piwik no script img

Historiker Wolffsohn über Nahostkonflikt„Widerspruch schafft Erkenntnis“

Historiker Michael Wolffsohn kam in Tel Aviv zur Welt und wuchs in Berlin auf. Seit Jahren warnt er vor wachsendem Antisemitismus in Deutschland.

Der ehemalige Professor an der Bundeswehruniversität in München ist „vom Herzen her“ Antimilitarist Foto: Jens Gyarmaty
Waltraud Schwab
Interview von Waltraud Schwab

Als Treffpunkt schlägt Michael Wolffsohn das Café Lichtburg im Berliner Wedding vor. Der Ort ist eng mit seiner Familiengeschichte verbunden. „Lichtburg“ hieß der Kinopalast, der hier bis in die 70er Jahre stand. Er gehörte seinem Großvater, bis die Nazis ihn verjagten.

wochentaz: Herr Wolffsohn, als deutsch-jüdischer Historiker sind Sie seit dem 7. Oktober sehr gefragt. Sie sollen alles erklären: Israel, Palästina, Antisemitismus, Judentum, ­Terror, Krieg, alles. Wie halten Sie es aus?

Michael Wolffsohn: Ich bin ein altes Schlachtross. Und das Sprechen ist auch Entlastung. Denn ich bin zutiefst niedergeschlagen. Von der Entwicklung in Nahost. Und von der Entwicklung in Bezug auf jüdisches Leben in der Diaspora, in Deutschland im Besonderen und ganz besonders in Berlin. Nie habe ich mir vorgestellt, dass es hier je wieder einen so virulenten Anti­semitismus gibt. Das auszusprechen ist eine Aufgabe, der ich mich stellen muss.

Um Verständigung herzustellen?

Ich versuche, die Vielschichtigkeit des Konfliktes darzustellen. Geschichte besteht aus vielen Schichten, wie dieses wunderbare Wort zeigt. Das gibt es so in keiner anderen Sprache, die ich kenne.

Am 7. Oktober griff die Hamas Israel an, ermordete um die 1.200 Menschen, verschleppte 250. Haben Sie je mit so einem Angriff gerechnet?

Nein. Aber es überrascht trotzdem nicht. Die Palästinenser sind in der arabischen Welt jene, die im Umgang mit der modernen Waffentechnologie am fähigsten sind. Nicht zuletzt sahen sie sich aufgrund ihrer tragischen Konkurrenz zu Zionismus und Israel auf ihre Weise dazu gezwungen. Seit 2007 wird Israel ständig mit Raketen beschossen. Zuerst waren es selbstgebaute, die dann immer perfektionierter wurden.

Was ist anders an diesem Angriff?

Die Dimension. Wenn wir uns die Geschichte der Terrorakte anschauen, dann ist der 7. Oktober 2023 mit Ausnahme des 11. September 2001 der größte Terrorakt in der westlichen Welt.

Warum diese Gewalt?

Da sind wir bei der mörderischen, aber vor allem selbstmörderischen Strategie der Palästinenser. Denn die Anwendung von Gewalt hat nur Sinn, wenn man ein klar definiertes und erreichbares strategisches Ziel anpeilt.

Und Sie meinen, das ist in der Geschichte der palästinensischen Nationalbewegung nicht der Fall?

Bei aller, aus palästinensischer Sicht nachvollziehbaren Empörung und Wut über Zionismus, war es völlig unrealistisch zu erwarten, dass man Israel damit in die Knie zwingen könne, zumindest seit 1968, seit die palästinensische Befreiungsorganisation PLO den Terrorismus führend mitmacht. Im Gegenteil, das hat die israelische Bevölkerung in ihrer Reaktion selbst immer radikaler gemacht. Das können wir an den Koali­tionen, die es in Israel parallel zu den Terrorwellen gab, festmachen. Insofern hat die palästinensische ­Führung den Zeitpunkt verfehlt, an dem die Gewalt zu einem politischen Zweck im Sinne der Palästinenser oder zu einer ­friedlichen Lösung geführt hätte.

Wann wäre das gewesen?

1993 nach der ersten Intifada. Die hatte einen strategischen Sinn, der dazu führte, dass es zum Friedensvertrag in Washington kam.

