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Dissident Lukaschewski über Russland„Die Kriegsmüdigkeit nimmt zu“

Am 17. März will Putin sich im Amt bestätigen lassen. Dissident Sergei Lukaschewski über Alexei Nawalnys Tod und kleine Akte des Widerstands.

Ein Selfie vor den Trauernden: Bei Alexei Nawalnys Beerdigung am 1. März in Moskau werden die Anwesenden von Polizisten umringt Foto: Andrei Bok/Zuma Press/imago

wochentaz: Herr Lukaschewski, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Bilder von der Beerdigung Alexei Nawalnys gesehen haben?

Sergei Lukaschewski: Ich denke an den tragischen Weg, den Russland und seine Gesellschaft in den letzten 35 Jahren genommen hat. 1989 wurde der Dissident und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow begraben. Eine riesige Menschenmenge folgte damals seinem Sarg durch die Straßen Moskaus. Auf Sacharows Sarg folgte die Freiheit. Am vergangenen Wochenende haben wir ebenfalls Tausende von Menschen gesehen. Sie sind gekommen, um Alexei Nawalny zu verabschieden – einen Mann, der nicht nur ein politischer Führer, sondern auch eine moralische Autorität war. Die Behörden haben es nicht gewagt, diese Menschen aufzuhalten. Aber dieser Geist einer Unvermeidlichkeit des Wandels ist nicht vorhanden. Nawalnys Tod ist die einzige Gelegenheit für Putins Gegner, öffentlich zusammenzukommen und zu zeigen, dass sie existieren. Das gibt uns Hoffnung. Ein gigantischer Unterschied zur Hoffnung 1989 ist es trotzdem. Obwohl das totalitäre Regime mit allen seinen Strukturen damals formal noch existierte.

Das zu sehen, schmerzt …

Ja, das tut weh – ein Land, eine Heimat, die sich in einen Polizeistaat verwandelt hat, in dem es kaum möglich ist, sich von einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, die Orientierung gegeben hat, zu verabschieden. Das ist ein trauriges Bild, das Niedergeschlagenheit hervorruft. Aber gleichzeitig liegt darin auch etwas Tröstliches: Alexei ist gestorben, aber er wird bleiben. Er wird nun von einem aktiven Politiker zu einem Symbol des Widerstands. In Russland hat es nie eine echte Demokratie gegeben, aber eine 100-jährige Tradition des Widerstands gegen den Autoritarismus. Dieser Widerstand hat immer Helden hervorgebracht, die ihr Leben geopfert haben, um ihre Ideale zu verteidigen.

wochentaz

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Wie ist es zur jüngeren autoritären Entwicklung gekommen?

Wie in allen Ländern im postkommunistischen Übergang kam es auch hier zum Zusammenbruch der Wirtschaft und des Sozialsystems. Die Menschen waren enttäuscht, dass die demokratischen Veränderungen unter Boris Jelzin für sie nicht zu echten Verbesserungen ihres Lebens führten. Dabei waren die positiven Veränderungen in den 2000er Jahren eine Folge der Wirtschaftsreformen in den 90er Jahren. Für die Menschen fiel diese Zeit jedoch mit dem Amtsantritt Wladimir Putins zusammen. Und so war ihre Logik: Unter Jelzin herrschte Chaos, jetzt ist ein starker Führer gekommen. Damals lagen meine Hoffnungen noch darauf, dass Russland Teil der internationalen Gemeinschaft werden würde. Es gibt ja internationale Institutionen und Vereinbarungen, wie zum Beispiel die Europäische Menschenrechtskonvention. In Russland schien trotz allem noch der Wunsch zu bestehen, vielleicht nicht zur westlichen Welt dazuzugehören, aber zumindest eine beständige Beziehung zu ihr aufzubauen. Aber es stellte sich heraus, dass diese internationalen Institutionen sehr schwach sind.

Aus Umfragen geht hervor, dass die überwiegende Mehrheit der Rus­s*in­nen immer noch das Regime unterstützt. Wie erklären Sie das?

