Die These: Spaltung der Gesellschaft? Quatsch!
Das Geplapper von der „Spaltung der Gesellschaft“ erklärt gar nichts. Wer davon spricht, will nicht über Interessenunterschiede oder Macht reden.
B itte spreche niemand mehr von der „Spaltung der Gesellschaft“. Man hört davon derzeit rund um die Uhr. Keine andere Wendung wird, als sei sie ein Geschütz, um Offenkundiges zu markieren, so oft in Stellung gebracht. Ich nenne sie hier nur SdG, das verschwendet weniger Platz.
Eine simple Google-Suche besagt: SdG bringt es auf 8,6 Millionen Ergebnisse. Es wird etwa der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz angezeigt, er hält die SdG im Zusammenhang mit der „Ungleichheit“ für besonders auffällig. Aber die ökonomischen Wissensdisziplinen sind nicht die einzigen Bereiche, in denen diese Chiffre wie aus einem Zauberkasten hervorgekramt wird. Die digitale SdG hat die Bertelsmann Stiftung im Blick, in der Frankfurter Rundschau hingegen wird die Coronaberichterstattung mit der Warnung vor der SdG aufgepeppt.
Der TV-Sender Sat.1 fragt aktuell: „2G: Spaltung der Gesellschaft oder Notbremse in der Pandemie?“ Ebenfalls sehr gern taucht die SdG auf in den kultur- und politikreligiösen Sendungen von Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur, sehr oft im Expert*innengespräch. Gefühlt jeden Tag und stündlich warnt irgendeine berufene (oder unberufene: in Form von Hörer*innenbeiträgen) Person vor ihr.
Aber die SdG erklärt nichts, gar nichts, niemals. Denn davon abgesehen, dass „Gesellschaft“ kein Subjekt ist, kein Mensch, sondern ein gedachtes Ganzes, die Kategorie schlechthin in der Soziologie, kann niemand Gesellschaft ermessen. Es gibt keine Beobachtungsposition, keinen Hochsitz im Wald beim Ausspähen von Getier und Geschehen, von der aus auch nur irgendeiner von uns einen Überblick zum oder gar vom Ganzen, Gesellschaftlichen hat.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Maßgrößen existieren nicht, niemand könnte sagen, beispielsweise und nur fiktiv: 31,3 Prozent aller Irgendwermenschen möchten dies & das und handeln so oder so. Denn das große Gewusel namens Gesellschaft ist ein Objekt, das stets beobachtbar wirkt – und doch nie sein kann. Trotzdem rattert die Diskursmaschine weiter (aus Büchern und Aufsätzen, Texten wie diesem hier natürlich auch), lebt eine ganze Deutungsindustrie von der nur eingebildeten Kraft, so etwas wie Gesellschaft vollumfänglich erklären zu können.
Schlager der Plapperei
Dabei sind Gesellschaftsdiagnosen immer nur von Wert, werden sie in Smalltalk-Gewittern in der Bahn, im Kolleg*innenkreis oder auf Partys geäußert. „Finden Sie nicht auch, dass wir in einer erschöpften Gesellschaft leben?“ Oder, um mal ein paar magische Worte, allesamt Schlager der Plapperei, zusammenzupappen: „Die spätkapitalistische Gesellschaft findet wirklich nicht mehr aus dem Burn-out heraus, uns droht eine depressive Zeit.“ Der Top-Hit unserer Zeit bleibt indes die Rede von der „Spaltung der Gesellschaft“, um diese opulente Formel dann doch noch mal auszuschreiben.
Meist folgen auf den Befund noch gute oder weniger gute Ratschläge: „Wir brauchen mehr Entschleunigung“ oder „Wir brauchen bessere Kommunikation“. Was aber nicht gesagt wird, wenn die SdG zur Sprache kommt, ist das soziologisch Banalste: Dass Menschen verschieden sind, dass sie divers ticken und im Übrigen auch sehr gern irrtumsanfällig, erratisch sind. Sie haben nämlich Interessen, eigene. Die zu ermitteln wäre wichtig, sie zur Kenntnis zu nehmen oder nehmen zu müssen, darauf käme es an.
SdG – das ist die Formel des explorierten Nichts und Alles, und vermag nicht damit umzugehen, wenn Menschen einfach ihre (gemeinsame) Kraft einsetzen, um etwas gegen andere durchzusetzen. Wie etwa, klassisch aus der Arbeiter*innenbewegung, mit einem Streik: Lohnabhängig Beschäftigte wollen etwas durchsetzen und ihr Arbeitgeber muss sich dem stellen, ob mit dem Streik nun eine Spaltung des Betriebes attestiert werden muss oder nicht. Ein Streik, bei dem es ums Eingemachte, mithin um Geld und Zeit, geht, ist immer eine spalterische Angelegenheit – und das ist auch richtig so.
Das aber ist dann kein Partygeplauder mehr, in der kommunikative und kritisch gesinnte Besorgnis der wohlfeilsten Sorte geäußert wird, sondern eben eine Interessenkollision, die entweder in einen Kompromiss mündet, in der Zerschlagung der Aktion (mit womöglich krassen Folgen für die Rädelsführer*innen) oder im Erfolg dessen, was eben ein Streik vermag: eine Lohnerhöhung, die Gründung eines Betriebsrats oder kürzere Arbeitszeiten.
Antipolitische Wendung
Entsprechend charakterisieren Klimastreiks ebenfalls keine SdG, sondern den Aufbruch der jugendlichen Generationen gegen die Folgen der Klimakrise. Doch, so oder so: Eine SdG ist das alles nicht, sondern ein Zeichengewitter an neuer gesellschaftlicher Bewegung.
Mit anderen Worten: Da „Gesellschaft“ ein hochkompliziertes Gebilde ist, da sie eben keine „Gemeinschaft“ ist, kein familiäres Konstrukt, sondern arbeitsteilig, kommunikativ verwirrend uneinheitlich, multikulturell und multischichtenartig strukturiert, ist die Rede von ihrer Spaltung antipolitisch. Wer von SdG spricht, will über Interessengegensätze, möchte über Macht nicht reden.
Ein demokratischer Staat kann, ja darf sich in puncto Corona nicht auf hochempfindsame Überlegungen und zeitlästige Dauergrübeleien verlegen, wie man die aktuell explodierenden Inzidenzziffern möglichst ohne SdG moderiert. Sein Job ist nicht der einer Moderation, sondern der einer ethischen Güterabwägung – und bei dieser darf in der Tat von einer „Tyrannei der Ungeimpften“ gesprochen werden. Diese blockieren mit ihren Impfunwilligkeiten Versorgungspotenziale in Krankenhäusern. Wichtige, lebenserhaltende Operationen können nicht ausgeführt werden, weil die Bettenkapazitäten von den Impfunwilligen in Beschlag genommen werden.
Das Geschwätz von Spaltung behindert gute Coronapolitik
Und die Politik, die neue Regierung? Verhält sich wie auf einer Party, auf der sich alle einig sind, dass man eine SdG doch auf keinen Fall riskieren wolle. Und genau das ist falsch, weil Rücksicht genommen wird, hinter der sich Entscheidungsschwäche verbirgt. Wenn schon keine Impfpflicht durchgesetzt werden kann – obwohl diese so populär wie ein Tempolimit auf Autobahnen von 130 ist –, dann doch bitte ernsthafte 2G-Lösungen. Wer dem nicht folgt, kann nicht in Restaurants innen Platz nehmen, für den sind Partys und andere öffentliche Geselligkeiten unmöglich.
Das Geschwätz von SdG hat verhindert, dass man Tacheles redet. Wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der sich vom dissidenten Impfskeptiker*innenchor nicht einschüchtern lässt. SdG – das ist die Ausrede an sich, demokratische Entscheidungen zu unterlaufen, wenigstens atmosphärisch.
Politisch zu sprechen, darauf käme es an: Dass in den Schulen wahrlich nicht überall Corona gemanagt wird, dass dies besonders die Schüler*innen ohne bildungsaffinen Hintergrund trifft. Dass Pflege- und Krankenhauspersonal einer Impfpflicht unterworfen sein sollte. Und dass, wer in U- und S-Bahnen oder in Zügen keine Maske trägt, nicht mitgenommen werden kann.
Das ist zwar im Einzelfall fies und blöd, aber der Preis, den Antiimpfungsmenschen zu zahlen haben. Worauf es ankommt, ist nämlich weniger das Individualistische, das Unbehagen am Camouflierten, Gesichtsbedeckten – sondern Solidarität.
Wie das zweckmäßig organisiert wird, und zwar durchaus zum Verdruss vieler, ist in Spanien, Portugal, Israel oder in Italien zu bestaunen. Ein seriöses Coronaregime, das etwa auf Diskursteilnehmer*innen wie etwa die Schriftstellerin Juli Zeh vielleicht freiheitseinschränkend wirkt, aber auf sie kommt es nicht an.
Freiheit ist hier nur das Prinzip: sich und andere vor der Erkrankung an Corona zu bewahren. Dass das zu einer Spaltung der Gesellschaft führen kann: Na und?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid