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Betroffene über einen Justizskandal„Ich fühle mich noch eingesperrt“

Yuladi L. saß sieben Monate unschuldig in Untersuchungshaft ohne ihr Baby. Ein Gespräch über das Trauma der Haft und einen deutschen Justizskandal.

Die Kolumbianerin Yuladi L Foto: Miguel Ferraz Araújo
Katharina Schipkowski
Interview von Katharina Schipkowski

wochentaz: Sie saßen sieben Monate unschuldig in Untersuchungshaft, weil Sie des Mordes angeklagt waren. Ihr Baby durfte nicht bei Ihnen sein, obwohl es im Gefängnis freie Mutter-Kind-Zellen gab. Wie fühlt es sich an, Ihren Sohn wieder zu haben?

„Als sie meinen Sohn mitnahmen – das war der schlimmste Moment meines Lebens“

Yuladi L. über ihre Festnahme

Yuladi L.: Es ist unvorstellbar. Ich bin glücklich, wieder mit meinem Sohn zusammen zu sein, aber es ist auch schwierig. Wir müssen ganz neu anfangen und uns wieder aneinander gewöhnen. Die Zeit im Gefängnis, als ich ihn weder lachen noch weinen hören konnte, ihm nicht beim Krabbeln und Laufenlernen zusehen durfte, war sehr traumatisch.

Ein deutscher Justizskandal

Die Anklage

Von Juni bis Ende August musste sich Yuladi L. vor dem Hamburger Landgericht als Angeklagte in einem Mordprozess verantworten. Ein Mann war in seiner Wohnung mit bloßen Händen getötet worden. L. war zu der Zeit im 9. Monat schwanger. Für die Tatzeit hatte sie ein Alibi, sie hatte in einem Hotel geputzt. Eine Kollegin bestätigte das Alibi gegenüber der Polizei und vor Gericht. Nach dem Mord sagte L. als Zeugin bei der Polizei aus und gab an, wenige Tage vor der Tat bei dem Mann gebügelt zu haben, weil sie sich bei ihm als Haushaltshilfe beworben hatte. Sie gab freiwillig eine DNA-Probe ab. Die Polizei fand ihre DNA am Tatort und nahm sie Mitte Dezember 2022 fest.

Die Untersuchungshaft

Yuladi L. musste 7 Monate in U-Haft verbringen, ihr Baby landete in Heimen. Ihre Anwältinnen beantragten mehrfach, das Baby bei ihr in der Haft unterzubringen – Platz dafür gab es, die Haftanstalt weigerte sich. Yuladi L. hieß in früheren taz-Artikeln Gabriela Martinez, ein Pseudonym zum Schutz ihrer Identität. Seit dem Freispruch verwenden wir ihren echten Namen.

Wie oft haben Sie sich gesehen, während Sie im Gefängnis saßen?

Wir durften uns drei Monate lang überhaupt nicht sehen, danach brachte das Jugendamt ihn einmal pro Woche. Erst die zweite Instanz des Familiengerichts zwang das Amt, ihn dreimal pro Woche zu mir zu bringen. Das war schon kurz vor meinem Freispruch.

Wie wirkt sich das Erlebte auf Ihren Sohn aus?

Während ich eingesperrt war, berichtete das Jugendamt regelmäßig, dass er nicht schlafen konnte und mit dem Kopf immer gegen die Matratze schlug. Das macht er nicht mehr, seit er wieder bei mir ist. Auch körperlich geht es ihm besser, er ist viel aktiver und besser gelaunt, einfach fröhlicher. Man merkt das sehr.

Ihr Sohn ist in Hamburg geboren, Sie kommen aus Kolumbien. Was hat Sie hierher verschlagen?

Mein Bruder wohnt schon lange hier. In Kolumbien habe ich sehr viel im Hotelgewerbe gearbeitet, aber wenig verdient. Ich habe zwei Töchter, eine ist 7, die andere 14 Jahre alt. Im Oktober vor zwei Jahren kam ich her, um für meine Kinder eine Zukunft aufzubauen. Hier in Deutschland fiel mir auf, wie unbeschwert die Kinder herumlaufen. Außerdem ist das Bildungslevel sehr hoch. Da habe ich beschlossen, meine Töchter herzuholen, damit sie hier studieren können. Aber dafür muss ich noch mehr Geld sparen.

