Corona-Impfstoff von Biontech: Die verflixte siebte Dosis
Wegen rechtlicher Unsicherheiten landet viel Impfstoff derzeit im Müll. Eine Impfhelferin, die das nicht richtig fand, darf nun nicht mehr arbeiten.
Diese Unsicherheit lässt sich in Zahlen fassen. Jede Biontech-Durchstechflasche enthält nach Verdünnung rein rechnerisch 7,5 mögliche Impfdosen. Zugelassen sind von der Europäischen Arzneimittelbehörde aber nur 6 Dosen, zum Impfstart waren es sogar nur 5. Es ist üblich, dass bei auf diese Weise zu verabreichenden Medikamenten eine Reserve in der Flasche bleibt. In einer Pandemie, in der Impfstoff weltweit knappes Gut ist, hat diese Reserve aber eine ethische und politische Dimension.
„Wer einmal gelernt hat, steril Spritzen aufzuziehen, für den ist es kein Problem, daraus eine siebte Dosis zu gewinnen“, sagt Julia Weise. Wegen der rechtlichen Unsicherheiten werden in den meisten Impfzentren aber nur 6 Dosen pro Biontech-Durchstechflasche verimpft. Rein rechnerisch sind so seit dem Impfstart bis zu 15 Prozent der in Impfzentren möglichen Biontech-Dosen verworfen worden. Das wären allein bei diesem Impfstoff weit über 1 Million Impfdosen. Auch bei Moderna und AstraZeneca ist jeweils eine zusätzliche elfte Dosis möglich.
Bei den mobilen Impfteams, mit denen Weise auch unterwegs war, habe man die Frage der siebten Biontech-Dosis je nach Team „pragmatisch gelöst“. Bei einem Einsatz kam es aber zur Eskalation: Wenn sie mehr als sechs Spritzen pro Flasche aufziehe, dann sei sie raus, habe man Weise gesagt. „Ich kenne so viele, die verzweifelt auf eine Impfung warten“, sagt sie. Sie bestand darauf, dass man keinen Impfstoff verwerfen dürfe. Ihre bereits vereinbarten Einsätze als Impfhelferin wurden daraufhin von der Koordinierungsstelle storniert.
Hausärztin Jana Husemann
Julia Weise ist nicht die Einzige, der es so erging. Wie die Sächsische Kassenärztliche Vereinigung bestätigt, wurde einer Ärztin im Erzgebirge die weitere Mitarbeit im Impfzentrum untersagt, nachdem sie überschüssige Dosen verimpft hatte.
Die Ärztin Jana Husemann aus Hamburg verimpft dagegen schon länger die zusätzlichen Dosen. „Das ist nur eine Frage der Technik“, sagt sie. Anders als bei den Bund und Ländern unterstehenden Impfzentren handeln die Hausärzt*innen in eigener Verantwortung. Eine Strafbarkeit beim Abweichen von den zugelassenen Dosen verneinten Strafrechtler*innen schon Mitte März in einer Risikoanalyse.
Mit einem im April an die Landesministerien verteilten Informationsblatt stellt auch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) inzwischen klar, dass die Hersteller zwar die zusätzlichen Dosen nicht garantieren, die Entnahme aber möglich und gesetzlich zulässig sei. Sie erfordere aber „auf Seiten der Anwender eine besondere Umsicht und Sorgfalt“. Gemeint sind neben Erfahrung und Technik insbesondere die Verwendung spezieller Spritzen und Kanülen, die allerdings bei Biontech auch schon für die sechste Dosis vorgesehen sind. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung veröffentlichte Auszüge aus dem Schreiben auf ihrer Homepage.
„Die sichere Entnahme der Impfdosen liegt grundsätzlich in der Verantwortung der ärztlichen Person bzw. des Personals, das den Impfstoff unter fachlicher Verantwortung in geeigneten Spritzen aufzieht“, teilt das BMG auf Anfrage der taz mit. Eine Unterdosierung ist bei jeder Dosis sicher auszuschließen.
Die rechtliche Unsicherheit aber bleibt, solange es keine klare Empfehlung zur Entnahme aller möglichen Dosen gibt. „Eine offizielle Ansage wäre nötig, damit Ärzte nicht aus Verunsicherung die zusätzlichen Dosen verwerfen“, fordert Husemann, die auch Vorsitzende des Hamburger Hausärzteverbands ist. Auch der Deutsche Hausärzteverband verlangte jüngst nach mehr Rechtssicherheit.
Eine Petition scheiterte in Bayern
Es werde vermutet, sagt Husemann, dass die Bundesregierung dies vermeidet, weil dann die Hersteller die Impfstofflieferungen an Deutschland kürzen könnten. Bei der Zulassung der sechsten Biontech-Dosis war genau das passiert. „Aber wir können doch nicht hier in Deutschland Impfstoff verwerfen, wenn er auf der ganzen Welt fehlt“, so Husemann.
In einzelnen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein wird die Entnahme der zusätzlich möglichen Dosen inzwischen empfohlen. In Bayern scheiterte die Petition eines Hausarztes gegen die Impfstoffverschwendung.
Julia Weise, die in Sachsen nicht mehr als Impfstoffhelferin eingesetzt wird, sind eine Menge lukrativer Schichten entgangen. „Aber mir geht es doch nicht ums Geld“, sagt sie. „Ich will, dass hier endlich alles verspritzt wird, was da ist.“
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