Fälschungsskandal beim „Spiegel“: Die Wahrheiten des Relotius
Ein preisgekrönter Autor soll beim „Spiegel“ mehrere Geschichten erfunden haben. Es ist einer der größten Skandale im deutschen Journalismus.
Am Ende wurde Claas Relotius von einem Kollegen zu Fall gebracht. Man muss das wohl so sagen. Denn Relotius ist wirklich tief gefallen: Am 3. Dezember hat er noch den renommierten Reporterpreis für die Beste Reportage bekommen. Für „Ein Kinderspiel“, eine Geschichte über einen syrischen Jungen, der durch das Sprühen eines Anti-Assad-Graffitos in Daraa womöglich einen Aufstand ausgelöst hat. Die Jury lobte einen Text, „der nie offen lässt, auf welchen Quellen er basiert“.
Aber das stimmt wohl nicht.
Gab es die Quellen? Haben sie das gemacht und gesagt, was Relotius aufgeschrieben und Der Spiegel veröffentlicht hat? „Es ist nur, leider, wie so viele andere Arbeiten aus Relotius’ Manufaktur, ein fantasievolles Machwerk“, schreibt das Magazin nun selbst über seinen Autor und dessen Artikel.
Das Haus hat einen großen Fälschungsskandal. Ausgerechnet Der Spiegel, der so stolz ist auf seine Recherchen und seine Dokumentationsabteilung, die eben diese Recherchen überprüfen soll. Das Magazin, in dessen Haus man bis heute von Rudolf Augsteins Motto „Sagen, was ist“ empfangen wird. Und ausgerechnet Relotius, der 33-Jährige, dessen Reporterpreis nicht der erste, sondern der vierte für ihn war, der diverse weitere Ehrungen und Auszeichnungen bekommen hat, den Der Spiegel in seiner eigenen Geschichte „ein journalistisches Idol seiner Generation“ nennt, hat am Montag nach eineinhalb Jahren als Redakteur beim Spiegel gekündigt.
Zweifel zu Protagonisten
Am Mittwoch wurden die Mitarbeiter an der Ericusspitze informiert und der ganze Fall bei Spiegel Online veröffentlicht. Und der liest sich streckenweise wie ein Krimi: Denn Juan Moreno, der Kollege, der Relotius zu Fall gebracht hat, hatte ihm hinterherrecherchiert. Auf eigene Faust und auf eigene Kosten, wie es in dem Spiegel-Artikel heißt.
Alles begann mit einer gemeinsamen Arbeit: Moreno und Relotius recherchierten an einer Geschichte, „Jaegers Grenze“ über Flüchtlinge, die in die USA wollen – und eine Bürgerwehr, die ihnen im Weg steht.
Doch Moreno kommen bald Zweifel zu Protagonisten, die auf Bildern zur Geschichte auftauchen. Zu Protagonisten, die wiederum nicht fotografiert und gefilmt werden wollten. Moreno spricht mit der Dokumentation über seine Bedenken. Gestoppt werden Druck und Veröffentlichung aber nicht. Kurz danach wendet sich Moreno auch an die Ressortleitung.
Relotius muss Fragen beantworten. „Er verteidigt sich auf ebenso brillante wie verschlagene Weise“, heißt es in der Spiegel-Rekonstruktion: „So eloquent antwortet er auf die Vorwürfe, und er gibt auf so perfekte Weise auch Imperfektionen in seiner Arbeit zu, dass plötzlich Moreno wieder wie ein Stänkerer aussieht.“
Nicht das erste Mal
Doch Moreno macht weiter. Er nutzt eine Recherchereise in die USA, auf der er eigentlich für eine Reportage über den Boxer Floyd Mayweather unterwegs ist, für seine Suche: „Er möchte Tim Foley besuchen“, schreibt Der Spiegel, „den Chef der Bürgerwehr Arizona Border Recon, und vielleicht auch Chris Maloof finden, den Mann in Tarnkleidung, der im Spiegel Jaeger heißt“, also den titelgebenden Protagonisten der Geschichte. Foley sagt, dass er Relotius nie gesehen habe. Und: „Maloof ist nicht Jaeger. Es gibt Jaeger nicht. Und Relotius ist weder dem einen noch dem anderen begegnet.“
Irgendwann, so wird es beschrieben, scheint es dann zu viel zu sein. Relotius soll sich letzte Woche Donnerstag mit seinen Ressortleiter*innen und der Chefredaktion zusammengesetzt haben und Betrug zugegeben haben.
