Aufarbeitung von NS-Verbrechen: Mit 60 Litern Benzin zur Synagoge
Zwei Historiker rekonstruieren den Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge von 1938. Sie stoßen auf neue Beteiligten. Dessen 90-jähriger Sohn läuft Sturm.

Die Synagoge in Erfurt ist ein unscheinbarer Bau. Zwei Etagen, über dem Eingang ein Davidstern, schmale Fenster. Man könnte sie glatt übersehen, neben dem elfgeschossigen Wohnblock.
Dennoch ist diese Synagoge besonders. Sie ist die einzige heute genutzte Synagoge in Thüringen. Und sie ist die einzige, die nach dem Holocaust auf dem Gebiet der DDR neu gebaut wurde. Sie steht heute da, wo bis 1938 die prunkvolle Große Synagoge von Erfurt stand. Die Nazis hatten sie am 9. November 1938 geplündert, zerstört und angezündet.
Man könnte meinen, dass wenige Ereignisse so gut erforscht sind wie die Novemberpogrome der Nazis. Die Synagoge in Erfurt erzählt eine andere Geschichte.
An einem kalten Tag Ende Mai steht Tom Fleischhauer vor der Erfurter Synagoge und bewundert ihre neueste Attraktion: ein Tastmodell der alten Großen Synagoge, die die Nazis zerstörten. Ein 3D-Drucker hat es gedruckt, 68 mal kleiner als die Synagoge ursprünglich war. Feine Davidsterne schmücken die Modellfenster.
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Beschwerden, Drohungen, Anzeigen
Tom Fleischhauer ist Geschichtslehrer in Jena. Einer, für den Geschichte mehr ist als ein Unterrichtsfach. In den Sommerferien bietet er für seine Schüler:innen einen dreitägigen Extra-Ausflug in die KZ-Gedenkstätte Buchenwald an, weil er findet, dass der dafür vorgesehene eine Tag nicht reicht.
In seiner Freizeit schreibt er Aufsätze zur Regionalgeschichte. Seine Forschung baut er in den Unterricht ein. „Ich will, dass meine Schüler verstehen, dass das Dritte Reich nicht weit weg war. Es waren auch die Menschen aus Erfurt und Jena, die den Holocaust voran getrieben haben.“
Fleischhauer hat zusammen mit der ehemaligen Leiterin des Erfurter Stadtarchivs, Antje Bauer, die Nacht vom 9. November 1938 in Erfurt rekonstruiert. Dabei haben die beiden Historiker:innen einen Beteiligten in den Fokus gerückt, von dem bisher niemand wusste: Georg Beuchel. Beuchel führte in den 1930er Jahren das größte Autohaus in Thüringen. In der Pogromnacht 1938 hat er Benzin besorgt und zur Synagoge gebracht, die in der Nacht ausgebrannt ist.
Ihre Ergebnisse haben Fleischhauer und Bauer auf 50 Seiten niedergeschrieben und im Jahr 2021 in einer kleinen, lokalhistorischen Zeitschrift veröffentlicht – eine wichtige Erkenntnis, fand auch die Jüdische Gemeinde.
Nur einem gefiel das Ergebnis nicht: dem Sohn von Georg Beuchel.
Seitdem der Aufsatz öffentlich ist, seit vier Jahren, überzieht er die Historiker und sämtliche Behörden, Ämter und Politiker:innen in Thüringen mit Beschwerden, Drohungen, Beleidigungen. Er hat Anzeigen erstattet, hunderte E-Mails und Briefe geschrieben und er trägt seinen Ärger in die Öffentlichkeit.
Fleischhauer und seine Kollegin sind nicht die ersten, die die Erfurter Novembernacht 1938 bearbeitet haben. Aber sie sind die ersten, die mit neu aufgetauchten Akten gearbeitet haben. Sechs Archive haben sie aufgesucht, in Thüringen, Baden-Württemberg und Bayern. Sie haben mit Dokumenten aus den 1930er bis 1960er Jahren gearbeitet, mit Papieren der Polizei, von Staatsanwaltschaften, Gerichten und der Stasi.
Georg Beuchel war in den 1930er Jahren ein angesehener Kaufmann in Erfurt. In seinen Autohäusern verkaufte er Opel und Volkswagen, beschäftigte 100 Mitarbeiter:innen.
