Archäologie zu Geschlechteridentitäten: Nicht-binäre Wikinger:innen
Ausgrabungen zeigen, dass es vor Tausenden Jahren Menschen gab, bei denen das biologische und das soziale Geschlecht nicht übereinstimmten.
Ein Wikingergrab in Schweden, darin ein Schwert, Lanzen, Schilder, Pfeil und Bogen, sogar zwei Pferde. Eine echte Kriegsausrüstung. Es ist das Grab einer Frau, doch seine Entdecker bestimmten im 19. Jahrhundert, dass das Skelett im Grab ein Mann gewesen sein muss. Man konnte sich keine Wikingerkriegerin vorstellen. Erst über 100 Jahre später beweisen Archäolog:innen, dass es sich um eine Person mit biologisch weiblichem Geschlecht handelt. Doch was erzählt uns die Kriegsausrüstung über das soziale Geschlecht der Person und ihre Rolle in der Gesellschaft?
Die Studie
Beispiele wie dieses belegen: Schon in früheren Gesellschaften kann es Menschen gegeben haben, bei denen das biologische Geschlecht nicht mit der gelebten Geschlechtsidentität übereinstimmt. Bisher wurden solche Funde als Einzelfälle abgetan. Doch ein Forschungsteam der Georg-August-Universität Göttingen ist dem in einer Studie nun nachgegangen: Wie binär waren die Geschlechtervorstellungen prähistorischer Kulturen? Die Ergebnisse sind im Mai 2023 in der Fachzeitschrift Cambridge Archaeological Journal erschienen.
Die Forscher:innen haben Geschlechtsdaten von 1.252 Gräbern aus der Neusteinzeit und Bronzezeit, etwa 5500 v. Chr. bis 1200 v. Chr., auf Binarität untersucht. Bei allen Gräbern, von denen man sowohl das biologische wie auch soziale Geschlecht bestimmen konnte, untersuchten sie, wie häufig die beiden Geschlechter miteinander übereinstimmen und wie häufig sie sich gegensätzlich sind. Es zeigt sich: Die gelebte Geschlechtsidentität folgt zum Großteil dem biologischen Geschlecht. Doch in 10 Prozent der Fälle, bei denen beide Geschlechter identifiziert werden konnten, stimmten diese nicht überein.
Die Bestimmung der Geschlechter ist fehleranfällig und manchmal auch nur schwer möglich – sowohl, was die Identifizierung des biologischen Geschlechts anhand von Knochen betrifft, als auch die des sozialen Geschlechts, das man beispielsweise anhand der Gegenstände im Grab bestimmt. Um das zu ändern, gibt es zum Teil schon neue Analysemethoden, beispielsweise die Analyse von Proteinen im Zahnschmelz.
Was bringt’s?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die Studie ermöglicht es, mit weiterer Forschung non-binäre Geschlechteridentitäten in prähistorischen Kulturen in den Blick zu nehmen. Denn sie zeigt, dass die Fälle keine statistischen Ausnahmen waren, sondern eine signifikante Minderheit. Und macht deutlich, wie Wissenschaftler:innen in der Vergangenheit eine Kultur durch die Brille binärer Geschlechtervorstellungen interpretiert haben und damit ein möglicherweise vielfältigeres Spektrum an Geschlechteridentitäten nicht einfangen konnten. So wie am Grab der Wikingerin. Wie wir Geschlechterrollen in früheren Kulturen sehen, ist also immer auch Ausdruck davon, wie wir sie in unserer Gegenwart verstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen