Digitale Patientenakte: Schweigen oder widersprechen?

Die Krankenkassen werben für die elektronische Patientenakte und weisen auf die Widerspruchsmöglichkeit hin. Was Versicherte nun wissen sollten.

Zwei Ärztinnen betrachten auf einem Computer und einem Tablet einen medizinischen Befund.

Bald einfach von Rechner zu Rechner: Die ePA soll den Datenaustausch erleichtern Foto: Sean Anthony Eddy/getty

1. Was ist die elektronische Patientenakte?

Momentan gilt für die meisten gesetzlich Versicherten: Gehen sie zur Ärztin, werden die dabei dokumentierten Daten, etwa Notizen, Ergebnisse von Blutuntersuchungen oder Röntgenbilder, in der Praxis gespeichert. Weitergegeben werden sie nur in bestimmten Fällen – etwa wenn eine niedergelassene Chirurgin den im Krankenhaus eingegipsten Bruch weiterbehandeln soll. Die elektronische Pa­tien­ten­akte (ePA) soll das ändern: Statt lokal in den Praxen sollen die medizinischen Daten in einer jeweils patientenbezogenen digitalen Akte gesammelt werden. Standardmäßig haben alle behandelnden Institutionen darauf Zugriff.

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2. Warum senden die Krankenkassen nun Briefe an die Versicherten?

Bislang müssen Patient:innen, die so eine digitale Akte nutzen wollen, das bei ihrer Krankenkasse anmelden. Doch ab Anfang kommenden Jahres gilt laut einem im Dezember verabschiedeten Gesetz das Gegenteil: Wer nicht Nein sagt, bekommt die ePA automatisch. Die Briefe sollen nun dazu dienen, die gesetzlich Versicherten über das Widerspruchsrecht zu informieren – und für die Nutzung zu werben. Das kritisiert Thomas Moormann, Gesundheitsexperte des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv): „Es muss neutral informiert werden, doch die uns vorliegenden Schreiben erwähnen zwar die Vorteile, aber keine Risiken.“ Er fordert außerdem umfassendere Informationen direkt in dem Schreiben – ein Link zu einer Internetseite reiche nicht aus, schließlich gebe es auch Versicherte, die diesen Weg nicht gehen wollen oder können.

3. Was können die Versicherten jetzt entscheiden?

Zunächst gilt die Grundsatzfrage: Elektronische Patientenakte – ja oder nein? Wer sie nicht möchte, muss widersprechen. Wer das vergisst oder erst später beschließt, doch keine zu wollen, kann auch im Nachhinein noch widersprechen. Eine einmal angelegte ePA muss dann gelöscht werden. Wer sich grundsätzlich für die digitale Akte entscheidet, hat weitere Optionen: So lässt sich per App einstellen, welche Dokumente für die Behandelnden sichtbar sind und welche verborgen. Auch der Zugriff für Forschungszwecke, standardmäßig erlaubt, lässt sich sperren. Die taz hat eine Reihe an Krankenkassen gefragt, welche Möglichkeiten zum Widerspruch sie ihren Versicherten bieten. Wer einen grundsätzlichen Widerspruch einlegen möchte, hat bei vielen Kassen – etwa der Techniker Krankenkasse, Barmer, AOK und hkk – die Möglichkeit, das neben digitalen Wegen auch per Brief oder telefonisch zu erledigen.

4. Was spricht für die ePA?

Das Bundesgesundheitsministerium nennt folgende Argumente: Doppeluntersuchungen sollen vermieden werden, Ärz­t:in­nen können sich schnell einen Überblick über die gesamte Krankengeschichte verschaffen, der Wechsel von ­einer Praxis zur anderen oder die Zusammenarbeit von mehreren behandelnden Stellen soll sich so verbessern. Der Medikationsplan soll verhindern, dass unterschiedliche Ärz­t:in­nen Medikamente verordnen, die zu Wechselwirkungen führen können. Zudem soll die ePA perspektivisch als automatisches Back-up von wichtigen Dokumenten dienen.

