Die Ukraine und wir: Nie wieder Krieg?

Die Bevölkerung der Ukraine trägt bislang die Last des Krieges ganz allein. Für das deutsche Gebot des „Nie wieder“ ist das ein Realitätsschock.

Zeichnung einer Panzersperre aus T-Trägern

Foto: Illustration: Katja Gendikova

Was bedeutet für euch „Nie wieder“?

Diese Frage stellte ein erschöpfter und enttäuschter Präsident Selenski an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags.

Um das „Nie wieder“ ging es auch in der Debatte bei den Grünen über militärische Interventionen. Die Partei geriet in eine Zerreißprobe, als der Zerfall von Jugoslawien zu vier Kriegen führte, deren ersten man schnell übersehen konnte, weil er so kurz war, die aber mit den Gräueltaten von Vukovar und dem Beschuss von Dubrovnik unübersehbar wurden und schließlich in dem großen Morden an den Bosniern endeten.

Dieses große Morden wurde vollzogen durch Freischärler und Teile der ehemaligen Jugoslawischen Armee, die das Waffenarsenal eben dieser Armee für den Krieg gegen die Bosnier gesichert hatten. Die Verteidiger von Bosnien hatten faktisch keine militärische Ausrüstung zur Verfügung.

In Turnschuhen im Krieg

Gemäß der Parole „Keine Waffen in Krisengebiete“ verhängte die westliche Welt ein Waffenembargo über die Region. Das konnte den serbischen Kriegern herzlich schnuppe sein. Getroffen wurden die Opfer. Sie konnten sich nicht selbst verteidigen, denn das Waffenembargo hinderte sie am Aufbau einer einigermaßen verteidigungsfähigen Armee. Ich erinnere mich noch gut an diese jungen Männer in Turnschuhen und ohne Helm und Westen.

Diesem Treiben sah der Westen lange zu. Bis das Drama von Srebrenica diesem Zuschauen ein Ende bereitete. 8.000 junge Männer, fast Kinder, die aus einer von der UNO ausgerufenen Schutzzone, die keine war, ihren Mördern ausgeliefert wurden.

Das war ein Realitätsschock für all jene, die gemeint hatten, ein bloßes „Nie wieder“ reiche aus, um sich dem Bösen in der Welt entgegenzustellen. Es war – und auch das sollte nicht vergessen werden – der jüdische Überlebende des Warschauer Ghettos Marek Edelman, der lange vor Srebrenica die Weltgemeinschaft zum Eingreifen aufgefordert hatte. Nun war es da, das Ende des fundamentalen Neins zu Waffen für Schutz oder Selbstverteidigung. Der Verteidigungseinsatz der Nato dauerte zehn Tage. Wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn man sich früher zu diesem Schritt entschieden hätte.

Vier Jahre später war das Kosovo dran. Wieder trat zunächst die OSZE auf den Plan. Unbewaffnet und als Beobachter. Sie zählten die auffahrenden Militärkolonnen aus Belgrad. Die ersten Trecks kosovarischer Flüchtlinge machte sich auf gen Süden nach Mazedonien. Das erste Massengrab wurde entdeckt. Die UNO hatte keinen Mechanismus zur Verhinderung eines erneuten Völkermords. Dieser offensichtliche Widerspruch wurde durch einseitiges Handeln der Nato aufgelöst. Völkerrechtlich nicht eindeutig legitimiert, gerechtfertigt durch die Überzeugung, dass es geboten ist, einen möglichen Völkermord zu verhindern.

Von Jalta zum Maidan

Zeitensprung: Der Zerfall der Sowjetunion entlässt Länder in die Unabhängigkeit, die Teil des sowjetischen Imperiums oder als eigenständige Staaten Teil des Warschauer Pakts gewesen waren.

Auf der politischen Landkarte zeigten sich Länder, die hinter dem trennenden Graben von Jalta verschwunden waren: Polen, Rumänien, Bulgarien oder Lettland, Litauen, Estland und die Ukrai­ne, die unter dem Dach der Sowjetunion im Westen kaum als eigenständige Subjekte gesehen wurden.

Das galt insbesondere für die Ukraine. Doch die machte sich bemerkbar und reihte sich ein in das Freiheitsstreben dieser vormals gegen ihren Willen an Stalin vergebenen Vasallen. Die Orangene Revolution schickte 2004 den durch gefälschte Wahlen erkorenen Präsidenten zum Teufel. Doch nach großen Enttäuschungen im Volk kehrte er fünf Jahre später als Präsident zurück.

Der Maidan 2014: ein großes Volksfest. Zunächst. Russische Rockbands traten auf, westliche Politiker gaben sich die Klinke in die Hand, jubelten der Menge von der Bühne aus zu und nahmen ein Bad in der Menge. Ob auch nur einer von ihnen ahnte, dass mit dieser Ermunterung eine Verantwortung erwuchs? Eine Verantwortung, an der Seite der Ukrainer zu stehen, falls das Volksfest zu einem Inferno werden würde?

Es blieb nicht bei der Krim

Es kam die Annexion der Krim. Im Handstreich. Unblutig, aber brutal. Zumindest in der Folge, als die Krimtataren – zum zweiten Mal nach der Deportation durch Stalin – ihrer Rechte und ihrer Kultur beraubt wurden. Als Verhaftungen stattfanden von denen, die sich dem russischen Regime nicht beugen wollten.

Aber viele bei uns beschwichtigten: Die Krim sei nun mal das Herzblut der Russen. Doch weit gefehlt. Es ging nicht um die Krim allein. Putins Truppen setzten ihren Fuß über die Grenze, vorbereitet durch den Militärgeheimdienst GRU und assistiert durch eine Fünfte Kolonne von Banditen und halbseidenen Figuren.