Da muss man differenzieren. Wenn die Leute jetzt gefragt würden: Würden Sie Putin wählen, wenn es einen anderen Kandidaten gäbe? Selbst unter den Bedingungen der heutigen Propaganda würden sich 45 Prozent für einen alternativen Kandidaten entscheiden. Deshalb hatten die Behörden ja auch solche Angst vor Nawalny. Nicht, weil er eine akute Bedrohung für sie darstellte, sondern weil er möglicherweise der Alternativkandidat war, dem eine Mehrheit gefolgt wäre. Die Menschen haben Putin satt, sie sind unglücklich. Gleichzeitig sind sie von Ängsten vor einer Revolution getrieben, wie dem Maidan in der Ukraine. Und: Viele haben nichts außer dem Bewusstsein, dass ihr Staat wieder groß und stark ist.

Ein Lieferwagen mit dem Sarg des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny verlässt am Freitag, den 1. März 2024, die Kirche Foto: ap

Aber dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mehrheitlich Zustimmung bekommt, ist doch unstrittig, oder?

Es gibt in Russland wirklich radikal militaristisch gesinnte Menschen, aber das sind höchstens 30 Prozent. Die meisten von ihnen gehören zur älteren Generation, die durch den Zusammenbruch der 90er Jahre traumatisiert wurde und nun das Gefühl hat, dass sie etwas zurückgewinnt. Das ist die Rache einer Generation, die in ihrem Leben viele Brüche erlebt hat. Wenn man sich jedoch Umfragen unter den 18- bis 30-Jährigen anschaut, dann würde jemand wie der Politiker Boris Nadeschdin, der sich gegen den Krieg ausspricht und nicht für die Präsidentenwahl im März zugelassen wird, eine Mehrheit von mehr als 50 Prozent bekommen. Das heißt, junge Menschen wollen keinen Krieg. Bei denjenigen, die sich nicht aktiv gegen den Krieg positionieren, kann das verschiedene Gründe haben: Angst, patriotische Vorstellungen, der Glaube, seinem Land gegenüber gerade jetzt besonders loyal sein zu müssen. Aber das sind keine Menschen mit glänzenden Augen, die alle Ukrai­ne­r töten wollen. Dennoch sind sie zu Komplizen geworden in diesem Krieg – gezwungenermaßen.

Jetzt nach dem Tod Nawalnys stellt sich die Frage: Wo steht die politische Opposition heute?

Im Großen und Ganzen gibt es in Russland derzeit keine politische Opposition. Denn jeder, der Putin direkt politisch herausfordert, muss seine Stimme erheben. Zum Beispiel, worin er mit Putin nicht übereinstimmt. Das ist der direkte Weg ins Gefängnis. Politisches Handeln ist in Russland möglich, öffentlicher politischer Widerstand jedoch nicht. Das Gleiche gilt auch für die Zivilgesellschaft. Alle sichtbaren Strukturen werden nach und nach zerstört. Was bleibt, sind Verbindungen und Netzwerke, halb im Untergrund. All das existiert und funktioniert und das wird auch weiterhin funktionieren. Es bleibt auch die moralische Opposition – Leute, die in Haft sind, wie Nawalny es war. Ilja Jaschin etwa, Oppositionspolitiker der Bewegung Solidarnost, oder Oleg Orlow, Menschenrechtsaktivist und Leiter des Rechtszentrums der Menschenrechtsorganisation Memorial.

Wie kann diese moralische Opposition Einfluss nehmen?

Durch ihr eigenes Beispiel, aber das ist nicht wortwörtlich zu verstehen. Die Stärke ihres Einflusses bemisst sich nicht an der Zahl der Menschen, die wie Nawalny oder Orlow ins Gefängnis kommen. Widerstand zeigt sich auf vielen anderen Ebenen. Die Mutigsten gehen auf die Straße, protestieren und landen höchstwahrscheinlich im Gefängnis. Aber es gibt auch Menschen, die im Verborgenen ukrainischen Flüchtlingen und politischen Gefangenen helfen. Das alles erfordert Mut. Die Logik dabei ist: Alexei ist ins Gefängnis gegangen – ich bin nicht bereit dazu. Aber etwas muss ich tun. In diesem Sinne ist ihr Einfluss nicht zu unterschätzen.

Welche Strategie sollte die Opposition verfolgen?

Wir müssen langfristig denken. Und dabei besteht die Aufgabe der Opposition, aller humanitären, zivilgesellschaftlichen und politischen Organisationen darin, dieses Regime auf alle möglichen Arten zu delegitimieren.

Können Sie Beispiele nennen?

