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Nahost-DemosDer Kampf auf den Straßen

Vor dem 7. Oktober demonstrieren tausende in Deutschland für ihre Sichtweise auf den Nahostkonflikt. Nicht alle werden der Komplexität der Lage gerecht.

Pali am Kotti: Etwa 1.200 Personen demonstrierten am Kottbusser Tor in Berlin gegen Israels Vorgehen in Gaza und im Libanon Foto: Jörg Carstensen/dpa

BERLIN taz | Es gehört schon was dazu, am 6. Oktober zuerst von israelischem „Siedlerkolonialismus“ zu sprechen und dann in ein Mikrofon zu brüllen: „Wir feiern die Gegenwehr.“ Doch die Menschen, die sich am Kottbusser Tor in Berlin versammelt haben, jubeln dem Mann auf dem Lautsprecherwagen begeistert zu – auch wenn den meisten klar sein dürfte, dass mit „Gegenwehr“ der Hamas-Terror gemeint ist, der sich am Montag jährt.

Unter dem Motto „Gegen Genozid in Gaza“ demonstrierten am Sonntag etwa 1.200 Personen gegen Israels Vorgehen in Gaza und im Libanon – freilich ohne dabei die Komplexität der Lage zu berücksichtigen. „Leave Iran Alone“ war auf einem Plakat zu lesen, auf Deutsch: „Lasst den Iran in Ruhe“. Als hätte das islamistische Regime in Teheran nicht erst vor wenigen Tagen Hunderte ballistische Raketen auf Israel abgefeuert.

So war die Demonstration in Berlin ziemlich genau das, wovor viele Po­li­ti­ke­r*in­nen wenige Stunden zuvor noch gewarnt hatten. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) etwa hatte in seinem Podcast am Sonntag gesagt: „Antisemitismus und blinden Israel-Hass werden wir niemals hinnehmen.“ Zwar verstehe er es durchaus, wenn Menschen ihre Betroffenheit über die Lage in Gaza oder dem Libanon ausdrücken wollten. Klar sei aber: „Den Jüdinnen und Juden hier in Deutschland gilt die volle Solidarität unseres Staates – und die Solidarität aller Anständigen in diesem Land.“

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock schrieb in einem Gastbeitrag in der Bild am Sonntag an „unsere israelischen Freundinnen und Freunde“, mit der Botschaft: „Wir stehen an Eurer Seite. Eure Sicherheit ist Teil unserer Staatsräson.“ Selbstverständlich habe Israel das Recht, sich gegen die Angriffe der Islamisten von Hamas und Hisbollah zur Wehr zu setzen. Zur Situation in Deutschland schrieb Baerbock: „Es beschämt mich, dass seitdem Jüdinnen und Juden sich auch bei uns unsicherer fühlen, antisemitische Angriffe in unserem Land zugenommen haben, dass Männer Angst haben, mit Kippa über die Straße zu gehen, und Kinder, in der U-Bahn Hebräisch zu sprechen.“ Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte am Sonntag: „Der Hass, der in einem von vielen nicht mehr für möglich gehaltenen Ausmaß in den letzten Monaten Jüdinnen und Juden entgegengeschlagen ist, beschämt mich zutiefst.“

Zentralratspräsident fordert Zivilcourage

Am Sonntag fanden aber auch Veranstaltungen statt, die explizit der Opfer des 7. Oktober gedachten. Bei der Aktion „Run for their Lifes“ in München, die auf die Geiseln in der Gewalt der Hamas aufmerksam macht, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster: „So wie sich Israel und seine Menschen gegen diesen Terror zur Wehr setzen, hat unser aller Bewunderung verdient.“ Gleichzeitig betonte Schuster aber auch: „Juden und Palästinenser sind nicht nur Nachbarn im Nahen Osten, sie sind es auch in deutschen Städten.“ Es gelte: „Zu einem Zusammenleben gibt es keine Alternative.“ An die Mehrheitsgesellschaft gewandt, sagte Schuster: „Wir brauchen sichtbare und nachhaltige Zivilcourage!“

Und auch in Berlin blieb die einseitige Kritik an Israel nicht unwidersprochen. In Mitte demonstrierten Hunderte unter dem Motto „Gemeinsam gegen das Verbrechen der Hamas an Israelis und Palästinensern“. Ilei, der dort mitdemonstrierte, sagte der taz: „Die israelischen Geiseln müssen endlich freikommen.“ Zum Krieg in Gaza sagt er: „Es gab keinen anderen Weg für das israelische Militär“. Er demonstriere aber für die Rechte aller Menschen im Nahen Osten. „Unter den islamistischen Regimes leidet die Bevölkerung in Gaza, Libanon und Iran selbst am meisten.“

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16 Kommentare

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  • Komplexität darf man schon in alle Richtungen einfordern.