Und warum scheiterte der Friedensprozess?

Weil die palästinensische Führung entschied, eine Doppelstrategie an­zuwenden, nämlich Diplomatie und Terror. Ein Fehler. Dann hat die israelische Öffentlichkeit gesagt, also wenn wir „das Risiko des Friedens“ auf uns nehmen, wie der damalige Ministerpräsident Rabin sagte, dann möchten wir auch Frieden und nicht mehr Terror. Das führte 1996 zu ersten Wahl Netanjahus, der Frieden und Sicherheit versprach, aber nicht halten konnte. Dies wiederum führte zur zweiten großen Chance zum Frieden unter der Regierung von Barak, der im Sommer 2000 in Camp David unter der Regie von Clinton den Palästinensern 98 Prozent des Westjordanlandes angeboten hat, Gaza sowieso, plus Ostjerusalem als Hauptstadt.

Klappte das?

Nein, die palästinensische Seite schlug nicht nur das Angebot aus, sie setzte auch weiter auf Gewalt und Terror. Dies führte in der Folge dazu, dass Barak abgelöst und Scharon gewählt wurde. Es kam zur zweiten Intifada. Aber auch hier die Einsicht von Scharon, der alles andere als eine Taube war, 2005 noch mal das Risiko des Friedens einzu­gehen, und sich aus Gaza zurückzuziehen. Das Ergebnis: die Machtergreifung in Gaza durch die Hamas, die dann in einem Bürgerkrieg die Fatah, eine welt­liche Partei, die zur PLO gehört, aus Gaza vertrieb und seit 2007 Israel konti­nuierlich mit Raketen bombardierte.

Warum wird so reagiert?

Spätestens seit 2007 ist die palästinensische Gewaltanwendung nur noch Selbstzweck. Die Pläne von israelischen, wie auch arabischen Akteuren, Gaza, ich sag es mal salopp, zu einem Hongkong oder Singapur des Nahen Ostens werden zu lassen, waren fix und fertig in der Schublade. Das politisch ungeschickte Handeln des Palästinenser­präsidenten Abbas und der Terror der Hamas hat diese Entwicklung verhindert. Das ist die Tragödie des palästinensischen Volkes. Dass es Gewalt einsetzte, aber nicht als Mittel zum politischen Zweck, sondern allein als Mittel der Rache und Wut. Besonders deutlich wurde das am 7. Oktober. Die Dimension der Blutorgie ist unvorstellbar. Die Konsequenz: Gaza wird in Schutt und Asche gelegt. Es ist eine Tragödie. Man kann die Wut der Palästinenser nachvollziehen, aber sie müsste sich eigentlich gegen ihre Führung richten, die nicht bereit ist, das Los der eigenen Bevölkerung zu verbessern.

Im Interview: Michael Wolffsohn

Die Anfänge

Michael Wolffsohn wurde 1947 in Tel Aviv geboren, seine Eltern waren aus Nazideutschland geflohen. 1953 zogen sie zurück nach Berlin. Ab 1966 studierte er an der Freien Universität, ging dann aber 1967 nach Israel, um dort den dreijährigen Wehrdienst zu leisten.

Der Erklärer

Ab 1970 studierte er Geschichte in Berlin, Tel Aviv und New York. Von 1981 bis 2012 lehrte er Geschichte an der Bundeswehrhochschule in München. Einer seiner Schwerpunkte: israelisch-deutsche Geschichte. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und ist ob seiner Bereitschaft, kontrovers zu diskutieren, ein gefragter Gast in Talkshows.

Rache generiert Rache, Hass generiert Hass, sagten Sie einmal. Siedler haben Anfang des Jahres ein palästinen­sisches Dorf überfallen und zerstört. Ein Mensch starb. Darf man das mit dem Einfall der Hamas vergleichen?

Furchtbar. Von den Mechanismen her identisch. Von der Quantität her nicht vergleichbar, und die Straftaten der Siedler werden im demokratischen Rechtssystem Israels untersucht und vor Gericht bestraft. Die Siedler­bewegung steht in Korrelation mit der aus meiner Sicht falschen, weil auf Gewalt setzenden Politik der Palästinenser. Es hat mehrere Chancen gegeben, dass das Westjordanland Autonomie erhält. Sie wurden alle abgelehnt. 1978 gab es 700 Siedler im West­jor­dan­land. Heute sind 700.000. Das war die Antwort. Ich beschönige nichts: Ich halte die Siedlungspolitik politisch für eine Torheit und viele Siedler sind mir ­zuwider. Eine Dummheit ergibt die ­andere.

