Gender-Identität: Ein „Gefühl“ ist das nicht
Wir alle haben eine Geschlechtsidentität – auch cis Menschen. Sie ist ein Grundpfeiler. Sie sind nicht überzeugt? Machen Sie mit mir einen Test.
F ormulierungen wie „fühlt sich als Mann“ oder „empfindet sich als Frau“ sind immer noch sehr verbreitet in Texten über Gender. Diese Formulierungen sind nicht komplett falsch. Aber sie sind irreführend. Geschlecht ist kein Gefühl wie warm, Hunger, einsam. Oft liest man stattdessen den Begriff Gender-Identität oder Geschlechtsidentität. Klingt abstrakt, verkopft. Was ist das? Die Definitionen sind nicht ganz einheitlich, es ist ein psychosoziales Phänomen, in etwa geht es um das innere Bewusstsein, um eine intuitive Zugehörigkeit, die uns prägt.
Geschlechtsidentität ist ein Grundpfeiler unseres Selbstbilds. Nicht nur trans Personen haben sie oder agender, nichtbinäre und genderqueere Personen. Alle haben eine Geschlechtsidentität. Wir bemerken sie aber nur, wenn jemand sie angreift oder infrage stellt. Spielen wir das einmal durch. Achtung, das wird vielleicht unangenehm.
Schritt 1: Tragen Sie bitte ihr Geschlecht ein!
„Ich bin _______________.“
Schritt 2: Streichen Sie es durch. Das, was Sie eingetragen haben, ist leider falsch. Meiner Meinung nach haben Sie unrecht. Ich kann mich irren. Aber ich hätte gern Beweise.
Wenn Sie „ein Mann“ eingetragen haben, dann möchte ich, dass Sie mir beweisen, dass Sie ein richtiger Mann sind. Was ein richtiger Mann ist, darüber gibt es Bücher, Websites und Podcasts, lesen Sie sich ein. Und strengen Sie sich bitte an!
Wenn Sie „eine Frau“ eingetragen haben, dann kann ich Ihnen gleich sagen, das wird nichts. Die korrekte Frau gibt es nicht. Frauen sind immer falsch. Sie sind entweder nicht schön genug, oder wenn sie schön sind, dann sind sie nicht moralisch genug, und wenn sie moralisch sind, sind sie zu spröde – und bis sie all das entzwirbelt haben, sind sie zu alt.
Schritt 3: Hatten Sie eben eine emotionale Reaktion? Zum Beispiel Wut oder Trotz? Wollen Sie mir gerne eine klatschen? Ich hoffe es, denn das wäre ein gesunder Selbstbehauptungsreflex. Ich habe Ihre Geschlechtsidentität angegriffen – ich bitte um Entschuldigung –, das ist demütigend, so sehr, dass wir zu einigem fähig sind, wenn das passiert. Manch ein Mann hat deswegen schon gemordet.
Schritt 4 (optional): Haben Sie oben etwas anderes eingetragen als „Mann“ oder „Frau“? Oder haben Sie das Gefühl, dass Sie diese Übung nicht gebraucht hätten, weil Sie solche Angriffe oft genug im Alltag erleben? Dann sind Sie womöglich trans, agender, nichtbinär oder genderqueer – oder Sie haben mit diesen Gruppen zumindest einiges gemeinsam.
Identität, das sind nicht immer die andern. Geschlechtsidentität haben wir alle, auch cis Menschen. Sie ist kein Gefühl und auch kein Luxusaccessoire. Wenn wir bei trans Personen sagen „fühlt sich als Mann/Frau“, bei cis Personen dagegen „ist ein Mann/eine Frau“, dann klingt das, als wäre unser Erleben von Geschlecht grundverschieden. Dabei ist es ziemlich ähnlich.
🏳️⚧️ SHANTAY. YOU PAY. 🏳️🌈
Auf taz.de finden Sie eine unabhängige, progressive Stimme. Frei zugänglich, ermöglicht von unserer Community. Alle Informationen auf unserer Webseite sind kostenlos verfügbar. Wer es sich aber leisten kann, darf einen kleinen Beitrag leisten. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Einwanderung und Extremismus
Offenheit, aber nicht für Intolerante
Straße wird umbenannt
Berlin streicht endlich das M-Wort
Anschlag auf Pipelines 2022
Tatverdächtiger für Angriff auf Nordstream verhaftet
Erneute Angriffe auf Druschba-Pipeline
Volles Rohr, leeres Rohr!
Koloniale Spuren in Berlin
Umbenennung der „Mohrenstraße“ darf nun doch stattfinden
Grünen-Chef Felix Banaszak
„Ich nenne es radikale Ehrlichkeit“