Ex-Außenminister Joschka Fischer: „Die 60er-Wahlkämpfe waren härter“
Ein Gespräch mit Ex-Außenminister Joschka Fischer (Grüne) über seine Partei, den Wahlkampf und die künftige Außenpolitik der Bundesrepublik.
taz: Herr Fischer, die Grünen sind nicht mehr die Grünen, die sie waren, aber die Gesellschaft ist auch nicht mehr so, wie sie früher war. Das ist der Grund für den Grünen-Aufstieg. Stimmen Sie zu?
Joschka Fischer: Ach, hören Sie auf. Die taz ist auch nicht mehr, wie sie früher war. Ja, die Grünen haben sich verändert. Sie sind von einer randständigen und vor allem minderheitenorientierten Partei zu einer geworden, die unter Umständen bei der Bundestagswahl die stärkste Kraft in der Mitte der Gesellschaft wird.
Normale Menschen wählen jetzt die Grünen. Das hätte man sich früher nicht vorstellen können.
Mangelnde Vorstellungskraft Ihrerseits! Denn wenn die große Transformation der Wirtschaft zu einer kohlenstoffneutralen oder sogar kohlenstofffreien gelingen soll, braucht es Mehrheiten in Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist ungefähr so, als würden normale Leute mehrheitlich die taz abonnieren. Undenkbar?
Wie fanden Sie die Rede von Kanzlerinkandidatin Baerbock beim Parteitag? Die Parteiclaqueure taten ganz begeistert, konservative Medien fanden sie maximal eine „Bewerbung als Familienministerin“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb?
Das war zu erwarten, ich fand die Rede sehr gut. Vor allem hat Annalena einem gewaltigen Druck standgehalten, das war der eigentliche Test, um den es ging. Und die Partei hat großartig reagiert mit diesem Parteitag. Glückwunsch!
Warum kosten Baerbocks Fehler mit späten Corona-Boni-Meldungen und ihrem leicht aufgeblasenen Lebenslauf Zustimmung in der Merkel-Mitte, während skandalöse Nebengeschäfte und Nepotismus von Unionspolitikern kaum jemanden juckt? Grüne verstehen das nicht. Sie?
So ist halt das Leben, so sind Mensch und Demokratie. Alles in allem aber nebbich.
Der andere Spitzenkandidat Robert Habeck versucht, Klimapolitik als notwendige Voraussetzung individueller und gesellschaftlicher Freiheit zu definieren, um die rituellen Verbotsvorwürfe der Mitbewerber ins Leere laufen zu lassen. Hat er mit dieser Flughöhe im Wahlkampf eine Chance?
Aber ja!
In Teilen der Partei wird wegen der Attacken auf Baerbock schon geheult, dass das ein unterirdischer Wahlkampf sei und alle gemein zu den Grünen. Ist es wirklich schlimmer als früher, etwa zu Brandts Zeiten?
Die 60er-Jahre-Wahlkämpfe gegen Willy Brandt waren härter. Wenn es um die Macht geht, wird nicht mit Wattebäuschchen geworfen. Es heißt nicht umsonst Wahl-Kampf. Der ist auch heute nicht die Zeit für gepflegte Diskurse, sondern Attacke ist da angesagt, dagegenhalten und nicht wegziehen.
Sie haben in Ihrem jüngsten Buch ausgeführt, dass wir Bundesdeutschen jetzt 70 wunderbare Jahre hatten, aber nun drohe, so der Titel, „Der Abstieg des Westens“.
Die Gefahr ist mit der Wahl Joe Bidens keineswegs vorüber. Wir stehen vor einem risikoreichen Jahr, beginnend mit den Bundestagswahlen. Im Frühjahr 2022 folgen dann die französischen Präsidentschaftswahlen, mit dem Risiko der Wahl Le Pens. Und im Herbst dann die amerikanischen Midterm-Wahlen mit der Gefahr eines erneuten Erstarkens der nationalistischen Rechten. Zudem hat sich die Welt grundsätzlich verändert. Russland ist nicht die Sowjetunion, die USA zeigen zunehmend Erschöpfungserscheinungen, China ist mit allen Ambitionen eines Aufsteigers unterwegs, Europa tut sich gerade in Außen- und Sicherheitspolitik unendlich schwer, eine gemeinsame Position zu finden. Das ist eine andere Realität.
Eine neue Klimapolitik ist für Sie die eine große Zukunftsaufgabe, neue Außenpolitik im Zeitalter nach dem Weltpolizisten USA die andere. Die Frage ist jetzt, ob die Bundestagswahl gesellschaftliche Mehrheiten dafür bringt.
Oh ja, darum geht’s und nicht um irgendwelchen medialen Pipifax. Die Klimapolitik wird in diesem Wahlkampf eine große Rolle spielen, schon wegen der Umfragestärke der Grünen. Alle greifen uns ja wegen der Kostenfolgen des Klimaschutzes an. Ich glaube nicht, dass die Außenpolitik, vorausgesetzt, es passiert nichts Schlimmes, im Wahlkampf eine Rolle spielen wird. Aber direkt danach, unter einer neuen Regierung, wird sie im Vordergrund stehen.
Wo genau?
Im europäischen, im transatlantischen Rahmen, im Verhältnis zu Russland und Ukraine, im Verhältnis zu anderen Weltgegenden, speziell dem Nahen Osten. Da haben wir jetzt erlebt, wie eine große Illusion geplatzt ist: dass der Fortschritt in den Beziehungen Israels mit der arabischen Welt eine friedliche Regelung des Nahostkonflikts ermöglichen würde. Ob die auf Oslo beruhende Zweistaatenlösung funktionieren würde, darf man bezweifeln, aber Tatsache ist: Ohne die Palästinenser wird es keine Lösung, ja nicht einmal Ruhe geben.
Grünen-Vorsitzender Habeck denkt darüber nach, ob man den Leuten in der Ostukraine mit Defensivwaffen gegen den russischen Aggressor helfen muss, obwohl das Parteiprogramm das ausschließt. Teile der Linkssozialdemokraten wollen eine „politische Lösung“ und können sich das auch aus historischen Gründen nicht vorstellen.
Zunächst mal haben wir diese historische Verpflichtung nicht nur gegenüber Russland, sondern mindestens genauso gegenüber der Ukraine und anderen Völkern, die unter dem Dach der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland gekämpft und furchtbar gelitten haben. Deshalb verstehe ich nicht, warum die Diskussion darüber tabuisiert sein soll.
Konkret: Sollte man der Ukraine mit Waffen helfen, sich verteidigen zu können?
Ich finde es völlig legitim, darüber nachzudenken, was man tun kann, um einem angegriffenen Nachbarn zu helfen, dem man in der Vergangenheit, auch durch Russland, die territoriale Integrität zusichert hat im Tausch gegen seine Atomwaffen. Aber meine These lautet: Wir sollten das niemals national und alleine tun, nur in Verbindung mit unseren Partnern in der Allianz und EU. Und das ist gut so.
Da sind Sie ganz beim Grünenmitglied Jürgen Trittin, der die „politische Lösung“ als gemeinsame europäische Position beschreibt, mit der Habeck bricht.
Ich empfehle eine Diskussion mit polnischen Nachbarn oder mit den Balten, wenn man die These vertritt, Habeck habe mit einer gemeinsamen europäischen Position gebrochen. Das kann man nicht allen Ernstes behaupten. Ich finde es ja richtig, eine politische Lösung zu suchen, aber nicht unter dem Banner, dass es keine andere gibt. Im Kreml ist man doch ganz offenbar nicht dieser Meinung, dass es nur eine politische Lösung geben kann, da sucht man eine militärische.
Aber Sie selbst wollen keine klare Position beziehen?
Was ich im Amt gelernt habe: Man muss sich sehr sorgfältig die Details ansehen und dann abwägen. Ist die These, dass wir in Kriegsgebiete keine Waffen liefern, denn wirklich wahr? Würde eine Regierung, an der die Grünen beteiligt sind, Israel im Ernstfall hängen lassen? Das kann ich mir nicht vorstellen.
Wird die Sicherheit Europas in der Ukraine verteidigt?
Es ist mehr als die Sicherheit. Es geht um die Grundsätze Europas nach dem Ende des Kalten Krieges, Grundsätze der Demokratie, der Entscheidungsfreiheit, Absage an Hegemonialmacht und das Prinzip militärischer Eroberung, Unverletzlichkeit der Grenzen. Das steht da alles infrage, darin liegt auch der große Unterschied zwischen EU und Russland nach 1989. Die EU ging Richtung 21. Jahrhundert und Russland unter Putin in die exakte Gegenrichtung, Richtung der Machtpolitik des 19. Jahrhunderts, der „Sammlung russischer Erde“. Zugleich aber ist Europa der gemeinsame Kontinent und daran wird sich nichts ändern, die EU und Russland sind Nachbarn und müssen miteinander auskommen, das macht den Ukrainekonflikt so schwierig, weil er auch die Grundsätze infrage stellt, auf denen dieses sich vereinigende Europa beruht.
Wenn man über militärische Hilfe laut nachdenkt wie die Grünen Habeck, Özdemir, Cohn-Bendit oder Fücks, dann ist man bei manchen ruck, zuck ein Bellizist.
Entschuldigung, aber der einzige Bellizist, den ich in diesem Konflikt kenne, heißt Wladimir Putin.
Warum Deutschland, kann nicht Frankreich oder Großbritannien die Waffen zur Verteidigung liefern?
Das ist eine legitime Frage nach dem Handeln im Bündnis. Aber die Zeit, als andere für uns die Kohlen aus dem Feuer holten, ist definitiv vorbei.
Gegenargument: Wenn es immer die anderen machen, hält die Bundesrepublik an der Kultur und Politik der letzten 70 Jahre fest, seine Hände in historischer Schuld zu waschen – und nicht genug beizutragen.
Na ja, also jetzt mal Vorsicht. Das klingt ja fast so, als wenn diese 70 Jahre für unser Land nicht sehr wichtig gewesen wären und die Transformation von einer Kriegernation zu einer eher pazifistischen Grundstimmung schlecht gewesen wäre.
Nein, das war großartig.
Eben. Ich kann die Aversion nachvollziehen, diese Grundsatzposition aufzugeben, die uns 70 Jahre atemberaubenden Wiederaufstieg ermöglicht hat und auch die deutsche Einheit. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir durch den Lauf der Geschichte jetzt eine völlig andere Lage haben, die von den Deutschen verlangt, entgegen dieser positiven Erfahrungen plötzlich wieder in weltpolitischen Kategorien zu denken und zu handeln. Deshalb ist der Anstoß, den Robert Habeck gegeben hat, wichtig, richtig und hilfreich. Weil wir als Deutschland diese Diskussion führen müssen, nicht nur ein Mal, sondern immer wieder.
Aber viele fühlen sich besser mit dem Wohlfühlsprech von „diplomatischen Lösungen“, mit denen wir das hilflose oder desinteressierte Zusehen rechtfertigen.
Noch mal: Die deutsche Geschichte besteht aus mehr als zwölf Jahren, aber es führt an den zwölf Jahren kein Weg vorbei. Daraus ergeben sich Zwänge, denen man nicht entkommt. Von der Stärke der Wirtschaft, der Größe der Bevölkerung, der geopolitischen Lage in der Mitte Europas spräche alles dafür, dass unser Land im Interesse Europas versucht, sich neu zu definieren, aber das wird so einfach nicht gehen. Das Vertrauen in deutsche Außenpolitik ist kein Selbstläufer.
Der jüngste Parteitag der Grünen hat das Nato-Bündnisziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Militärausgaben abgelehnt. Wie passt das zusammen mit dem Grünen-Sprech, „größere Verantwortung übernehmen“ zu wollen?
Weiß ich nicht. Was ich weiß und wovon ich zutiefst überzeugt bin, ist, dass die Nato für Deutschlands Sicherheit ohne Alternative ist. Und insofern sind wir klug beraten, zu unseren Verpflichtungen zu stehen.