    Unterscheiden wir Juden und Israelis, damit beginnt es doch.



    Die meisten Juden leben nicht in Israel.



    Nicht jeder Israeli ist Jude.



    Und nicht jeder hat Netanyahu gewählt.



    Parallel zu Palästinenser, Islam und Hamas.

    Universale Ansätze bringen uns wohl weiter als unterkomplexe unkritische totale Parteinahme für X oder Y.

  • "Nicht immer, ohne unterkomplex zu bleiben."

    Sehr milde, dennoch gut ausgedrückt, Herr Eikmanns.

    Mich wundert immer, wenn Leute, die sich "Linke" nennen oder "Antiimperialisten" für die Hamas, Hizbollah & Co. eintreten, scheinbar völlig ahnungslos sind, dass deren Chefs in Teheran hocken.

    Die Assad in Syrien unterstützen, Putin seine Shahed-Drohnen liefern, die nicht nur im Nahen Osten die Menschen terrorisieren, sondern auch von Ukrainer:innen gefürchtet werden.

    Sog. "Anti-Imperialisten" haben scheinbar kein Problem mit dem schiitischen Imperialismus, der sich neben Syrien auch den Libanon, Irak und Jemen gekrallt hat. Und natürlich wäre Israel eine besondere Perle im Kolonialreich der Mullahs.

    "Lasst den Iran in Ruhe" zeigt den Wesenskern dieser Leute.

    Antifaschist:innen stellen sich da die Nackenhaare aufrecht.

    Und rufen auf zum antifaschistischen Widerstand.

  • 6G
    611245 (Profil gelöscht)

    Wenn „Zivilcourage“ im „besten Deutschland, das es jemals gab“ (Steinmeier), nur noch unter Polizeischutz möglich ist, dann eine Israelfahne auf ner Demo als „Provokation“ gegenüber dem islamistischen Mob aber abgenommen wird, dann läuft etwas grundsätzlich schief.

  • „So wie sich Israel und seine Menschen gegen diesen Terror zur Wehr setzen, hat unser aller Bewunderung verdient.“



    Deshalb hat der IGH ja auch ein Verfahren wegen Völkermord eröffnet... es ist atemberaubend, mit welcher Kaltschnäutzigkeit das Gemetzel in Gaza zum Akt der Menschlichkeit umgedeutet wird.

    • @O.F.:

      Israel dürfte das einzige Land sein, dass seine Angriffe ankündigt und dem "Feind" Fluchtkorridore und Schutzzonen einrichtet.

      Soviel zum Gemetzel. Im übrigen hat Deutschland auch gelernt, dass man keinen Angriff starten sollte, wenn man das Echo nicht verträgt.

      • @Wonneproppen:

        Allein in Gaza sind inzwischen über 40000 Menschen gestorben, über 10000 werden vermisst, dazu kommen Tote, die nicht den direkten Kampfhandlungen zum Opfer fallen, sondern an den Folgen z.B. eines zusammengebrochenen Gesundheitsstystems sterben... und selbst wenn die Gewalt irgendwann endet, ist Gaza fast unbewohnbar gemacht... Wie kann man das mit dem Verweis auf die Evakuierungsbefehle kleinreden? Zumal oft genug auch sog. Schutzzonen angegriffen wurden.



        Hier von einem "Echo" zu sprechen, ist nicht nur sachlich falsch (wie gesagt, der NO-Konflikt hat nicht am 7.10. begonnen), sondern auch unglaublich menschenverachtend: das humanitäre Völkerrecht bindet alle Kriegsparteien, egal wer "begonnen" hat (wer weiß das im NO schon) und egal, was die andere Seite gemacht hat. Palästinensische Zivilisten sind nicht weniger wert als israelische - auch wenn das leider viele anders sehen...

        • @O.F.:

          Das Kriegsrecht gebietet, den Kampf irgendwo auf freiem Feld zu führen, wo keine



          Zivilisten zu Schaden kommen. Wenn sich die Hamas in Krankenhäusern, Kindergärten und Schulen versteckt und ihre Raketen von dort startet.. wer ist dann schuld an dem ganzen Elend, dass wir sehen, hm?

          Israel gibt sich wenigstens Mühe, die Zahl der zivilen Opfer zu reduzieren. Für Hamas sind sie das Ziel.

    • @O.F.:

      Das Gemetzel im Gazastreifen hat eine Ursache: die Hamas. Diese Verbrecher gehören vor Gericht! Israel hat ja wohl das Recht, sich gegen Mörder und Vergewaltiger zur Wehr zu setzen.