Nicht die Nato kreiste Russland ein. Russland kreiste die Ukraine ein

Putin machte sich nicht die Mühe, seine Ziele zu verbergen. Die Ukraine sei ein untrennbarer Teil der gemeinsamen Geschichte, Kultur, des „geistlichen Raums“. Wer sehen wollte, konnte es sehen: Putin würde keine Ruhe geben. Der abgefallene Teil, „das Brudervolk“, sollte zurück ins Imperium. Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.

Diese Gewalt zog langsam, stetig, mit System und strategischer Logik rund um die Ukraine herauf.

Leise Töne aus Berlin

Nicht die Nato kreiste Russland ein. Russland kreiste die Ukraine ein. Im Norden über Belarus, im Osten entlang der Grenze in Südrussland, im Süden über das Schwarze Meer.

Diese als Manöver nur schlecht getarnte Kriegsvorbereitung wurde hingenommen. Die zweite Pipeline durch die Ostsee immer noch als rein betriebswirtschaftliches Projekt geschönt. Die Außenpolitiker begleiteten den Aufmarsch „mit Sorge“. Man werde einen Angriff auf die Ukrai­ne nicht hinnehmen, hieß es. Was das bedeuten sollte, blieb im Ungewissen.

Es waren die USA, die immer klarer die Erwartung formulierten, dass Putin die Ukraine angreifen lassen würde. Eine westliche Pendel­di­plo­ma­tie blieb folgenlos. Nun pilgerten sie alle zu ihm – einzeln versteht sich. Gewährt wurden Audienzen im Stile eines Zaren. Sie alle kamen mit leeren Händen aus Moskau zurück.

Fazit: Es war Putin herzlich egal, was ihm als Dialog angeboten wurde. Er wollte die Ukraine. Die Ukrai­ne ist nicht Teil der Nato, ein Beistand also ausgeschlossen, und Waffen – so unter anderem deutsche Doktrin – schickt man nicht ins Krisengebiet.

Der Terror soll sichtbar sein

Die weitere Entwicklung ist hinlänglich bekannt. Die Einkesselung von Mariupol, so hält ein erstes Rechtsgutachten von Professor Otto Luch­ter­handt fest, fällt unter den Tatbestand des Völkermords. Seit mehr als zwei Wochen sind 350.000 Menschen ohne Strom, Heizung, Wasser und Nahrung unter Belagerung. Bomben treffen gezielt zivile Ziele. Eine sichere Flucht wird ihnen durch russischen Beschuss unmöglich gemacht.

Der Terror überzieht das Land. Und er wird nicht verborgen. Der Terror soll sichtbar sein. Es geht um die Zermürbung der Bevölkerung. Eine Kinderklinik in Lwiw, die zur Triage gezwungen ist, weil die medizinischen Möglichkeiten beschränkt sind – man stelle sich das nur eine Minute vor.

Es steht außer Zweifel: Die ukrainische Armee ist seit dem Maidan von einem kleinen Häuflein erfahrener Soldaten, die an internationalen Einsätzen teilgenommen hatte, zu einer regulären Armee herangewachsen. Aber dennoch schlecht ausgerüstet, der russischen Armee weit unterlegen.

Die Bundesregierung hielt allzu lange fest an dem Grundsatz: Keine Waffen in Krisengebiete. Nun verfolgen wir den verzweifelten Abwehrkampf unzureichend ausgerüsteter Männer und Frauen, die mit einem hohen Blutzoll die russische Armee aufhalten – bisher aufhalten –, und unerwartet widerspenstig sind. Aber wie lange noch?

Es ist Zeit für eine Anzahlung

Der jüdische Präsident der Ukraine fleht die Welt um moderne militärische Ausrüstung an. Denn je schlechter die Kämpfer ausgerüstet sind, desto mehr werden sterben. Je weniger den Schlächtern in den Arm gefallen werden kann, desto mehr Zivilisten verlieren ihr Leben. Es klingt pathetisch, wenn Ukrainer reklamieren, sie kämpften auch für unsere Freiheit. Georgier, Moldauer, Balten und Polen – sie verstehen gut, was damit gemeint ist.

Ein Untergang der Ukraine würde das russische Militär an Polens Grenze bringen. Atomare Iskander-Raketen würden uns noch näher rücken. Und was, wenn Putin mit der Ukraine nicht satt wäre? Was, wenn es um mehr und immer mehr geht? Geor­gien und Moldau sowieso, eine Repu­blik Srpska und Serbien auf den Balkan, dann vielleicht doch das Baltikum. Es sind nur 65 Kilometer, die diese verletzlichen Staaten mit anderen EU- und Nato-Ländern verbinden.

Ist das wirklich nur der Krieg der Ukrainer? Wo ist das „Nie wieder“?

Die Zeitenwende ist da. Der Kanzler spricht von einer notwendigen Abwehr und militärischer Vorsorge. Offenbar wird Gefahr und Gefährdung nicht mehr ausgeschlossen. Für die Ukrainer ist sie heute da. Gelingt ihnen der Sieg, so sind wir sicher. 100 Milliarden sollen in eine neue Bundeswehr fließen. Es ist Zeit für eine Anzahlung an die, die uns die Last des Krieges abnehmen. Gebt ihnen, was sie dafür brauchen. Es geht auch um unsere Sicherheit.

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Die Osteuropa­expertin war viele Jahre Abgeordnete der Grünen im Bundestag. 2017 wurde sie Mitbegründerin des Zentrums Liberale Moderne.

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▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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