Beuchel selbst war 1938 Mitglied der SS und des Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps, einer Unterabteilung der NSDAP. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 traf er in einer Kneipe auf Mitglieder der SA, die ihn nach einer größeren Menge Benzin fragten. So haben es die Erfurter Historiker aus den Polizeiakten rekonstruiert. Beuchel besorgte rund 60 Liter Benzin an seiner Tankstelle und brachte sie zur Synagoge.
Die Tür wurde aufgebrochen, der Innenraum verwüstet, das Benzin verschüttet und angezündet. Auch Beuchel war offenbar in der Synagoge. Ob und inwieweit er an der Verwüstung mitwirkte, ist unklar. Was er jedoch eingestanden hat, ist, dass er der Synagogenzerstörung nicht nur zusah, sondern anschließend noch in eine Turnhalle fuhr, in der Juden brutal zusammengetrieben worden waren, geschlagen und misshandelt wurden.
Die Synagoge brannte nieder, die Feuerwehr schaute zu
180 Juden wurden schließlich in das KZ Buchenwald verschleppt, 5 von ihnen starben dort. Die Synagoge brannte nieder, die Feuerwehr schaute tatenlos zu. Die Kriminalpolizei notiert im Mai 1945, es sei ein „offenes Geheimnis“ im Betrieb Beuchel, dass der Chef an der Brandstiftung beteiligt war. Zeugen hatten ihn belastet, Beuchel selbst hatte gestanden, das Benzin besorgt zu haben. Wofür, das sei ihm laut Aussage allerdings nicht bewusst gewesen.
Anfang 1948 ist Beuchel mit seiner Familie in den Westen geflüchtet. 1947 war er enteignet worden, das Verfahren in Erfurt wurde eingestellt, obwohl die Polizei von seiner Beteiligung überzeugt war. Anfang der 60er Jahre wurde in der Westzone ein Verfahren gegen andere Beteiligte der Erfurter Brandstiftung geführt, dort wurde Beuchel nur noch als Zeuge vernommen, nicht mehr als Beschuldigter. Der Historiker Tom Fleischhauer sagt, ein „Gerangel aus Zuständigkeiten“ habe einen Prozess gegen Beuchel verhindert. „Das heißt aber nicht, dass Beuchel unschuldig ist“, so Fleischhauer.
Das sieht sein Sohn allerdings anders.
Michael Beuchel wird im Sommer 90 Jahre alt und lebt in Tübingen. 1935 ist er in Erfurt geboren, als die Synagoge angezündet wurde, war er drei. Nach dem Krieg ist seine Familie mit ihm in den Westen geflohen, Beuchel hat fast sein ganzes Leben in Baden-Württemberg verbracht. Am Telefon spricht er freundlich, nur als er auf die Sache mit der Synagoge zu sprechen kommt, wird er ungehalten. Er schimpft auf die Historiker, beleidigt die Behörden und Ämter in Thüringen.
Jens-Christian Wagner, Direktor der Gedenkstätte Buchenwald
Zitate aus den Gesprächen will er später aber nicht freigeben. Stattdessen schickt er Dokumente und E-Mails, die seinen Vater entlasten sollen. Er bestreitet nicht, dass sein Vater in der Synagoge war, sieht ihn aber als Opfer von Intrigen. Er beruft sich auf einen jüdischen Freund, der seinem Vater nach Kriegsende einen freundlichen Brief geschrieben hatte, auf jüdische Nachbarn der Familie, die angeblich nichts zu beanstanden hatten. Und auf einen Kommunisten, den der Vater beschäftigt hatte. „Mein Vater war ein Judenfreund“, schreibt Michael Beuchel – und droht am Telefon, wenn die taz nicht die Wahrheit über seinen Vater schreibe, werde das teuer werden.
Vier Strafanzeigen hat er bei der Erfurter Staatsanwaltschaft gestellt. Weil sich der zuständige Staatsanwalt weigerte, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, hat Beuchel auch Strafanzeige gegen den Staatsanwalt gestellt. Beim Erfurter Oberbürgermeister hat er eine Dienstaufsichtsbeschwerde abgegeben und den thüringischen Ministerpräsidenten um Hilfe gebeten. Er hat sich bei den Vorgesetzten der Historiker beschwert und an die Thüringer Justizministerin, die Jüdische Landesgemeinde und die Antisemitismusbeauftragte geschrieben. Einen Anwalt hat er beauftragt, im Staatsarchiv Hannover nach alten Ermittlungsakten zu suchen.