Im Dezember 2022 wurden Sie dann plötzlich verhaftet. Die Polizei hatte Ihre DNA-Spuren am Tatort eines Mordes gefunden. Sie hatten dort fünf Tage vor der Tat Hemden gebügelt, um sich als Haushälterin zu bewerben.

Die Polizei klopfte frühmorgens an die Tür. Ich wunderte mich, denn eigentlich kannte niemand die Adresse unserer kirchlichen Schutzwohnung. Also machte ich nicht auf und ging mit meinem Sohn ins oberste Stockwerk. Aber irgendwie kamen sie rein.

Was sagten die Polizist*innen?

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Wir konnten uns schlecht verstehen. Alles, was ich denken konnte, war: Sie wollen uns abschieben. Ich zeigte ihnen meinen Pass und einen Zettel, auf dem steht, dass ich bald legale Papiere bekommen würde. Sie sagten: „Sie werden verdächtigt, einen Mann ermordet zu haben.“ Da bin ich zusammengebrochen. Sie setzten mich auf einen Stuhl. Als ich wieder bei mir war, war mir sehr, sehr kalt. Die Po­li­zis­t*in­nen erklärten mir, dass ich einen Anwalt anrufen sollte und alles, was ich sagte, mich später belasten könnte.

Wie reagierte Ihr Sohn?

Er war da ein halbes Jahr alt und hatte noch nie so viele Leute auf einmal gesehen. Er guckte ganz neugierig. Dann sagten die Polizisten, dass sie mich mitnehmen würden und er zu einer Frau vom Jugendamt kommen würde, bis sich die Situation geklärt hätte. Ich dachte, das wäre eine Sache von ein oder zwei Stunden. Ich zog mich und meinen Sohn an. Aber als sie ihn dann mitnahmen – das war der schlimmste Moment meines Lebens.

Wie ging es weiter?

Auf dem Polizeirevier rief ich meine Anwältin an. Ich dachte, sobald sie da wäre, würde sich alles klären und ich könnte gehen. Stattdessen wurde ich ins Gefängnis gebracht. Die Haftrichterin wollte mich nicht gehen lassen, weil ich keine Aufenthaltserlaubnis hatte.

Wie haben Sie die Untersuchungshaft erlebt?

Es ist ein schrecklicher Ort. Sehr hässlich, sehr kalt, das Essen schmeckt gar nicht, alles dort ist schlimm. Ich habe die ganze Zeit geweint, konnte kaum schlafen, kaum essen. Ich habe darüber nachgedacht, mir das Leben zu nehmen. Eine Anklage wegen Diebstahls oder so wäre ja noch aushaltbar. Aber wegen Mordes! Ich konnte es nicht fassen, so eine Ungerechtigkeit.

Wie erklären Sie sich, dass gerade Sie in diese Situation geraten sind – purer Zufall oder gibt es strukturelle Gründe?

Ich denke, dass Rassismus ein Grund dafür ist. Erstens wegen meiner Hautfarbe, zweitens weil ich keine Papiere hatte. Die Haftrichterin, die entschied, mich in Untersuchungshaft zu nehmen, entschied auch während des Verfahrens über alle weiteren Haftfragen. Sie entschied, den Haftbefehl sieben Monate lang aufrechtzuerhalten.

Was würden Sie ihr gern sagen?

Dass das sehr großen psychischen Schaden anrichtet. Ich leide sehr stark darunter. So etwas darf einfach nicht passieren. Es ist unglaublich schwer, ein solches Trauma zu überwinden.

Bekommen Sie Hilfe?

Ja, die Kirche hat mir eine Psychologin vermittelt. Von staatlicher Seite wurde mir nichts angeboten.

Wie äußert sich Ihr Trauma im Alltag?

