Fischsterben in der Oder: Alles im Fluss
Jetzt ist klar: Das Fischsterben in der Oder wurde durch eine giftige Alge ausgelöst. Doch noch lässt sich nicht alles erklären. Warum das so lange dauert.
E s ist früh am Montag in dieser Woche, als der Chemiker Manfred Santen im Wendland in sein Auto steigt und Richtung Osten fährt. Er will wissen, wer oder was die Oder vergiftet und die größte Umweltkatastrophe in Deutschland seit Jahren ausgelöst hat. An einer Autobahnraststätte bei Ludwigslust in Mecklenburg-Vorpommern fährt Santen ab.
Hier ist er mit zwei Kollegen verabredet, die ihm aus Polen entgegengefahren sind. Sie begrüßen sich, dann nimmt Santen zwei Kühltaschen in Empfang: In einer liegen tote Fische, einzeln in Plastiktüten verpackt, in der anderen stehen Glasflaschen mit Oderwasser und Flusssedimenten. Santen stellt die Kühltaschen in seinen Kofferraum und fährt zurück nach Hamburg. Er wird die Proben in mehrere private Labore bringen und analysieren lassen.
Manfred Santen und seine Kollegen arbeiten bei Greenpeace, der eine in Hamburg, die anderen in Polen. „Manchmal ist es gut, wenn wir unsere eigenen Untersuchungen machen“, sagt Santen, als er von dem Autobahntreffen erzählt. Santen ist aus Erfahrung skeptisch. Als im vergangenen Jahr im Chemiepark in Leverkusen ein Tank explodierte, nahm Greenpeace eigene Proben in der Umgebung, auf Kinderspielplätzen und Parkbänken. Dabei wurden deutliche höhere chemische Belastungen als bei den offiziellen Messungen gefunden.
Zwei Wochen sind bereits vergangen, seit die Messwerte der regelmäßigen Testung von Flusswasser in Frankfurt (Oder) plötzlich ausschlugen. Der pH-Wert schnellte in die Höhe, ebenso die Werte für Chlorophyll und für die elektrische Leitfähigkeit, die auf einen hohen Salzgehalt schließen lässt. Drei Wochen sind bereits vergangen, seit in der polnischen Oder massenhaft tote Fische gefunden wurden. Mehr als 100 Tonnen tote Fische wurden mittlerweile geborgen. Und noch immer weiß man nicht sicher, was zu dem großen Fischsterben führte. Wie kann das sein?
Alles muss man selber machen
Dabei müsste es jetzt schnell gehen: Mit jedem Tag, den das Wasser die Oder runter ins Meer fließt, wird es schwerer, die Ursache für die Katastrophe zu finden. Chemikalien verdünnen sich und verändern ihre Zusammensetzung, Gifte setzen sich im Flussbett ab. Und so mancher Fisch im Unterlauf der Oder, wie die mühevoll dort wieder angesiedelten Störe, hätte gerettet werden können. Wenn Behörden in diesen Tagen Fehler machen und alles zu lange dauert, hat das weitreichende Konsequenzen.
Mike Neumann hatte sich den Start in seinen neuen Job wohl anders vorgestellt. Erst am 1. August hat er die Leitung des Landeslabors Berlin-Brandenburg übernommen. Vergangenen Freitag gab er dem RBB ein Antritts-Radiointerview. Neumann scherzte mit dem Moderator über das Chefsein, sie sprachen über sichere Lebensmittel und Arzneimittel, und dann, irgendwann, auch über dieses rätselhafte Fischsterben in der Oder.
Dabei waren bereits Tage vorher die Messwerte des Landesumweltamts in Frankfurt (Oder) dramatisch angestiegen. Schon Ende Juli waren in Polen große Mengen toter Fische aufgefallen. Ob Quecksilber für das Sterben verantwortlich ist, wie es zeitweise zu hören war, wurde Neumann im Radio noch gefragt: Dazu könne er noch nichts sagen, die Untersuchungen dauerten an. Erst übers Wochenende entfaltete sich das ganze Drama.
Am Mittwoch sitzt Neumann nun in einer eilig einberufenen Pressekonferenz. Er und das Landeslabor stehen unter gewaltigem Druck. Sie müssen möglichst schnell Ergebnisse liefern, wer oder was die Katastrophe ausgelöst hat. Können sie das?
Es ist ungewöhnlich, dass sich so viele JournalistInnen dafür interessieren, woran sein Labor arbeitet. Neumann erzählt von den verschiedenen Messverfahren, von teilorganischen Kohlenstoffen und Phenylharnstoffen.