Nawalny hat das getan, indem er Filme über die Paläste und Jachten der Eliten öffentlich gemacht hat. Es geht darum, den Mythos der Staatsmacht zu entzaubern. Der basiert darauf, dass sie ja so viel für die Menschen in Russland tut. Manchmal sind es auch ganz kleine Geschichten. Zum Beispiel ein Mädchen, das wegen seiner Regenbogen-Ohrringe festgenommen wird, weil es damit die Symbole der sogenannten extremistischen LGBTQ-Bewegung verbreitet. Es gibt einen Ort in Russland, wo Symphoniekonzerte organisiert werden, aber dann die Musik ukrainischer Komponisten gespielt wird. Das alles sind Formen des Widerstands.

Sie leben im Exil. Was können Sie aus der Entfernung für Russland tun?

Ich sehe meine Mission darin, für die Menschen in Russland zu arbeiten. Ich möchte, dass die Tradition des russischen Freidenkertums, des Widerstands gegen Totalitarismus, Autoritarismus und Diktatur, nicht abreißt. Damit junge Menschen trotz staatlicher Propaganda wissen, was Menschenrechte sind, dass es in Russland eine sehr lange Tradition gibt, Menschen zu verteidigen, und dass auch im heutigen Russland viel für den Schutz dieser Werte getan werden kann. Mein Eindruck ist: Stimmen wie meine werden in Russland gelesen und gehört.

Wie lange wird der Krieg gegen die Ukraine Ihrer Meinung nach noch dauern?

Wohl noch einige Jahre. Die Situation ist an einem Punkt angelangt, an dem beide Seiten glauben, die Ressourcen zu haben, um ihn fortzusetzen. Sie sind nicht bereit, Zugeständnisse zu machen. Ich würde mir wünschen, dass Putin seine Meinung ändert, oder dass in Russland etwas passiert. Dafür sehe ich leider keine Anzeichen. Es geht hier nicht nur um eine Konfrontation zwischen Geld und der Anzahl von Geschossen, sondern auch um eine Konfrontation moralischer Ressourcen, der Fähigkeit der Gesellschaft, mit dieser Situation zu leben. In Russland nimmt die Kriegsmüdigkeit zu. Daher ist es von grundlegender Bedeutung, ob die Ukraine über genügend Ressourcen verfügt, um zu bestehen. Das heißt, dass sie entsprechende Unterstützung erhalten muss, die das gewährleistet.

Werden die Repressionen nach der Präsidentenwahl im März schlimmer werden?

Unabhängig von den Wahlen werden sich die Repressionen mit Sicherheit verschärfen. Auch die Grausamkeit der Unterdrückung wird zunehmen. Diese Grausamkeit wird mit den Methoden unter Stalin vergleichbar sein.

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22 Kommentare

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  • A "bißerl" mehr Kriegmüdigkeit ist ja schön. Macht aber den Bock nicht fett, weil Russland dieses blutrünstige Imperiumsspiel seit



    !!! 500 Jahren!!! betreibt. Für extreme Grausamkeit und Blutrünstigkeit, kann es KEINE relativierenden Entschuldigungen oder Rücksichtnahmen, geben!

  • Ein sehr lesenswertes Interview. Vielleicht darf ich etwas dazu schreiben, da ich das Land aus eigener Anschauung kenne und mich ihm verbunden fühle.

    Der Unterschied zwischen 1989 und heute ist die Jelzin-Zeit. 1989 gab es die Idee, es werde aufwärts gehen, der bisherige relative Wohlstand würde erhalten und um Freiheitsrechte erweitert. Es gab einen großen Fortschrittsoptimismus.

    Man kann sich hierzulande nicht vorstellen, was die Jelzin-Zeit, was die 90-er Jahre dort bewirkt haben. Wir reden heute in Deutschland über Abstiegsängste, Demokratiegefährdung, gesellschaftliche Desintegration. Dabei ist unsere sozialökonomische Lage nicht entfernt vergleichbar mit dem, was die Russinnen und Russen in den 90-er Jahren durchmachen mussten.

    In dem Punkt teile ich Lukaschewskis Ansicht nicht. Der wirtschaftliche Aufschwung der 2000er Jahre ist kein nachträgliches Verdienst von Jelzin und Konsorten! Aber auch kein Verdienst von Putin. Sondern ein Effekt der Ölpreiskonjunktur im vorvergangenen Jahrzehnt. Putin hatte Glück zu Beginn seiner Amtszeit.