Es ist nicht das erste Mal, dass ein Reporter seine Auftraggeber in großem Stil betrügt. Im deutschsprachigen Raum ist vor allem der Fall Tom Kummer bekannt, der Interviews mit Hollywood-Stars teilweise komplett erfunden hatte und unter anderem im SZ-Magazin und im Schweizer Tages-Anzeiger-Magazin veröffentlicht hatte. Im Jahr 2000 flog er auf. Die Chefredakteure des SZ-Magazins, Ulf Poschardt (heute Chefredakteur der Welt) und Christian Kämmerling, mussten daraufhin gehen.
Auch die New York Times entlarvte einen Reporter, der Geschichten gefälscht und erfunden hatte. Im Mai 2003 hob die Zeitung diesen Skandal im eigenen Haus auf ihre Titelseite der Sonntagsausgabe. Daran, wie die New York Times den Fall damals aufgearbeitet hat, will sich nun auch der Spiegel orientieren, kündigte die Chefredaktion gegenüber den Mitarbeiter*innen des Medienhauses an.
Hinweise werden geprüft
Genau wie die NYT hat auch der Spiegel eine Mailadresse eingerichtet, unter der Hinweise zu Relotius’ Fälschungen gesammelt werden (hinweise@spiegel.de). Online sind bereits jetzt einige Texte aufgelistet, die von den Fälschungen betroffen sind. Bisher sei klar, dass mindestens 14 der von ihm verfassten knapp 60 Texte im Spiegel und bei Spiegel Online zumindest in Teilen gefälscht seien, heißt es bei Spiegel Online.
Eine Kommission aus drei Personen, internen und externen, soll in den kommenden mindestens sechs Monaten alle Hinweise auf weitere Manipulationen prüfen. Sie soll Empfehlungen erarbeiten, wie solche Fälle in Zukunft zu vermeiden sind. Man wolle, so die Chefredaktion, den Fall absolut transparent aufarbeiten.
Allerdings könnte womöglich nicht nur der Spiegel betroffen sein. Auch im Cicero, in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag, in der Welt, im SZ-Magazin, in der Schweizer Weltwoche, bei der Zeit, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und auch in der taz hat Relotius Texte veröffentlicht. Auch die taz überprüft die veröffentlichten Artikel.
Timm Klotzek, Chefredakteur des SZ-Magazins, lässt gerade zwei Interviews verifizieren, die Relotius für das Magazin in den USA geführt hat. Auch Klotzek will das Ergebnis der Überprüfung danach transparent machen. Das Reporter Forum, das jährlich den renommierten Reporterpreis vergibt, prüft derzeit, ob es Relotius seine Preise aberkennen wird.
Enttäuscht und geschockt
Man sei dabei, „die Jurorinnen und Juroren des Reporterpreises zu kontaktieren“, sagte Ariel Hauptmeier, einer der Organisatoren des Reporterpreises, am Mittwoch: „Sie werden darüber entscheiden, ob Relotius seine insgesamt vier Reporterpreise aberkannt werden, und ich habe keine Zweifel daran, wie ihr Urteil ausfallen wird.“
Relotius’ Kollegen sind enttäuscht und geschockt. Relotius sei ein äußerst angenehmer Kollege gewesen, bescheiden und freundlich, sagen Leute, die ihn kennen. Mathieu von Rohr, der stellvertretende Chef des Auslandsressorts, twitterte, er sei „wütend, entsetzt, schockiert, fassungslos“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid