Debatte über ein Jahr Cannabisgesetz: Einmal tief einatmen, bitte
Fast so schlimm wie die Paranoia nach misslungenem Gras-Genuss, sind die Angstszenarien von konservativer Seite.
G rundregel für einen bekömmlichen Cannabiskonsum: nicht paffen, sondern tief einatmen, kurz Luft anhalten, ausatmen – und dann erst mal wirken lassen. Denselben Tipp sollte man den koalitionsverhandelnden Parteien SPD und Union in der Diskussion um die Cannabislegalisierung geben. Schon einen Tag bevor sich die Teillegalisierung am 1. April zum ersten Mal jährt, meldet sich CSU-Innenminister Joachim Herrmann zu Wort und hustet was von einem großen Fehler, den man rückgängig machen müsse: Die Entkriminalisierung von Anbau und Konsum habe nichts gegen organisierte Kriminalität geholfen, Verkehrsdelikte nähmen zu, die Jugend sei gefährdet.
Noch mal alle zusammen: tief einatmen, Geduld haben. Denn Deutschland hat bis jetzt nur an der Legalisierung gepafft und wartet nun völlig unentspannt, dass sich die gewünschte Wirkung sofort einstellt. Aber erstens ist es dafür zu früh. Und außerdem haben diejenigen, die die Reform umsetzen sollten, längst nicht genug getan, um der ersehnten Wirkung auch wirklich eine Chance zu geben.
Anbauclubs, die den Bedarf decken und damit den Schwarzmarkt trockenlegen, gibt es nur vereinzelt – sei es, weil die politisch Verantwortlichen, etwa in Berlin, fast schon kiffertypisch lethargisch sind, sei es, wie in Bayern, dass sich die Landesregierung in gewohntem Mia-san-Mia-Radikalismus einfach gesperrt hat und keine Genehmigungen gibt.
Aber beim Gras führen Hektik und Schnappatmung erst recht zu Paranoia, wie man bei Herrmann sieht. Die Angstvorstellung, dass Deutschlands Parks jetzt voller von Legalität verlockter Kiffer sind, mag sich mit mancher anekdotischen Erfahrung decken. Die Statistiken geben aber ein anderes Bild: Nur 3 Prozent gaben bei einer Yougov-Umfrage an, wegen der Legalisierung gekifft zu haben. Und was Verkehrszahlen etc. betrifft, lohnt sich ein Blick auf Kanada oder US-Staaten wie Colorado, die schon mehr Erfahrung haben und keine relevante Erhöhung von Verkehrsunfällen feststellen.
Also, liebe Union, liebe SPD: einatmen, ausatmen, wirken lassen. Erst dann an den nächsten Zug denken.
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