Fragwürdige Inobhutnahmen: Ins Heim wegen zu viel Mutterliebe

Jugendämter nehmen Alleinerziehenden die Kinder weg, wenn die Bindung angeblich zu eng ist. Das zeigt eine Fallstudie eines Soziologen.

Eine Frau hält ein Kind in den Armen

Zuviel Mutterliebe? Foto: Michael Schick/imago

HAMBURG taz |Weil sich viele Betroffene an ihn wandten, hat der Hamburger Jugendhilfeexperte Wolfgang Hammer eine kleine Studie über Kindesentziehungen durch den Staat erstellt. Eine Auswertung von 42 Fallverläufen aus sechs Bundesländern von 2014 bis 2019 weist nach, dass Alleinerziehenden die schulpflichtigen Kinder weggenommen wurden, ohne dass es Hinweise auf Gewalt oder Vernachlässigung in den Familien gab. Der Grund war ein Verdacht auf zu enge Mutter-Kind-Bindungen.

Zwei Drittel der Fälle stammen aus Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen, die übrigen aus Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg. Hammer nennt die Ergebnisse „fachlich, humanitär und verfassungsrechtlich nicht tragbar“.

Der studierte Soziologe war selbst bis 2013 Referatsleiter für Jugendhilfe in der Hamburger Sozialbehörde und setzt sich seither weiter für Kinderrechte ein. Nach einer Anhörung im Bundestag im Sommer 2017 seien insgesamt 167 Fälle an ihn herantragen worden. Auch Mitarbeiter von Jugendämtern versorgten ihn mit Unterlagen, mit der Bitte, die Dinge aufzubereiten und publik zu machen.

Die Frauen wandten sich meist selbst ans Jugendamt

Hammer wählte nun 42 Fälle für eine Analyse aus. Bei den Betroffenen handelt es sich um 39 Mütter und drei Omas, die Kinder sind zwischen 8 und 16 Jahren alt. Die meisten Mütter hatten Abitur, neun von ihnen hatten einen Uni-Abschluss.

Die Frauen hätten sich meist von sich aus ans Jugendamt gewandt mit der Hoffnung auf eine Mutter-Kind-Kur oder andere Unterstützung für sich und ihr Kind. Sie hätten sich beim Amt „vertrauensvoll geöffnet“ und auch über „Erziehungsprobleme und Überlastung im Alltag“ gesprochen. „Die Hoffnungen wurden nicht erfüllt“, schreibt Hammer. Um so entsetzter seien die Frauen gewesen, als ihre Beschreibungen später Grund für eine Fremd­unterbringung waren.

Bei allen 39 Müttern ging die zuständige Fachkraft im Jugendamt von einer zu engen oder zu belasteten Mutter-Kind-Beziehung aus – ohne ein psychologisches oder psychiatrisches Gutachten einzuholen, sondern aufgrund von eigenen Einschätzungen sowie von Nachbarn, Ex-Partnern und deren Eltern, die „durchweg extrem zu Lasten der Mütter ausfielen“.

Die Frauen seien an der „Hilfeplanung“ erst nur formal, später gar nicht beteiligt worden. Die Hälfte von ihnen habe der Fremdplatzierung des Kindes formal erst mal zugestimmt, in der Hoffnung, durch ihre „Mitwirkungsbereitschaft“ die Chancen auf eine schnelle Rückkehr zu erhöhen. Dies hätten sich die Frauen später als schweren Fehler angelastet, weil sie damit ihr Kind selbst ins Heim verbannten. Den Kindern sei gesagt worden, sie seien im Heim, weil ihre Eltern nicht mehr in der Lage seien, sie zu erziehen.

17 der Kinder leiden heute unter Adipositas, neun drohten mit Selbstmord

Eine klassische Argumentation war, dass der Wunsch der Mutter, ihr Kind möge zu Hause leben, als „Zeichen einer Störung“ ausgelegt wurde, schreibt Hammer. Auch die Wünsche der Kinder, wieder bei der Mutter zu sein, seien als Krankheitszeichen interpretiert worden.

„Er akzeptiert weder die Regeln der Einrichtung noch zeigt er Einsicht, dass er nur hier eine Chance hat, sich von der Mutter zu befreien“, heißt es im Bericht eines Heimes über einen Zwölfjährigen. Die wöchentlichen Telefonate mit ihr brächten ihn immer wieder zum Weinen. „Für die nächsten drei Monate sollten deshalb die Kontakte zur Mutter eingefroren werden.“ Da Sohn und Mutter die Einsicht fehle, sei auch die Beteiligung an der Hilfeplanung „nicht sachdienlich“, notiert das Amt.

Eine zu enge Mutter-Kind-Bindung könne in der Tat dazu führen, dass das Kind zu kurz komme, sagt auch Hammer. Doch bei den Fällen gebe es dafür keine faktenbasierte Begründung, sondern nur Spekulation. Einige der von den Jugendämtern vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen seien entstanden, ohne dass diese die Mutter zu Gesicht bekommen hätten.

Symbiose-Theorie gerade hoch im Kurs

Hammer traf sich mit sechs Jugendamtsmitarbeitern, die selbst diese Praxis kritisieren. Sie klagten, dass es gegenüber früher eine „deutlich herabgesetzte Eingriffsschwelle“ gebe und die Theorie sogenannter symbiotischer Mutter-Kind-Beziehungen gerade bei jüngeren Fachkräften „hoch im Kurs“ sei.

Die gute Nachricht: Bei all jenen Fällen, die vor dem Familiengericht landeten, gaben die Richter externe Gutachten in Auftrag. Und die hatten die Mütter – bis auf eine Ausnahme – so weit entlastet, dass sie entgegen der Meinung des Jugendamts die Rückkehr in die Herkunftsfamilie empfahlen. Nur lebten die Kinder in den meisten Fällen da schon mehrere Monate in den Heimen.

Drei von vier dieser Fälle, die sich zum größten Teil in Norddeutschland abspielen, sind inzwischen abgeschlossen. Und 25 Kinder leben heute wieder bei ihren Müttern. Sie haben gelitten. Vor dem Eingriff des Staates waren sie gut in der Schule, keines von Versetzung bedroht. „Ihr Gesundheitszustand und das schulische Erscheinungsbild hat sich deutlich verschlechtert“, schreibt Hammer nun. Allein 17 von ihnen leiden unter Adipositas, neun von ihnen drohten mit Selbstmord, 23 wurden schlecht in der Schule, jeder zweite zeigte sich aggressiv.

Hammer hat sein Papier an die Forschungsstelle problematische Kinderschutzverläufe in Mainz geschickt, die bis Jahresende im Auftrag des Bundestags untersuchen soll, ob die Jugendämter zu Unrecht Kinder aus Familien nehmen. Der Soziologe schränkt ein, dass die von ihm ehrenamtlich erstellte Studie nicht geplant und repräsentativ sei, sondern „aus der Not geboren“.

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