5. Was spricht gegen die ePA?

Die Deutsche Aidshilfe warnt in einer Handreichung vor Stigmatisierung und Benachteiligung von HIV-positiven Menschen – und auch von anderen Patient:innengruppen. Etwa Menschen mit psychischen Erkrankungen, Menschen mit Suchtvergangenheit oder queeren Menschen. „Es ist schwer zu durchschauen, welche Informationen in der Akte von wem einsehbar sind“, sagt Holger Wicht, Sprecher der Deutschen Aidshilfe. Wer die Vorteile nutzen und Nachteile vermeiden wolle, müsse viel technisches Wissen mitbringen und sich ausgiebig damit beschäftigen. „Das ist keine gute Voraussetzung für den selbstbestimmten Umgang mit Daten.“

Teile der Krankengeschichte komplett zu verbergen ist mindestens aufwendig, teils auch gar nicht möglich. So lassen sich etwa Informationen über psychische Erkrankungen, Schwangerschaftsabbrüche, sexuell übertragbare Krankheiten oder eine Substitutionsbehandlung nicht nur aus einschlägigen Dokumenten, sondern zum Beispiel auch aus dem Medikationsplan erkennen. Die Einsicht hier partiell zu erlauben geht nicht. Auch dass persönliche Gesundheitsdaten an Dritte gelangen, ist nicht ausgeschlossen. Dazu muss es nicht einmal einen Angriff auf die IT-Infrastruktur geben. Eine Lücke ist die Weitergabe der Daten für Forschungszwecke: Diese werden nicht anonymisiert, sondern nur pseudonymisiert weitergegeben. Der Name wird also entfernt, weitere persönliche Informationen, die eine Identifizierung erlauben können, bleiben.

6. Kann die ePA Leben retten?

Das Bundesgesundheitsministerium verweist hier auf Anfrage auf den Arzneimittelreport der Barmer von 2022. Die Versicherung wertet darin unter anderem ein Pilotprojekt aus, in dem Haus­ärz­t:in­nen Menschen betreut haben, die mindestens fünf unterschiedliche Medikamente dauerhaft einnehmen. Im Rahmen des Projekts haben die Praxen digital die vollständigen medizinischen Vorgeschichten der Betroffenen bekommen.

Zusätzlich haben die teilnehmenden Praxen Hinweise auf vermeidbare Risiken, etwa gefährliche Wechselwirkungen, erhalten. Die Sterblichkeit der untersuchten Gruppe sei im Vergleich zur Routineversorgung um 10 bis 20 Prozent gesunken, so die Barmer. Bundesweit hochgerechnet bedeute das ein Potenzial von 65.000 bis 70.000 vermeidbaren Todesfällen jährlich. Allerdings: Ärzt:in­nen sind nicht verpflichtet, die ePA nach möglicherweise relevanten Inhalten zu durchsuchen. Wer sich also durch die digitale Akte eine gezieltere Behandlung erhofft, sollte selbsttätig auf eventuell wichtige Inhalte hinweisen.

7. Welche Verantwortung haben Versicherte, die sich für eine ePA entscheiden?

Die Gematik – das ist die Gesellschaft, die hinter der Digitalisierung des Gesundheitssystems steht – betont: „Bei der ePA handelt es sich um eine patientengeführte Akte.“ Das bringt neben den Vorteilen wie der Möglichkeit einzusehen, wer auf die digitale Akte zugegriffen hat, auch Verantwortung mit sich. So werden in den Arztpraxen gespeicherte Gesundheitsdaten nach festen Zeiträumen gelöscht. Die ePA ist aber als dauerhafter Speicherort angelegt. Sollen Vorerkrankungen etwa aus dem Kindes- oder Jugendalter nicht für die späteren Behandelnden sichtbar sein, muss man sich selbst um die Ausblendung kümmern. Die medizinischen Institutionen sind außerdem nicht dazu verpflichtet, alte Dokumente, also solche, die vor der Erstellung der ePA entstanden sind, in die Akte einzupflegen. Wer etwa einen älteren Laborbefund darin haben will, muss das Dokument selbst einstellen.

8. Was machen Menschen ohne Smartphone?

Das Konzept ePA ist auf die Nutzung per App ausgelegt. Die meisten Krankenkassen bieten zusätzlich Programme für den Computer, allerdings in der Regel mit eingeschränktem Funktionsumfang. Für alle, die auch diese Möglichkeit nicht haben, ist ein Zugriff über eine Vertrauensperson vorgesehen – zum Beispiel ein Familienmitglied, das die Verwaltung der ePA übernimmt. Fällt auch diese Option weg, sollen Versicherte gewünschte Widersprüche gegen den Zugriff über die Ombudsstellen der Krankenkassen geltend machen können.

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