Bei Wikipedia, wo im Beitrag zur Großen Synagoge Erfurt zur Rolle seines Vaters nichts steht, außer ein Literaturhinweis zu dem Aufsatz von Fleischhauer, hat er wilde Diskussionen angefangen. Er schreibt dort von „Geschichtsfälschung“ und „Hetze“, von der Verunglimpfung seines Vaters. Bei der Uni Jena drängt er darauf, dass der Text über die Synagogen-Brandstiftung von einer Website gelöscht wird. Er droht mit Anzeigen und hohen Strafzahlungen. Er verlangt Schmerzensgeld und Entschädigung.
Es ist nicht so, dass Michael Beuchel damit Erfolg hat. Bei Wikipedia halten ihm Moderator:innen entgegen, dass die Recherche von Fleischhauer und seiner Kollegin gut belegt sei. Auch die Uni Jena hält an ihrer Veröffentlichung fest. Tom Fleischhauer sagt, er erhalte viel Unterstützung von Kolleg:innen und Vorgesetzten.
Aber was Beuchel schafft: Er lähmt die Beteiligten. Er schüchtert sie ein. Die Rufschädigung, die er den Historiker:innen vorwirft, betreibt er selbst.
Auch Jens-Christian Wagner erhält E-Mails von Michael Beuchel, teils mehrere am Tag. Wagner leitet die KZ-Gedenkstätten in Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er kennt solche E-Mails wie die, die Beuchel schreibt. „Aber in der Vehemenz, das ist außergewöhnlich“, sagt er.
Neue Abwehrhaltung gegenüber der NS-Forschung
Wagner findet die Arbeit von Tom Fleischhauer und seiner Kollegin überzeugend. Er schätzt sie vor allem dafür, dass sie an einer konkreten Person erzählt, wie die Synagogenbrandstiftung abgelaufen ist. „Es geht nicht darum, mit dem Finger auf Georg Beuchel zu zeigen. Es geht darum zu zeigen, dass hinter jedem historischen Ereignis Personen stehen, die die Geschichte vorantreiben.“
Gerade heute sei das wichtig, sagt Wagner, denn die Abwehrhaltung gegenüber der NS-Forschung habe deutlich zugenommen. In Führungen erlebten er und seine Mitarbeiter:innen immer häufiger, dass NS-Verbrechen offen infrage gestellt werden. Besucher:innen weigerten sich, mitzuarbeiten, die Reflexion darüber, was der Nationalsozialismus mit heute zu tun habe, sei von vielen nicht mehr erwünscht.
„Dramatisch ist das vor allem bei jungen Leuten. Denen fehlt der biografische Bezug zu der Zeit, sie haben keine Vorstellung mehr von den Verbrechen“, sagt Wagner. Auch sie versuchten, sich von der Geschichte reinzuwaschen. Ihre Motivation sei eine andere als bei Beuchel, das Narrativ ähnlich. „Leute wie Michael Beuchel sagen: Mein Vater war kein Nazi. Leute wie Maximilian Krah sagen: Nicht alle, die eine SS-Uniform anhatten, waren Nazis.“
Nicht alle, bei denen sich Beuchel beschwert, bekennen sich öffentlich so eindeutig zu der Arbeit von Fleischhauer und seiner Kollegin wie Jens-Christian Wagner. Das Thüringer Justizministerium, die Thüringer Antisemitismusbeauftragte und eine Sprecherin der Stadt Erfurt schicken auf die taz-Anfrage eine fast wortgleiche Antwort. Aus Datenschutzgründen könnten sie sich zu diesem Fall nicht äußern. Was sie nicht tun: Die Historiker öffentlich verteidigen, sich hinter die Aufklärung von NS-Verbrechen stellen.
Fleischhauer ist es unangenehm, dass seine Forschung so viele Leute beschäftigt. Nicht ihres Inhalts, sondern ihrer Auswirkungen wegen. Der nächste Aufsatz ist fertig zur Frage, warum Georg Beuchel nie strafrechtlich belangt wurde. Nur weiß er nicht, wo er den veröffentlichen soll. Er glaubt nicht, dass er einen Verlag findet, der die nächste Konfrontation mit Beuchel riskiert.
Michael Beuchel hingegen will weitermachen.
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