Die These: Schadenfreude ist okay
Die Briten wollten den Brexit – und ärgern sich nun über das Versorgungschaos. Darf man deshalb eine gewisse Genugtuung empfinden? Unbedingt.
U m es gleich vorwegzunehmen: Ich habe nichts gegen die Briten. Im Gegenteil, ich mag ihren Humor, ihre Sprache, ihre Landschaft, ihre Musik, ihren Tee und überlege, nächsten Sommer mal wieder hinzufahren.
Und doch ist da, wenn ich die Berichte über das Versorgungschaos in Großbritannien lese, diese Schadenfreude. Leere Regale in den Supermärkten; Fisch, der in den Lagerhallen verrottet, weil niemand ihn abholt; Soldaten, die Benzin ausliefern müssen, weil es sonst keiner tut. Die Erklärung der britischen Regierung, das seien nur Startschwierigkeiten auf dem Weg in eine tolle eigenständige Zukunft, klingt wenig überzeugend angesichts der Probleme. Und ich denke: Selbst schuld, das habt ihr nun von eurem Brexit! Ihr wolltet ihn ja unbedingt.
Es ist ziemlich schäbig, sich über die Sorgen anderer zu freuen, ja geradezu Genugtuung zu empfinden. Oder nicht?
Ironischerweise ist Schadenfreude ein Wort, das – wie „kindergarden“ oder „gemutlichkeit“ – auch im Englischen verwendet wird, weil es dafür offenbar keine eigene treffende Bezeichnung gibt. Daraus könnte man ableiten, dass es sich um ein spezifisch deutsches Gefühl handelt. Aber das wäre dann doch etwas platt, Schadenfreude empfinden Menschen auf der ganzen Welt. Sie ist schlicht die fiese Schwester des Mitleids und wird von bestimmten Faktoren ausgelöst.
Zum Beispiel von „Verdientheit“, wie Lea Boecker von der Leuphana Universität Lüneburg erklärt. Die Sozialpsychologin forscht zum Thema Schadenfreude. Wenn ein Unglück nicht einfach so über jemandem hereinbreche, sondern die Folge einer selbst gefällten Entscheidung sei, dann begünstige das Schadenfreude.
Beim Brexit gilt das zumindest für die Regierung und die Hälfte der Bevölkerung, die für den Austritt stimmte. Die Idee eines vereinten Europas ist etwas sehr Wertvolles, Boris Johnson und Co haben sich von ihr verabschiedet. Insofern fühlt es sich irgendwie gerecht an, dass sie jetzt den Schaden davontragen. „Take Back Control“ lautete der Brexit-Slogan, das Gegenteil ist nun der Fall.
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Die Brexiteers bedienten bekanntlich auch Ängste vor Überfremdung. „We want our country back!“, rief Nigel Farage 2015, damals noch Ukip-Chef, auf einem Parteitag und forderte die Unabhängigkeit von der EU. Man konnte das genauso als Botschaft an Zugewanderte verstehen. Viele Briten stimmten für den Austritt, weil sie nicht mehr so viele OsteuropäerInnen aus der EU ins Land lassen wollten, geschweige denn Flüchtlinge.
Nun ist ein Teil der Menschen tatsächlich weg, ihre Arbeitskraft fehlt und lässt sich nicht so leicht ersetzen, die Lieferketten funktionieren nicht mehr. Dass der Zusammenhang zwischen den Gründen für den Brexit und den Konsequenzen daraus so unmittelbar sei, befördere ebenfalls die Schadenfreude, sagt die Sozialpsychologin Boecker, „das hat einen noch abstrafenderen Charakter“. Und: „Manche Autoren sagen, Schadenfreude ist eine moralische Emotion.“
Menschen neigen vor allem dann zur Schadenfreude, wenn sie sich dem Geschädigten gegenüber vorher unterlegen gefühlt haben, zeigen Studien. Die Emotion kann Hierarchien verschieben, sie reguliert unseren Selbstwert. Boecker erklärt: „Das ist eine psychologische Funktion von Schadenfreude: Man fühlt sich besser.“
Schadenfreude sagt viel über denjenigen aus, der sie empfindet. Man könnte die Genugtuung über das Nach-Brexit-Chaos daher auch so lesen: Großbritannien hat sich gegen die EU und damit gegen uns entschieden, die Briten haben uns verlassen, obwohl wir gern mit ihnen zusammengeblieben wären. Der Brexit war eine Kränkung. Jetzt, da der Weg ohne uns doch recht holprig wird, sind wir wieder in der stärkeren Position.
Das Chaos auf der Insel kann den Rest der EU stärken
Das Bätschgefühl angesichts der Versorgungsengpässe lässt sich also ziemlich gut erklären. Es hat nicht nur eine psychologische, sondern auch eine politische Funktion. So traurig es ist: Dem Projekt Europa hilft es, wenn die Briten jetzt in Schwierigkeiten geraten. Das Chaos auf der Insel schreckt all jene ab, die vielleicht selbst mal mit einem Austritt geliebäugelt haben, es kann die Bindungen zwischen den übrig gebliebenen EU-Ländern stärken.
Vor diesem Hintergrund ist ein bisschen Schadenfreude schon okay. Vorausgesetzt, den Briten geht es nicht wirklich schlecht. Wenn nicht mehr nur das Benzin knapp ist und Gemüse fehlt, sondern Menschen echte Not leiden, wenn es gar zu Aufständen kommen sollte, dann kippt – allem Brexit-Ärger zum Trotz – auch meine Schadenfreude sicherlich schnell in Mitleid und Sorge.
Wie nahe diese Gefühle beieinanderliegen, konnte man übrigens in den vergangenen Wochen mit Blick auf die CDU erleben. Angesichts des schlechten Wahlergebnisses der Union war die Schadenfreude zunächst groß. Wenn man nun Armin Laschet sieht, wie er den Absprung nicht findet, gedemütigt von den eigenen Leuten – er kann einem inzwischen leidtun.
Auch wenn man meint, dass die Briten mit dem Brexit die falsche Entscheidung getroffen haben und das nun zu spüren bekommen: Allzu überlegen sollte man sich nicht fühlen. Wie anfällig die Versorgungsketten auch bei uns sind, EU hin oder her, hat zuletzt die Klopapierkrise während der Pandemie gezeigt. Weil der Preis für Hartweizen so stark gestiegen ist, wird derzeit vor einem Nudelengpass gewarnt. Die hohen Gaspreise könnten in den kalten Monaten auch hierzulande zu einem echten Problem werden. Schließlich haben nur noch wenige einen alten Kachelofen in der Wohnung, den sie notfalls mit Kohle anheizen könnten.
Es mag naiv klingen, aber toll wäre es schon, wenn die Briten sich das mit dem Brexit noch mal überlegen würden. Ein neues Referendum irgendwann, warum nicht? Zusammen wären wir stärker. Und netter zueinander: Dann gäbe es statt Schadenfreude wieder Empathie.
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