Göring-Eckardt über Ostdeutschland: „Die Bösartigkeit hat zugenommen“

Zehn Tage lang radelte Katrin Göring-Eckardt durch Ostdeutschland. Der Grünen-Politikerin schlug dabei Hass entgegen – aber nicht nur. Ein Gespräch.

Katrin Göring-Eckardt auf dem Fahrrad

„Das Gefühl, ich darf nicht weichen“: Grünen-Politikerin Göring-Eckardt Mitte Juli in Sachsen Foto: Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance

taz: Frau Göring-Eckardt, Sie haben am Wochenende eine zehntägige Demokratietour durch Ostdeutschland beendet. Was haben Sie mitgenommen?

Katrin Göring-Eckardt: Vor allen Dingen viele positive Eindrücke von Menschen, die sich engagieren, im Unternehmen oder in der Sozialstation, im Kulturprojekt oder im Kommunalparlament. So viele verteidigen unsere Demokratie, jeden Tag. Aber sie bekommen zu wenig Aufmerksamkeit. Gesehen werden die, die laut sind und dagegen.

Was noch?

57, ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. Aus Thüringen stammend, war sie Teil der DDR-Bürgerbewegung. Seit 1998 sitzt sie für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, zeitweise als Co-Fraktionschefin. Zudem gehörte sie dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland an.

Das Zweite ist, dass es schon sehr viel Sorge um die Demokratie gibt. Einige meinen, dass wir an einem Kipppunkt stehen und dass ganze Landstriche in Ostdeutschland nur wahrgenommen werden, wenn es um die Feinde der Demokratie geht.

Haben Sie selbst eine Zuspitzung des gesellschaftlichen Klimas wahrgenommen?

Ja, es ist schon schärfer geworden. Mehr Menschen, die wahrscheinlich schon vorher rassistische oder antisemitische Einstellungen hatten, sind jetzt auch bereit, entsprechend zu handeln – und sie nehmen für sich in Anspruch, dass sie die Mehrheit seien. Das sind sie aber nicht. Und die Bösartigkeit hat zugenommen.

Die Bösartigkeit?

Ja, zum Beispiel bei einer Demonstration gegen mich in Dessau. Das war keine spontane Kritik von Bürgerinnen und Bürgern. Das war eine gezielte Mobilisierung, die Dia­log verhindern sollte, auf Telegram wurde in rechten Verschwörungskreisen dazu aufgerufen.

Ist das wirklich neu?

Vor ein paar Jahren haben mich Menschen aus der Anonymität des Internets beleidigt, in Dessau haben sie mich von Angesicht zu Angesicht beschimpft: „grüner Abfall“ und Ähnliches. Da ist eine Bösartigkeit spürbar, die gab es vorher so nicht. Mir wird ja gerne vorgeworfen, dass ich mal als Küchenhilfe gearbeitet hatte, damals als junge Frau in der DDR. Sie nutzen den Beruf der Küchenhilfe als Schimpfwort und wollen zugleich für die „kleinen Leute“ sprechen? Das beleidigt doch alle Küchenhilfen, die schwere Arbeit für wenig Geld machen.

Wie war das für Sie, wenn Sie so angegangen wurden?

Ich hatte keine Angst, falls Sie das meinen. Aber ich hatte das Gefühl, ich darf nicht weichen, ich muss jetzt hier stehen bleiben – stellvertretend für die Demokratinnen und Demokraten. Das ist mein Job. Ich hab angeboten zu reden, aber das wollten die meisten nicht. Da waren ein, zwei Leute, die riefen: „Lasst sie doch mal reden“, aber dann war schon wieder Gebrüll. Hinter mir war ein Restaurant, auf der Terrasse saßen viele Menschen, die wollten ihren Sommerabend genießen und hätten sagen können, dass sie mein Auftritt und die Demo dagegen stört. Aber ihre Reaktion war: Daumen hoch. Auf dem Rückweg konnte ich kurz mit ihnen sprechen, sie haben gesagt: „Wir finden gut, dass Sie das machen.“

Sind Sie auch spontan angepöbelt worden oder nur bei organisierten Demos?

Meine Erfahrung ist: Pöbelei ist organisiert. Auf meiner Tour hatte ich viele positive Begegnungen. Ich war ja mit dem Fahrrad und der Bahn unterwegs, ich wurde oft angesprochen. Auch mit Kritik an der Ampel, etwa: Wir sehen das mit dem Klima anders als ihr. Oder: Macht euch mal Gedanken über die Pflege, das ist alles zu teuer, das können wir nicht stemmen. Das war mitunter kontrovers, aber anständig. Das waren gute Gespräche.

Die Grünen sind in Ostdeutschland besonders unbeliebt. Wie erklären Sie sich das?

Zum einen gibt es eine Veränderungsmüdigkeit und wir stehen für Veränderung. Und dann sind wir, gesellschaftlich betrachtet, die fortschrittlichste Partei. Wir setzen uns für Zusammenhalt ein, für Klimaschutz, für den Schutz von Minderheiten. Manche möchten aber lieber in ihrer Bubble bleiben. Hinzu kommen strukturelle Gründe: etwa, dass es im Osten weniger Großstädte gibt, wo Bündnisgrüne gewöhnlich verankerter sind, oder, dass Leute, die mobil sind, wegziehen. Aber diese Ablehnung, die manchmal in Hass umschlägt, ist neu. Da kommt das, was im Netz tobt, in der Realität zum Vorschein. Dass uns Friedrich Merz zum Hauptgegner erklärt hat, wirkt für manche dort wie eine Bestätigung.

Es gibt die These, dass die Grünen mit ihrer Liberalität und ihrem Veränderungsdrang zum Aufstieg der AfD beigetragen haben – und das aktuelle Umfragetief auch auf Robert Habecks Heizungsgesetz zurückzuführen ist. Was halten Sie davon?