    Wenn das Putin-Regime von vielen Leuten über 50 passiv hingenommen wird, dann bedeutet das keine Unterstützung für dessen Ideologie. Sondern nur das Fehlen irgendeiner Alternative, die nicht geradezu in die traumatisch erlebte Zeit der 90-er Jahre zurückzuführen scheint.

    Das sollte man hierzulande verstehen. Es gibt in Russland viele Leute, die nach einem Ende des Krieges sofort sämtliche kulturellen Beziehungen zum "Westen" wieder aufnehmen wollen. Die sich nicht haben verhetzen lassen. Also lassen auch wir uns nicht verhetzen!

  • "Diese Grausamkeit wird mit den Methoden unter Stalin vergleichbar sein."

    Ich bin immer wieder überrascht über die die Geschichtsvergessenheit. Putin ist grausam und skrupellos. Jedoch sind Vergleiche mit Stalin oder Hitler vollkommen fehl am Platz und führen zu einer relatvierenung dieser historisch einmaligen Verbrechen. Dein inflationäre Gebrauch von Superlativen und extremen Vergleichen mag zwar verständlich sein, um kurzfristig Unterstützung für die Ukraine aufrecht zu erhalten, ist aber genauso wie Angst langfristig keine gute Strategie. Mittelfristig wäre ein pragmatischee Umgang am zielführendsten - keine Verharmlosungen, aber auch keine Übertreibungen, sondern mehr Sachlichkeit!

  • Wir, der sog. "kollektive Westen" sollten auch nicht vergessen, was wir für einen Anteil an dieser Katastrophe haben.

    Wir haben zugeschaut, wie Yegor Gaidar (ein grosser Fan von Hayek) seine turboliberale "Schocktherapie" den russischen Menschen angedeihen liess. Manche bei uns haben sich womöglich auch noch gefreut.

    Herausgekommen ist eine hochkriminelle Elite und ein bis zur Unkenntlichkeit zynisches Prekariat. Gepampert (Gazprom) haben wir die Elite.

    Zu empfehlen dazu Adam Curtis "Traumazone" [1] [2].

    [1] www.theguardian.co...z-truss-traumazone



    [2] www.theguardian.co...g-from-adam-curtis

    • @tomás zerolo:

      Ja, ja, der bekannte Verantwortungsimperialismus. Wenn irgendwo auf der Welt Schlechtes geschieht, sind selbstredend "wir" dafür verantwortlich.

      Yegor Gaidar war russischer Ministerpräsident.

      Was hätten "wir" also tun müssen, um ihn loszuwerden?

    • @tomás zerolo:

      "Wir, der sog. "kollektive Westen" sollten auch nicht vergessen, was wir für einen Anteil an dieser Katastrophe haben."

      Das ist alles richtig, entlässt das russische Volk aber nicht aus der Verantwortung, selbst für lebenswerte Zustände in ihrem Land zu sorgen. Gemäß dem Motto" wenn du es nicht tust, wird es auch kein anderer tun", muß ein Ruck durch die Gesellschaft gehen, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken. Nur bisher ist es so, dass die die sich wehren meist ziemlich alleine dastehen. Ohne Zivilcourage und Solidarität wird kein Wandel stattfinden. Das lässt sich jetzt aus der Ferne zwar leicht sagen, ist aber so.

      • @Sam Spade:

        In Russland hat Zivilcourage eine ganz andere Bedeutung als hier. Wer sorgt denn z. B. für die Kinder, wenn man für ein leeres Blatt Papier im Knast verschwindet? Wer hat denn hier vor Jahrzehnten den Mund aufgemacht, wenn Kinder ihre Eltern dafür an den Strick geliefert haben?

        • @Erfahrungssammler:

          Darum geht es nicht. Nimmt man als Gesellschaft den Kampf auf für Freiheit und die Aussicht auf eine bessere Zukunft oder ergibt man sich in sein Schicksal? Einen Preis zahlt man so oder so. Das Prinzip einer Diktatur beruht nunmal auf Abschreckung. Das ist aber kein Grund sich dem Diktat zu beugen. Es kommt nur auf die Masse an. Mehr Nawalnys in Russland und Putin ist Geschichte. Es gilt das alte Bakunin Prinzip "vor der Gewalt nicht zurückzuweichen".

          • @Sam Spade:

            „Das Prinzip einer Diktatur beruht nunmal auf Abschreckung. “



            Da ist ja jetzt etwas Interessantes passiert. Putin hat Nawalny den Henker in die Zelle geschickt, das ist extrem grausam und eine ultimative, absolute Machtdemonstration. Das ist nicht zu toppen (allenfalls zu wiederholen, leider).