Ich fühle mich immer noch eingesperrt und ich kann nicht schlafen. Manchmal weiß ich nicht, ob es besser wäre, noch eingesperrt zu sein. Mitunter fange ich plötzlich an zu weinen, die Erinnerungen an die Zeit im Gefängnis brechen über mich herein. Ich denke viel an die Menschen, die noch drinnen sind. Die noch warten müssen oder die verurteilt wurden. Das ist so hart.

Was hat Ihnen im Gefängnis geholfen, das alles zu ertragen?

Meine Gebete und der Kontakt zu meinen Anwältinnen. Ich habe jeden Tag mit ihnen telefoniert, das hat mir unglaublich geholfen. Und wenn sie mich besucht haben, hat mich das immer sehr glücklich gemacht, weil ich wusste, jetzt passiert etwas Gutes.

Konnten Sie auch mit Ihren Töchtern telefonieren, die noch in Kolumbien sind?

Ja, aber erst nach sechs Monaten. Ich wollte sie natürlich sofort sprechen, ich hatte große Sehnsucht. Aber die Polizei will mithören, wenn du telefonierst, und sie haben angeblich sechs Monate lang keinen spanischsprachigen Polizisten gefunden. Oder keinen, der Zeit hatte.

Nach zwölf Verhandlungsterminen sprach der Richter Sie frei. Er entschuldigte sich und sagte, Ihre Unschuld sei eindeutig erwiesen. Wie hat sich das angefühlt?

Ich habe geweint. Es war eine unglaubliche Erleichterung, zu hören, dass alles vorbei ist. Aber es war auch stressig. Ich war in den Zeitungen und im Fernsehen, ich habe das Gefühl, dass mich auf der Straße alle angucken. Und es stellen sich so viele Fragen: Wie wird das Zusammenleben mit meinem Sohn klappen, wie werden mich die anderen Mütter in der Kita angucken, werden sie mich akzeptieren?

Was machen Sie mit den 16.000 Euro, die Sie als Entschädigung für die Haft bekommen?

Ich möchte meine Töchter herholen. Aber erst mal muss ich vielleicht noch eine der Anwältinnen von dem Geld bezahlen, ich hatte ja zwei. Zwar muss der Staat die Verfahrenskosten tragen, aber vielleicht übernimmt er nur die Kosten für eine Anwältin, das Gericht prüft das noch. Eventuell muss ich auch das DNA-Gutachten bezahlen, das die Anwältinnen in Auftrag gegeben haben. Und dann wäre das Geld auch schon fast weg.

Sie hatten für den Tatzeitpunkt ein Alibi, das vor Gericht von einer Zeugin bestätigt wurde. Das Gutachten brachte den endgültigen Beweis für Ihre Unschuld. Es zeigte auf, dass Ihre DNA-Spuren, die sich am Tatort befanden, mehrere Tage vor der Tat dort hingelangt sein können.

Genau. Die Ermittler hätten sich diese Frage natürlich auch stellen müssen – haben sie aber nicht. Es ist ihr Fehler, also müssen sie die Kosten dafür tragen. Wir haben das beantragt, aber es dauert, bis darüber entschieden wird. Bis ich die 16.000 Euro bekomme, wird auch mindestens ein halbes Jahr vergehen. Ich fange jetzt wieder an zu arbeiten. Eine Arbeitserlaubnis und eine Aufenthaltserlaubnis habe ich mittlerweile.

Ist es überhaupt möglich, Sie für das, was Sie erlebt haben, zu entschädigen?

Nein. Ich wüsste nicht, wie. Ich habe großen, emotionalen Schaden erlitten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass alle über mich reden. So etwas tut weh. Ich fühle mich verurteilt, obwohl ich unschuldig bin und freigesprochen wurde.

Können Sie sich vorstellen, in dem Staat zu leben, der Ihnen das angetan hat?

Ich habe oft gedacht, ich könnte es nicht. Aber dann denke ich wieder an meine Kinder und die gute Bildung, die sie hier bekommen können. Mal sehen, ob sie sich hier wohlfühlen, danach entscheiden wir es. Mir ist wichtig, dass der Staat alle Kosten übernimmt, die mir entstanden sind. Es wäre das Mindeste. Die Behörden haben versagt, ich habe nichts getan.

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