Die Medienvertreter werden nervös. Man merkt dem promovierten Chemiker an, dass er sich in seinem Fach auskennt. Aber deutlich wird auch, dass sein Labor nicht auf die Situation einer Umweltkatastrophe vorbereitet ist. „Wir sind ein Routinelabor“, sagt Neumann mehrmals. Im Alltag seien die Messgeräte darauf eingestellt, keine oder nur geringe Messwerte zu liefern, jetzt müssten sie alles umstellen, nach und nach.
Im Trüben fischen
Tatsächlich ist die Suche nach der Ursache schwierig. Denn die MitarbeiterInnen im Labor wissen nicht, wonach sie suchen. Hunderte verschiedene Chemikalien, Schwermetalle kommen infrage. Proben müssen angereichert oder gereinigt werden, bevor sie untersucht werden. Ob er wenigstens etwas ausschließen könne, wird Neumann noch gefragt. Ob es überhaupt etwas gebe, was man heute wisse, was man vor einer Woche noch nicht hätte sagen können. Der Chemiker zieht die Schultern hoch. Immer, wenn es um konkrete Ergebnisse geht, wiegelt Neumann ab. Dazu dürfe er nichts sagen, nur das Landesumweltamt.
Man erlebt dieser Tage, dass es die Behörden nicht schaffen, die Kommunikationshoheit in der Krise zu behalten. Ein Amt verweist auf das andere. Und währenddessen wuchern täglich neue Theorien wie schnell wachsende Wasserpflanzen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Und doch ist es ein Beamter aus dem Landesumweltamt, ein Fachmann für die Flüsse und Seen Brandenburgs, der die entscheidende Idee hat. Er hat am Wochenende viel nachgedacht, und im Internet nach „Killeralge tötet Fische“ gesucht. Am Montagmorgen ruft er bei Jan Köhler im Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie an. Köhler ist Biologe und forscht zu Algen.
Der Mitarbeiter erklärt, ihm sei aufgefallen, dass das Chlorophyll im Wasser stark angestiegen ist, das deutet auf Algenwachstum hin. Er bittet Köhler zu prüfen, welche Algen im Wasser sind und ob die für das Fischsterben verantwortlich sein könnten. So erzählt es Köhler der taz. Es geht um winzig kleine Pflanzen, die im Wasser schweben und Giftstoffe abgeben können.
Nur, wie kommt jetzt eine frische Probe Oderwasser ins Leibniz-Institut? Im Umweltlandesamt muss erst ein Dienstreiseantrag gestellt werden, damit ein Mitarbeiter die Probe an der Oder entnehmen und nach Berlin bringen kann. Köhler wundert sich, dass das auch bei so einer Katastrophe nötig ist. So dauert es bis zum Abend, bis Köhler die Algen unter seinem Mikroskop untersuchen kann. „Und Bingo!“, sagt Köhler.
Unter dem Mikroskop erkennt er die Mikroalge Prymnesium parvum, die üblicherweise in Brackwasser vorkommt und schon in anderen Flüssen ein Fischsterben ausgelöst hat. Den sicheren Beweis, dass es sich um diese Algenart handelt und wie giftig sie in der Oder ist, untersuchen nun Kollegen von Köhler in Dänemark und Österreich. Er erwartet die Ergebnisse am späten Freitag.
Grenzwerte meistens überschritten
Köhler erklärt, dass die Alge für schnelles Wachstum einen hohen Salzgehalt benötigt. Auch die Klimakrise fördert in Fließgewässern die Entwicklung von Algenarten, die sonst vor allem in Brackwassern vorkommen: Viel Licht, niedriger Wasserstand, langsamer Durchfluss, das gibt der Alge Zeit zu wachsen. Zudem begünstigen die Eingriffe des Menschen in den Flusslauf die Algenbildung: An Staustufen sammle sich das Wasser.
Doch wenn es die Alge war, woher kam das viele Salz, das das Wachstum begünstigte? Köhler hält es für plausibel, dass das Salz ganz legal von Bergbauunternehmen in die Oder eingespeist wurde. Polnische Medien berichten derzeit über legale und illegale Einleitungen aus der Zeit vor und nach der Katastrophe. Vielleicht wurde salzhaltiges Wasser sogar in Klärbecken gesammelt, dort hätte die Alge über Wochen wachsen können, bevor sie in den Fluss kam. „Aber das ist Spekulation“, sagt Köhler.
Vor der Algentheorie bestimmte Quecksilber mehrere Tage die Debatte um die Ursache der Katastrophe. Jan Köhler versteht nicht, warum sich zunächst so auf Quecksilber konzentriert wurde. In den meisten deutschen Gewässern seien die Grenzwerte ohnehin überschritten. Doch um ein Sterben auszulösen, müsste der Wert viel höher sein. „Vielleicht hat da jemand nicht nachgedacht“, sagt Köhler trocken.