Sie sagen das so offen, weil Sie gerne das Widersprüchliche an Situationen herausarbeiten.

Widerspruch ist eine Erkenntnis­methode. Ich lass mich davon nicht abbringen.

Vor dem Überfall der Hamas deuteten Sie vor allem auf die innere Zerrissenheit Israels. Es gibt „zwei ­Israels“ sagten Sie.

Eigentlich sogar drei, auch die israelischen Palästinenser kommen hinzu. Die sich bisher, anders als bei früheren Konflikten, ruhig verhalten. In Israel hatten wir vor dem 7. Oktober eine absolut polarisierte Gesellschaft. Und nach dem wahrscheinlichen Sieg über die Hamas werden die innen­politischen Gegensätze erneut wieder aufflammen.

Es gab auch Proteste gegen die Hamas in Gaza. Ebenso wie im Iran.

Es gibt Umfragen aus dem Süden von Gaza und dem Westjordanland, wie zuverlässig die sind, kann man bezweifeln, dass 75 Prozent sich mit der Mord­aktion vom 7. Oktober identifizieren. Aber richtig, es gab diese Proteste. Im Iran, anders als in Gaza, waren es Massen­proteste. Das viele Geld, das in den Gaza­streifen floss, der Luxus, den sich die Eliten leisten, und das Geld, das in die Tunnelsysteme gesteckt wurde, die Bevölkerung hätte Besseres damit machen können.

In Interviews werden Sie nicht müde zu erklären, dass nach dem Holocaust eines nie mehr geschehen dürfe, nämlich dass Jüdinnen und Juden je wieder so Opfer werden. Der Angriff hat genau das gezeigt. Wie gehen Sie damit um?

Zionismus und Israel haben nie versprochen, dass es Sicherheit nach außen geben werde für das jüdische Volk. Sondern immer nur nach innen. Der Zionis­mus ist eine Reaktion auf den innenpolitischen Antisemitismus in den Ländern Europas, in Frankreich, in Deutschland, in Osteuropa vor allem. Immer wieder gab es Pogrome bis hin zum Holocaust. Es war vom Beginn der zionistischen Besiedlung von Palästina, oder Zion wie die Juden sagen, klar, dass es zu einem Clash mit der örtlichen Bevölkerung kommen würde. Kurzum, Israel wurde als Zufluchtsort für die Juden und Jüdinnen gegründet, die dort vor innenpolitischem Antisemitismus sicher sein sollten. Ziel war, dass es in diesem Land kein Berlin-­Neukölln ­geben soll, in dem „Tod Israel“, „Tod den Juden“ skandiert wird. Von innen her sollte es keine Juden­feindlichkeit geben.

Ist der Gazakonflikt für Sie eigentlich ein innenpolitischer oder ein außenpolitischer Konflikt?

Das ist eine interessante Frage. Die habe ich mir so noch nicht gestellt. Wenn die Maxime von Israel ist, nie wieder Opfer, dann ist das militärische Übergewicht Israels zwingend. Das ist die Quittung, die die christ­liche und die islamische Welt bekommt für ihren Jahrtausende währenden Umgang mit den Juden. Die Frage ist doch, wenn Israel verliert, diese letzte Zuflucht, dann, wohin? Nach Neukölln?

Warum schafft es Israel nicht, dass ganz Palästina prosperiert?

Dazu gehören zwei. Es gab im September 2008 von Ministerpräsident Olmert, der Scharon nachfolgte, wieder das Angebot, das Westjordanland zu räumen, der Gazastreifen war es ja schon. Darauf ließ der Palästinenserpräsident durchblicken, dass die Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge die Voraussetzung wäre. Aber wer sind die Vertrie­benen? Im Unabhängigkeitskrieg 1947/48 waren es 700.000 Menschen. Heute sind es mehr als 5 Millionen. Die Angaben schwanken. Das wäre der Selbstmord Israels und die totale Negierung des zionistischen Gründungs­moments, nämlich dass die Juden in ihrem Staat keine Minderheit sind. In dem Augenblick, wo die jüdische Bevölkerung die Minderheit ist, wäre die Situation in Zion identisch wie sie 2.000 Jahre in Europa war, und genau das wollte man verhindern. Ja, klar, man kann fragen, warum akzeptieren die Juden es nicht, wenn sie Minderheit sind. Dann antworte ich: Sie hatten 2.000 Jahre einfach schlechte Erfahrungen damit.