Joschka Fischer, geboren 1948 in Gerabronn, Baden-Württemberg. Metzgersohn. Revoluzzer in den 1970er Jahren, Bundesaußenminister der rot-grünen Regierung 1998 bis 2005. Davor Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag und Landesminister in Hessen. Fischer lebt in Berlin. Er leitet die Beratungsfirma Joschka Fischer & Company.
Außerdem hat der Parteitag eine neue Position zur Beschaffung bewaffneter Drohnen beschlossen. Die Beschaffung wird nicht kategorisch abgelehnt, sondern soll sich nach dem Einsatzszenario der Bundeswehr richten. Wie bewerten Sie das?
Eine kluge Entscheidung.
Sie haben als Außenminister die Nato-Intervention im Kosovo 1999 durchgesetzt, bei Bosnien 1994 waren Sie noch strikt dagegen. Wie sehen Sie das heute?
Was ich mir selbst vorwerfe, ist, damals eine falsche Position vertreten zu haben. Nicht, weil ich für die Intervention im Kosovo war, sondern dass ich in Bosnien nicht energischer dafür war. Hätte die Nato in Bosnien früher interveniert und gesagt: Entweder ihr wollt weiter zusammenleben, dann helfen wir euch bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Oder ihr macht weiter mit Krieg, Zerstörung, Folter, Massenvergewaltigungen, dann kommen wir mit 100.000 Mann und allem, was wir haben: Das hätte vielen Menschen vermutlich das Leben gerettet. Das ist der Vorwurf, den ich mir mache. Aber damals sah ich das anders. Ich weiß noch, wie schockiert ich bei den Römerberggesprächen war, als Dany frontal damit kam.
Ihr Weggefährte Daniel Cohn-Bendit plädierte schon 1994 für eine Nato-Intervention.
Ja, aber ich konnte nicht vergessen, wie brutal die Wehrmacht auf dem Balkan gehaust hatte. Die Vorstellung, dass deutsche Soldaten dort eingesetzt würden, diesen Gedanken konnte ich nicht zur Seite drücken, von parteitaktischen Überlegungen ganz abgesehen.
Sie wollten die Grünen damals in die Regierung führen und nicht in einen Parteikrieg.
Ja, wir hatten in den 90ern eine zehnjährige Debatte geführt, die unglaublich wichtig war, nicht nur für die Partei, sondern für das ganze Land.
Mein Eindruck ist: Seither ist in dieser Hinsicht nicht mehr viel passiert.
Dafür gibt es einen einfachen Grund: Angela Merkels schwerer Fehler im Vorlauf des Irakkrieges und die Konsequenz, die sie daraus gezogen hat.
Sie hielt als Oppositionsführerin die Schröder/Fischer-Regierungsposition, das Nein zur deutschen Beteiligung, für falsch.
Das hat dazu geführt, dass das ganze Thema der Verantwortungsübernahme und Rollenveränderung deutscher Außenpolitik bei ihr ganz tief unterm Tisch hing. Das spielt eine wichtige Rolle für die abgebrochene Transformation. Was die Grünen betrifft: Nach dem Ende der Regierungsbeteiligung ging ich davon aus, dass man zurück auf Los einer radikalpazifistischen Haltung gehen würde. Das war aber nicht der Fall.
Redet man denn nun mit der Gesellschaft über das, was wirklich ansteht, oder lieber nicht, weil das immer nur schiefläuft?
Läuft das immer schief? Ich würde diese These nicht unterschreiben. Wenn Sie ein Land in der Regierung führen wollen, dann müssen Sie über die Dinge sprechen, um die es geht. Deshalb war es gut und richtig von Robert Habeck, eine solche Diskussion im Vorfeld einer möglichen grünen Regierungsbeteiligung oder sogar Regierungsführung anzustoßen.
Sie haben in dem Gespräch zweimal gesagt, dass die Grünen die Wahl gewinnen könnten. Wirklich?
Ich bin kein Prophet. Das werden wir sehen. Aber die Umfragen sind so, dass es am Ende verdammt knapp werden könnte, wenn nicht schwere Fehler gemacht werden. Die Grünen können gewinnen.
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