            Und jetzt ist die Beerdigung zehn Tage her, und die Menschen kommen jeden Tag zum Grab. Am ersten März waren es 30.000 bis 35.000, am 2. und 3. März jeweils etwa 5.000, und auch unter der Woche und dieses Wochenende ging es weiter. Die Menschen besuchen , wohlgemerkt, das Grab eines mehrfach vorbestraften „Kriminellen, Extremisten und Terroristen“ über den die Propaganda fünfzehn Jahre lang ohne Ende Dreck ausgekübelt hat. Dieser Vorgang sagt einiges über die tatsächliches Reichweite der Propaganda aus, und auch über Nawalnys tatsächliche Reichweite in der russischen Gesellschaft. Vielleicht ist das der Anfang vom Ende der Angst: Der Borisowo-Friedhof als Fluchtpunkt, so eine Art Plaza de Mayo. Die Behörden wissen scheinbar nicht, wie sie damit umgehen sollen. Vielleicht warten sie, dass es sich totläuft. Das könnte schiefgehen. Die Leute in bewährter Manier wegzuprügeln aber auch.



            Eine sehr breite Koalition von liberalen und linken Aktivisten und Gruppen ruft seit Wochen alle Kriegs- und Putingegner auf, am nächsten Sonntag, dem eigentlichen Wahlsonntag, genau um zwölf Uhr zu ihrem Wahllokal zu gehen. Auch Nawalny hat die Aktion unterstützt. Die Wahlzettel werden ungültig gemacht, um die geht es aber nicht. Es geht darum, „zu zeigen, dass wie viele sind“. Man darf gespannt sein.

          • @Sam Spade:

            Klingt in der Theorie und als Aussenstehender sehr einfach. Wenn man jedoch in einer Diktatur lebt sieht das anders aus. Selbstverständlich kann man den Menschen in Russland oder Iran oder anderen Diktaturen Vorwürfe machen, jedoch ist das ganze etwas komplizierter.

            • @Alexander Schulz:

              Es geht nicht um einfach oder kompliziert. Schwarz oder Weiß. Und in meinem obigen Kommentar habe ich es bereits erwähnt, dass man aus der Ferne leicht reden kann.

              Es geht um Eigenverantwortung für den Einzelnen und die Gesellschaft. Ob im Iran oder Russland. Eine Diktatur funktioniert immer noch dem selben Muster. Unterdrückung und Abschreckung. Will man den Kreislauf durchbrechen, muss man aktiv werden. Ein 140 Millionen Volk können sie nur dann in "Geiselhaft" nehmen, wenn der Großteil es zulässt. Und Widerstand hat nicht nur ein Gesicht. Den Rest können Sie, bei Interesse, oben in meinem ersten Kommentar nachlesen.

              • @Sam Spade:

                Ich hatte den ersten Kommentar überlesen - so wirkt das natürlich stimmiger!

  • Ich bewundere die klare Sicht - und frage mich, warum manche Weigelknechte hierzulande die Wahrheit nicht wahrnehmen wollen.

    • @vieldenker:

      Eine ähnlichen Kommentar könnte man auch über die Kiesewetters machen.



      Ich verstehe das Bedürfnis nach einfachen Antworten und Statements, aber die Sachlage ist viel komplexer. Und die "eine" Wahrheit gibt es bei komplexen Sachverhalten selten. Die einzige Wahrheit, der wohl alle zustimmen können ist, dass Putin niemals diesen Krieg hätte anfangen sollen.

    • @vieldenker:

      Weil's bequemer ist... dann tauchen keine unangenehmen Fragen auf wie "Was tust du eigentlich?", und man kann sich in der eigenen moralischen Integrität sonnen.

      • @Encantado:

        Bequemer ist wohl eher die Forderung nach immer mehr Waffen und Waffen um die Probleme dieser Welt zu lösen!



        Die Kunst der Diplomatie besteht darin auch in ausweglos erscheinen Zeiten einen Weg zum Frieden zu finden.

        • @Alexander Schulz:

          Ich fasse mich kurz: Vorschlag???

        • @Alexander Schulz:

          Echte diplomatische Bemühungen sind immer zu begrüßen. Aber Frieden ohne Freiheit zu fordern und zu fördern, nur um die eigenen Vorstellungen alter Frontstellungen zu retten, ist einfach nur Feigheit vor dem Fortschritt der Geschichte.

          • @vieldenker:

            Es ist doch nicht möglich vorher konkrete Vorschläge zu machen!



            Die Istanbuler Verhandlungen könnte man jedoch aber natürlich als grobe Grundlage oder Orientierungspunkt nehmen.



            Die Kunst von guter Diplomatie, die zum Frieden führt ist ja ein dynamischer Prozess.



            Nennen Sie mir doch bitte ein konkretes Beispiel für überraschende und erfolgreiche Friedensverhandlungen, wo im Vorhinein schon der Inhalt bekannt war? Diplomatie ist ein hochkomplexe Angelegenheit.

          • @vieldenker:

            "Aber Frieden ohne Freiheit zu fordern"

            Dem stimme ich natürlich zu, aber diese Forderung hat ja kein ernstzunehmender politischer Akteur. Selbst eher populistische Politiker, wie zb Wagenknecht, fordern dieses nicht. Darum ging es ja zb auch nicht in den Istanbuler Verhandlungen. Niemand fordert, dass die Ukraine einem Diktatfrieden zustimmen soll. Die bittere Wahrheit ist jedoch, dass es keine ernsthaften Bemühungen bzgl Friedensverhandlungen vom Westen gegeben hat in den letzten 2 Jahren, wie auch schon der ehemalige Botschafter der Ukraine in Berlin, Melnyk festgestellt hat:

            www.n-tv.de/politi...ticle24707652.html

            Und leider wird eine friedliche Einigung mit jedem Tag unwahrscheinlicher, da die russischen Forderungen von Tag zu Tag grösser werden.

            Der Fehler war und ist vorrangig auf eine militärische Lösung zu setzen.



            Dabei müssen Waffenlieferungen kein Wiederspruch zu diplomatischen Lösungen sein. Es wird seit Kriegsbeginn vor allen Dingen darüber geredet wie man den Krieg gewinnen kann und nicht den Frieden. Das ist ein Ansatz, der nur in den seltensten Fällen bei absoluter militärischer Überlegenheit funktioniert.



            Jedoch nicht in einer Auseinandersetzung mit einer militärischen Grossmacht.

            • @Alexander Schulz:

              Sie bringen ja immer wieder den einen Link von ntv und verschweigen die vielen Versuche den Zaren in den letzten Jahren zum Einlenken zu bewegen. Letztlich ist die alles entscheidende Frage, ob die Ukraine souverän entscheiden darf, oder den ehemaligen Kolonialherrn um Erlaubnis bitten muss. Die Russen haben schlicht und ergreifend kein (Völker-) recht sich da einzumischen und es wäre viel klüger auf gute nachbarschaftliche Beziehungen zu setzen. Dann hätten weder die Ukraine, noch Finnland den Weg in die Nato gesucht. Aber das widerspricht wohl dem nationalistischem Selbstverständnis einer ehemaligen Großmacht.

              • @vieldenker:

                "Aber das widerspricht wohl dem nationalistischem Selbstverständnis einer ehemaligen Großmacht."

                Wenn es sich bei Russland um eine ehemalige Grossmacht handelt warum machen Sie sich dann Sorgen, dass Russland Europa erobern könnte?

                Und ja natürlich wiederspricht es dem Verständnis einer Grossmacht, dass ein strategisch wichtiges Nachbarland frei ihr Bündnis wählen darf. Ist das fair? - natürlich nicht, aber darum geht es nicht. Können Sie mir bitte eine Grossmacht oder Mittelmacht nennen, die einem kleinen Nachbarsland erlaubt einem anderen Bündnis beizutreten?

                Und ja es stimmt, man muss nicht auf die Befindlichkeiten einer Grossmacht Rücksicht nehmen, aber die Konsequenzen sind leider in der Regel verheerend. Der russische Angriffskrieg ist natürlich zu verurteilen, aber hilft das denn betroffenen Menschen?

                Welche diplomatischen Initiativen hat es den in den Jahren davor gegebenen gegenüber Putin bei denen über Themen verhandelt wurden die Russland wichtig waren?

                Lediglich beim Thema Abrüstungsverträgen war man bereit Putin entgegen zu kommen - es war sowieso befremdlich 2002 aus den ersten Verträgen auszusteigen, da sie nicht mehr "zeitgemäß" waren.