Es scheinen also eher bürokratische Strukturen und eine „gewisse Beamtenmentalität“ zu sein, wie ein Gesprächspartner es gegenüber der taz formuliert, die dazu führen, dass in diesen Tagen unabhängige Forschungszentren, die eigentlich für Grundlagenforschung zuständig sind, und Nichtregierungsorganisationen oft schneller sind als staatliche Behörden.
Am Donnerstag sitzt Manfred Santen im Hauptstadtbüro von Greenpeace in Berlin-Mitte vor einem großen Wandbildschirm, um in einer Videokonferenz mit seinem polnischen Kollegen zu besprechen, wie sie nun weiter vorgehen. Am Morgen hat er die deutsche Umweltministerin Steffi Lemke getroffen, die von Problemen mit der polnischen Seite erzählte.
Die ersten Ergebnisse aus dem Labor sind da. Am Montag hatte Santen die Proben direkt von der Autobahnraststätte in die Labore gebracht und auf bestimmte Pestizide, Quecksilber und andere Schwermetalle untersuchen lassen: alles unauffällig.
Aber: Eine private Umweltorganisation bekommt in weniger als drei Tagen Ergebnisse, auf die man in den staatlichen Laboren lange wartet. „Wir haben uns auch gewundert, warum das bei denen so lange dauert“, sagt Santen. Viele Ergebnisse könnten Labore innerhalb von zwei Tagen liefern, etwa die zu Pestiziden, den Quecksilbergehalt nach einem Tag. Das Landesumweltamt teilte erst am Dienstag mit, dass Quecksilber nicht für das Fischsterben verantwortlich sei. Fünf Tage, nachdem das Landeslabor hohe Quecksilberwerte im Wasser gefunden hatte.
Jede neue These, jedes neue Indiz ist in der aktuellen Situation mit Tonnen toter Fische und einer aufgebrachten Öffentlichkeit westlich und östlich der Oder politisch heikel. An der Frage nach der Ursache hängt auch die nach der politischen Verantwortung. Wer hätte was wann tun müssen, um die Katastrophe zumindest etwas abzumildern?
In Berlin erscheint der polnische Greenpeace-Kollege Krzysztof Cibor auf dem Bildschirm. Er sitzt auf dem Balkon des Büros in Warschau. Cibor beschwert sich, wie schlecht die polnischen Behörden informieren: Dort gibt es keine öffentlich einsehbaren Messwerte – und an vielen Stellen nicht einmal eine kontinuierliche Überwachung. „Wir wissen nicht, wie die Messwerte Ende Juli waren.“
Er regt sich auf. „Wenn ich mein Haus gegen Einbrecher schützen will, mache ich das auch nicht nur in den zwei Wochen nach dem Einbruch“, sagt Cibor. „Ich muss es ständig machen.“ Er sagt, das größte Problem sei nicht, dass jemand den Fluss verschmutzt habe – das könne man nicht immer verhindern. Schlimmer sei, wie auf die Katastrophe reagiert werde. Von den angeblich 300 Tests auf polnischer Seite seit Anfang August seien kaum Ergebnisse veröffentlicht worden.
Vielleicht, so die Hoffnung der Greenpeace-Leute, nehme der öffentliche Druck in Polen gerade so zu, dass sich etwas ändert. Damit Werte endlich regelmäßig erhoben werden. Und damit sie für jeden öffentlich einsehbar sind. So könnten dann auch andere außer den zuständigen Behörden ein Auge auf den Fluss haben. Gerade wegen des fehlenden Monitorings in Polen sei es so wichtig, dass auch unabhängige NGOs wie Greenpeace ihre Untersuchungen anstellen, sagt Cibor.
Santen und Cibor sprechen auch über die Alge. Sie sind sich einig, dass diese nicht einfach so auftritt und dann Gifte bildet. Da müssten mehrere Faktoren zusammenkommen. Aber die Labore, die Greenpeace beauftragt hat, können das Gift der Alge nicht genauer bestimmen.
Diese Tage sind sicher keine Sternstunde der Forschungskommunikation. Aber vielleicht zeigen sie der Öffentlichkeit trotzdem, wie wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen. Wie ist es möglich, dass Freitag über Quecksilberverbindungen spekuliert wird, Montag über Industriesalze und Mittwoch über giftige Mikroalgen? Und warum findet sich zu fast jeder Vermutung jemand, der sie für unplausibel hält?
Die Antwort in aller Kürze: So funktioniert Wissenschaft. Hypothese, Nachweis? Falsch! Nächste Hypothese. Zumindest solange alle im Trüben fischen.
Kurz vor Redaktionsschluss meldet sich Jan Köhler: Die Algenart ist bestätigt. Und seine Kollegin von der Uni Wien hat große Mengen Gift in den Proben aus der Oder gefunden. Was das Algenwachstum ausgelöst hat? Die Suche geht weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen