen zu, als sie sagte, wenn man gegenüber Flüchtlingen kein freundliches Gesicht zeigen könne, dann sei das nicht mehr ihr Land. Als wenige Wochen später still und leise die Balkanroute geschlossen wurde, gab es dazu aber auch von den Grünen wenig Kritik.
Jetzt sind die Grünen Teil der Bundesregierung und im Kabinett liegt ein Vorschlag von Nancy Faeser, Asylverfahren europaweit an die Außengrenzen zu verlegen. Letztlich der alte Plan von Horst Seehofer, der an der SPD in der großen Koalition gescheitert ist. Kontrollen an EU-Außengrenzen, das steht für viele Grüne eher für illegale Pushbacks und Knüppeln als für rechtmäßige Verfahren. Jens Marco Scherf aber schreibt, als der Faeser-Vorschlag bekannt wird, per SMS: „Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung Struktur, Ordnung und Steuerung. Steter Tropfen höhlt doch den Stein.“
Das Flüchtlingsthema ist für die Grünen gefährlich, warnt Ansgar Stich. Er ist Schulleiter eines Gymnasiums in Miltenberg. Hinter seinem Schreibtisch sieht man durchs Fenster eine neue Sporthalle, die er auch nur ungern für Geflüchtete bereitstellen würde, wie er sagt. Im Herbst will Stich für die Grünen in den Bayerischen Landtag einziehen, Jens Marco Scherf kennt er schon lange, sie seien befreundet, sagt er.
Sorge um die grüne Identität
Waffenlieferungen an die Ukraine, Kohleverstromung und LNG-Terminals im Naturschutzgebiet vor der Küste – im Moment seien die Grünen in der Bundesregierung ständig gezwungen, Kehrtwenden bei ihren Kernthemen zu machen. Das könnte eine Entwicklung sein wie bei der CDU in den Merkeljahren, sagt Stich. Man verliere dann die Identität. So ein Kernthema sei auch Asyl und Migration. Aber am Ende ist Stich Scherfs Meinung: „Wir müssen die Migration steuern, da hat Jens Marco schon recht.“
Scherf ist die Identität der Partei nicht ganz so wichtig wie dem Landtagskandidaten Stich. Er ist Anhänger der Theorie, dass schmerzhafte Reformen immer nur die Parteien aus dem jeweils eigenen Lager durchsetzen können: Schröder die Hartz IV-Reformen, Merkel den Atomausstieg und jetzt halt die Grünen Reformen in der Flüchtlingspolitik. In Krisenzeiten könne man nicht an Grundsätzen festhalten, man müsse Probleme lösen. Scherf gibt zu, seine Warnrufe verschafften ihm hier im Landkreis Spielraum gegenüber den Bürgermeistern, wenn er neue Unterkünfte brauche. Er kann sagen: Seht her, ich hab ja alles versucht. Sogar dem Kanzler hab ich geschrieben.
Man könnte das Populismus nennen. Oder die ausgefuchste Doppelstrategie eines Landrats in Krisenzeiten.
Ein linker Grüner war Scherf nie. Der Vater Unternehmer, die Mutter Beamtin mit kommunistischer Vergangenheit, beide später mit CSU-Parteibuch, schickten sie den Sohn, als er sich für Politik zu interessieren begann, Mitte der 80er zur Jungen Union. Es war die Zeit der Schrecken vor HIV und der Forderungen des damaligen Münchener Gesundheitsreferenten Peter Gauweiler, Risikogruppen zu kasernieren. Scherf war davon abgestoßen und bald wieder weg.
Später im Lehramtsstudium in Würzburg studiert er Bundestagsreden. Die West-Grünen waren gerade aus dem Bundestag geflogen. Scherf begeisterte sich für die Reden der Abgeordneten der Ost-Bürgerrechtler von Bündnis 90, wie Konrad Weiß und Werner Schulz. „Die haben mich politisch sozialisiert“, sagt er.