Ganz ehrlich: gar nichts. Das ist wirklich zu einfach. Natürlich hätte man beim Heizungsgesetz vieles besser machen können. Man hätte auch früher daran denken können, was das alles für Leute bedeutet mit einem geringen Einkommen, die ein Häuschen haben. Davon haben wir in Ostdeutschland besonders viele. Hier gibt es etwa eine Million Haushalte mit Wohneigentum, die Einkommen unter 40.000 Euro im Jahr haben. Der ursprüngliche Vorschlag sah eine einkommensabhängige Förderung vor, die ist im Kabinett erst einmal gestrichen worden …

… was die Verunsicherung verstärkte.

Wir mussten die Förderung danach wieder reinverhandeln. Aber: Man muss, wenn man sich über ein Heizungsgesetz aufregt, nicht AfD wählen. Die AfD bietet keinerlei Lösung für den Alltag der Menschen. Sie will die Renten kürzen und mit einem EU-Austritt die Wirtschaft massiv schädigen. Das soll den Leuten helfen? Mit Sicherheit nicht. Je mehr andere Parteien wie CDU, CSU oder in Teilen auch die Linkspartei nachreden, was die AfD sagt, umso mehr wird dann das Original gewählt.

Welche Rolle spielen die soziale Frage und die strukturellen Unterschiede zwischen Ost und West?

Für den Zusammenhalt in der Gesellschaft ist die Frage, ob es gerecht zugeht, sehr relevant. Darüber müssen wir uns Gedanken machen. Es geht nicht, dass sehr Vermögende viel zu wenig zu den gesellschaftlichen Strukturen beitragen. Ein solider Haushalt ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und wir müssen endlich darüber reden, wie sehr Vermögende ihren gerechten Teil dazu beitragen können. Das bisherige System geht zulasten der hart arbeitenden Allgemeinheit, gerade auch in Ostdeutschland. Dort sind die Einkommen deutlich geringer, es gibt weniger Vermögen, die Renten sind niedriger. Es leben zu viele Menschen in unserem Land, die in Armut und Chancenlosigkeit bleiben.

Was also tun?

Wir müssen uns zusammensetzen und überlegen, gesellschaftlich, politisch; mit Gewerkschaften, mit Kirchen, mit anderen Akteuren. Wir müssen darüber reden, dass wir diesen Ausgleich hinbekommen. Ich fordere seit Jahren eine Vermögensabgabe, einmalig reichen würde das nicht. Wir brauchen einen großen Wurf, der kann aber nur gelingen, wenn es eine ehrliche und offene Debatte gibt.

Dafür sind Sie in der falschen Koalition.

Wir haben die Koalition, die möglich war. Und deswegen glaube ich, dass wir gesellschaftlich darüber reden müssen, nicht nur in der Ampel. Viele Vermögende sagen selbst, dass sich etwas ändern muss.

Die Grünen gelten im Osten als West­partei. Was haben Sie falsch gemacht?

Ich habe lange gesagt, dass wir in den ländlichen Raum gehen müssen. Nicht in jedes Dorf, das schaffen wir nicht, unsere Landesverbände hier sind nicht riesig. Aber zumindest in die Mittelstädte. Ich war auf meiner Tour gerade auch in diesen kleinen und mittleren Städten. Dafür haben sich Leute bei mir bedankt. Da müssen wir mehr hin, auch wenn da nicht mehrere hundert Leute zu einer Veranstaltung kommen, und wir müssen zuhören. Wir sollten Politik vom Land her denken. Wenn es da funktioniert, funktioniert es auch woanders.

Das machen die Grünen aber nicht.

Das machen wir zu wenig. Ich habe zum Beispiel das 49-Euro-Ticket von Herzen unterstützt, aber gleichzeitig fragen sich Leute auf dem Land, wo der Bus nicht fährt, ob sie überhaupt gemeint sind, wo an sie gedacht wird.

Was würden Sie sich von Ihrer Partei wünschen?

Hingehen, zuhören. Hören, was die Leute umtreibt. Mit den Bürgermeistern der kleinen Städte reden. Einer hat mir erzählt, dass seit 15 Jahren ständig was Neues komme, er mit seiner kleinen Kommunalverwaltung komme einfach nicht mehr hinterher. Das zu verstehen, ist wichtig. Bei der Kompliziertheit mancher Regelungen könnten wir aus der Bundespolitik manchmal auch mehr auf die Kompetenzen vor Ort setzen. Und jetzt droht eine riesige zusätzliche Last für die Engagierten: Wenn Christian Lindner als Finanzminister aktuell plant, Haushaltsmittel für die Demokratieförderung zu kürzen, ist das der völlig falsche Ansatz.

Was sagen Sie zu dem, wie die CDU gerade agiert? Etwa zu der doppelten Wende, die Parteichef Friedrich Merz zur Zusammenarbeit mit der AfD im Kommunalen jüngst hingelegt hat?

Er hat ja öfter schon Dinge gesagt und sie am nächsten Tag wieder zurückgenommen. Aber dass er einfach behauptet, es gäbe bei den Aussagen keinen Unterschied, dem kann ich nicht folgen. Ich glaube, dass er das am Wochenende in voller Absicht gesagt hat. Das Signal an alle, die in der CDU mit der AfD liebäugeln oder längst zusammen arbeiten, ist: Ihr habt ab jetzt die Unterstützung des Parteivorsitzenden. Das ist ein qualitativer Unterschied zu den bisherigen festen Prinzipien der Christdemokraten, zu denen viele, die ich schätze und die in den vergangenen Tagen sehr klar in der Ablehnung des Merz-Kurses waren, weiter stehen.

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