      • @Squirrel:

        Der NO-Konflikt hat aber nicht am 7.10 begonnen (und nicht einmal mit der Gründung von Hamas). 2023 sind schon vor dem Hamas-Angriff mehr als 500 Palästinenser getötet worden. Sie haben vollkommen Recht: ein Massaker ist kein legitimer Widerstand gegen die israelische Besatzungspolitik. Aber genauso wenig kann man jeden noch so exzessiven Gewalteinsatz Israels als legitime Selbstverteidigung verharmlosen. Hier wird Gewalt und der Wert menschlichen Lebens auf eine Weise ungleich bewertet, die man kaum anders als rassistisch bezeichnen kann.

      • @Squirrel:

        Israel hat aber nicht das Recht, im Deckmantel der angeblichen "Selbstverteidigung" einen ideologischen Krieg gegen die Palästinenser zu führen, um den feuchten Traum des völkisch-nationalistischen Netanjahu-Regimes eines "Groß-Israels vom Fluss bis zum Meer" wahr zu machen. Das ist aber, was wir seit dem 7.10. beobachten können. Netanjahu ist ein Extremist, der will keinen Frieden, der will die Forderungen seiner Partei umsetzen.



        Und die Unterstützer Israels schauen bei den Verbrechen Israels weg. Besser kann die Gelegenheit kaum sein.

    • @O.F.:

      Der IGH hat ein Verfahren zur Prüfung des Genozidvorwurfs Südafrikas eingeleitet, mehr nicht. Bestätigt hat der IGH den Vorwurf nicht. Und Südafrika hat beim Gerichtshof inzwischen Verlängerung der bis zum 28.10.2024 laufenden Frist für die Vorlage von Beweisen für den Vorwurf beantragt. Südafrika hat nämlich keine Beweise für seine Behauptung, dass Israel in Gaza einen Genozid begehe.

      • @Budzylein:

        das ist so natürlich nicht ganz richtig, denn 'ohne plausible reasons' - wie vom ICJ festgestellt und juristische Beweisführung gäbe es gar kein Verfahren. Siehe APPLICATION INSTITUTING PROCEEDINGS, APPLICATION OF THE CONVENTION ON THE PREVENTION AND PUNISHMENT



        OF THE CRIME OF GENOCIDE IN THE GAZA STRIP, 26.1.: Order: THE COURT,



        Indicates the following provisional measures:



        (1) By fifteen votes to two,



        The State of Israel shall, in accordance with its obligations under the Convention on the



        Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, in relation to Palestinians in Gaza, take all



        measures within its power to prevent the commission of all acts within the scope of Article II of this



        Convention, in particular:



        - 25 -



        (a) killing members of the group;



        (b) causing serious bodily or mental harm to members of the group;



        (c) deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical



        destruction in whole or in part; and



        (d) imposing measures intended to prevent births within the group;...

        • @hamann:

          Eine Aufforderung, keinen Genozid zu begehen, - und mehr besagt Ihr Zitat nicht - ist nicht dasselbe wie die Bewertung, dass einer begangen werde.

      • @Budzylein:

        Ich würde das Wort "Genozid" hier nicht überstrapazieren, weil es verschiedene Vorgehensweisen beinhalten kann; es ist leider nicht exakt definiert.

        Aber eines muss man auf jeden Fall feststellen: Die Netanjahu-Militärpolitik für Gaza sieht so aus, dass a) die Höhe der "Kollateralschäden" egal zu sein scheint und b) gezielte Tötungen von eindeutig als Zivilist:innen, Journalist:innen, Helfer:innen, etc. straffrei bleiben.

        So weit ich mich erinnere, gibt es darüber einige Berichte, insbesondere auch Zeugenaussagen vor Ort.

        Die Nichtunterscheidung zwischen Kämpfer:innen und Zivilist:innen kennen wir vor allem aus Vietnam. Es gibt noch weitere historische Vergleiche, die ebenfalls kein gutes Licht auf die Art der Kriegsführung der Natanjahu-Regierung werfen.

      • @Budzylein:

        Die Einleitung eines Verfahrens ist zwar noch kein Urteil, ich erinnere aber an die Plausibilitätsprüfung; Südafrika hat eine Verlängerung beantragt, um laufende Ereignisse berücksichtigen zu können, mehrere EU-Staaten unterstützen die Klage - es gibt also keinen Grund, hier irgendetwas schönzureden. Ich finde diese gleichgültig für palästinensische Leben erschreckend.

        • @O.F.:

          Diese Gleichgültigkeit zeigt in erster Linie die Hamas, die keinerlei Schutzräume für gazanische Zivilisten eingerichtet hat und sie als menschliche Schutzschilde einsetzt. Und auch der von der Hamas betriebene Märtyrerkult zeigt, dass es ihr nicht um das Leben von Palästinensern geht.