Als er nach Jahren in der Kommunalpolitik 2014 zum Landrat gewählt wurde, war das eine ziemliche Überraschung. In Bayern werden Landräte vom Volk gewählt. Der Landkreis ist ziemlich zersplittert, der grüne Kandidat, als Schulleiter und Kreisrat gut bekannt, machte in den über 80 Städtchen und Dörfern Haustürwahlkampf. Beim zweiten Mal trat er mit dem Slogan „Aus Liebe zur Heimat“ auf dezentem blau-hellgrünen Hintergrund an. Scherf sagt selbst, über Würzburg während des Studiums sei er nie hinausgekommen. Ein echter Kommunalpolitiker also, der wenig mit den Statussymbolen früherer Landräte anfangen kann. Dem Fahrer seines Vorgängers hat er eine andere Aufgabe im Landratsamt gegeben, von seinem Heimatort Wörth fährt er jeden Tag mit dem Zug ins Büro nach Miltenberg.
Nicht seine Wortwahl
Eine Sitzung des grünen Kreisverbands Ende März in der griechischen Gaststätte Zorbas, nicht weit vom Landratsamt in Miltenberg. Die Mitglieder, die meisten über 50, versammeln sich im Nebenzimmer bei Gyros und Apfelwein. Vegan ist hier nur eine Portion Pommes. Die Grüne Jugend gibt es nicht mehr im Landkreis, die seien zum Studieren in Großstädte gegangen, heißt es.
Die Mitglieder des Kreisverbands diskutieren die Perspektiven für die bayerische Landtagswahl. Eigentlich warten alle auf den „Jens Marco“, wie sie ihn nennen. Der muss vorher noch irgendeine Ehrenmedaille überreichen. Seit seinem Auftritt beim ZDF-Talk hat der Landrat hier einen neuen Spitznamen: „der Lanz-Rat“. Dabei schwingt eine Mischung aus Spott und Stolz mit. Die Stimmung ist nicht besonders kritisch gegenüber dem Landrat. Man müsse beim Thema Flüchtlinge das Wasser von den Mühlen der AfD nehmen, sagt ein Mitglied. Erst als er für den Wahlkampf Diskussionen mit Boris Palmer vorschlägt, gibt es Widerspruch.
Scherf kommt reingerauscht. Es sei schön gewesen, bei der Ehrung mal über etwas anderes als Flüchtlinge zu sprechen, sagt er. „Selber schuld“, ruft jemand, eher im Scherz. Dann wird es ernst, Scherf erinnert noch einmal an das letzte Jahr. Als er am 24. Februar 2022 die Meldung von der russischen Offensive gegen die Ukraine gelesen habe, habe er noch aus der Versammlung der Kreissparkasse heraus erste Maßnahmen zur Vorbereitung auf Flüchtlinge ergriffen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Seitdem seien er und seine Leute nicht mehr aus dem Krisenmodus rausgekommen. Scherf redet unverstellt. Er sagt: „Leute, ganz im Ernst …“, und dass ihm manchmal „der Arsch auf Grundeis gehe“, wenn er sehe, wie in Ländern wie Schweden oder Dänemark Rechtsextreme an der Regierung beteiligt werden. „Wir dürfen den Rechten das Thema nicht überlassen.“ Dafür gibt es viel Zustimmung an diesem Abend.
Die einzige wirklich kritische Wortmeldung an diesem Abend kommt von einem Mann etwas im Abseits. Armin Schneidler ist nicht mal Parteimitglied. Schneidler war mal Betriebsrat in einem Unternehmen in der Region, heute engagiert er sich mit seiner Frau für Flüchtlinge. Asylverfahren an Außengrenzen, wie sich Scherf das denn vorstelle? Er denke da an die Zustände wie im Lager Moria.
Mit welchen EU-Nachbarn er denn die Rückführung organisieren wolle? Mit Libyen, Syrien oder Iran? Er habe Freunde bei der Seenotrettung, die könnten von der Küstenwache in Libyen berichten. Schneidler sagt, eigentlich habe er eine sehr gute Meinung vom Miltenberger Landrat. Aber der Auftritt bei Lanz habe ihn geschockt. „Wenn ein Grüner sagt, das Boot ist voll, dann ist das einfach fatal.“
Jens Marco Scherf wirkt ein wenig betroffen. Das sei nicht seine Wortwahl gewesen, sagt er. Und dass es ihm darum gehe, Antworten zu finden. Alles andere würde nur den Rechten nutzen. Die Umfragen drei Wochen später scheinen Scherf recht zu geben. Die AfD liegt plötzlich bundesweit gleichauf mit den Grünen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene