Forderungen der Gewerkschaften: Mittelstandspflege der IG Metall
Viertagewoche? Mehr Work-Life-Balance? Eigentlich gute Ideen. Aber sie gehen an der Realität der Geringverdiener:innen vorbei.
D er 1. Mai ist der Tag der Gewerkschaften. Zumindest sollte man das annehmen, gerade im Jahr 2023. Zwar regiert in Berlin eine, na vielleicht nicht explizit linke, aber zu zwei Dritteln doch linkere Regierung als in den Merkel-Jahrzehnten davor. Allerdings schafft es das dritte Drittel der Koalition, jeden sozialen Ansatz von SPD und Grünen so sehr zu torpedieren, dass man von der Ampel nicht wirklich das Glück der Arbeiterklasse erwarten mag.
Und die allenfalls in Spuren noch vorhandene linke Opposition wagenknechtet sich dermaßen selbst, dass auch von dort keine kraftvolle Vertretung des Proletariats in Sicht ist. Hinzu kommt eine anhaltend extreme Inflation, die nichts anderes als eine permanente Umverteilung von unten nach oben zur Folge hat.
Dennoch war am Montag von einem anständigen Aufstand keine Spur. Die Demos von DGB & Co wirken ritualisiert. Nichts gegen Rituale. Weihnachten kann ja auch ganz nett sein, genau wie ein demonstrativer Spaziergang am 1. Mai. Frühling lässt sein rotes Band wieder flattern durch die Lüfte. Man bekommt eine Ahnung von dem, was möglich wäre im Land. Mehr nicht. Geht es uns vielleicht noch zu gut?
Zu gut sicher nicht. Aber eben auch nicht dramatisch schlecht. Das liegt – auch – an der viel gescholtenen Ampelkoalition, die es trotz FDP geschafft hat, die dramatischsten Folgen der Energiekrise so abzufedern, dass der befürchtete heiße Herbst ausblieb, ja schon vergessen ist. Einmal hat es die Ampel also doch geschafft, sozialpolitisch einzugreifen. Doch das Land echauffiert sich über die Heizkesselreform. Nun ja, Kommunikation ist eine politische Kunst, die gelernt sein will.
Knappes Gut Arbeitskräfte
Zurück zum Thema: Wie gut es dem Land geht, zeigt die aktuelle Debatte, die von der IG Metall angestoßen wurde: Sie will die Viertagewoche. Die ist beileibe keine realitätsfremde Utopie. Das Thema ist sogar gut platziert. Denn wenn die Arbeitgeber aller Klassen lauthals über den Fachkräftemangel stöhnen, der tatsächlich eher ein Arbeitskräftemangel ist, weiß die arbeitende Bevölkerung, dass sie zum knappen Gut geworden ist. Dass sie am stärkeren Hebel sitzt. Dass sie mithin Forderungen stellen kann, an deren Durchsetzung sonst nie zu denken wäre.
Work-Life-Balance? Ein wichtiges Thema! Und schön, dass viele es sich leisten können, darüber nachzudenken. Als Angebot, als Option, als Möglichkeit hat das durchaus seinen Reiz. Aber es ist bei Weitem eben nicht die glückselig machende Revolution für alle. Vor allem das Heer der Geringverdiener:innen wird sich ratlos an den Kopf fassen, wenn die Gewerkschaften in erster Linie Mittelstandspflege betreiben. Denn die Niedriglöhner:innen dürften dann freiwillig mehr arbeiten, um über den Lohnausgleich hinaus zusätzlich Geld zu verdienen. Kein Wunder, dass vom Aufstand der Arbeitenden bei den Gewerkschaftsdemos so wenig zu sehen ist.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Geiselübergabe in Gaza
Gruseliges Spektakel
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Russland und USA beharren auf Kriegsschuld des Westens