Aus all diesen Gründen sind Sie ein Verfechter des Militärs?

Natürlich.

Sie lehrten Geschichte an der Bundes­wehrhochschule und waren gleichzeitig jemand, der der Idee des Pazifismus verbunden ist. Wie passt das zusammen?

Krieg ist eigentlich inakzeptabel. Und Pazifismus ist eine wunderbare Vorstellung. Ich bin kein Pazifist, sondern vom Herzen her ein Antimilitarist.

Israel ist eine Sache, die andere Deutschland. Sie sind 1947 in Israel geboren, ab 1953 wuchsen Sie in Berlin auf. Als Jude in der Bundesrepublik sind Sie ein Seismograf für Anti­semitismus. Schon vor 15 Jahren ­sagten Sie, es werde immer schlimmer. Sie dachten ans Auswandern. Und jetzt?

Ich bin zu alt. Aber ich bin jetzt ­skeptischer denn je. Nicht weil dieser Staat uns nicht schützen will, sondern weil er es nicht kann. Die sicherheits­politischen Defizite nach innen, wie auch nach außen, sind so ­eklatant, dass mir Angst und Bange wird. Auf der ­anderen Seite sehe ich ­dankbar, dass die Mehrheit der ­Deutschen Sicherheits­politik am ­liebsten nicht haben möchte. Ich kann das nachvollziehen, erst recht nach dem ­„Dritten Reich“ und dem ­Militär im Kaiser­reichs, aber es ist unrealistisch.

Antisemitismus in Deutschland kommt aus drei Richtungen, sagen Sie. Von der Linken, von der Rechten und von der muslimischen Seite. Wie geht das jetzt weiter?

Indem man die Wirklichkeit als Wirklichkeit erkennt. Die Einschätzung und die Gegenstrategien zum Antisemitismus waren bis kürzlich geradezu absurd. Bis zum 7. Oktober, das besagen auch die Statistiken, wurde vor allem der rechts­extreme Antisemitismus ­gesehen. Dabei war schon vorher völlig klar, dass es den links­extremistischen teilweise bis ins linksliberale Lager hinein­reichenden Antisemitismus auch gibt. Bei der neuen Linken ist es etwas anders als früher, sie versteht sich als antikolonialistisch und Israels Zionismus ist für sie die Speerspitze des westlichen Kolonialismus und Imperialismus, daher die starke Identifizierung mit den Palästinensern. Das ist ­allerdings bar jeder historischen ­Realität. Es ist blanker Unsinn und eine Ideo­logie, die wie ein Krebsgeschwür insbesondere an Universitäten wuchert.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Im linken Lager ist es schwierig, den muslimischen Antisemitismus zu ­benennen, übrigens auch Homo­phobie und Frauenfeindlichkeit.

Dabei ist es doch eindeutig. Die erlebte verbale oder körperliche Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, die in zig Statis­tiken, vor allem von der EU-Agentur für Grundrechte belegt wurde, sagt, dass die meiste Gewalt gegen diese zuletzt von Muslimen ausgegangen ist. Warum kriegt man in Deutschland Ärger, wenn man das ausspricht? Man kann in der Demokratie alles sagen. Aber hier setzt die Schweigespirale ein und da mache ich nicht mit. Dazu gehört eigentlich nicht viel Mut, man muss nur ein Stück weit gesellschaftliche Isolierung auf sich nehmen. Jetzt reden übrigens alle nur noch über die muslimische Gefahr. Das ist in dieser Pauschalität auch völlig idiotisch, es gibt nach wie vor die beiden anderen auch.

Manchmal klingt es so, als fühlten Sie sich als Jude von den Linken besonders verraten.

Ja, weil ich mich denen atmosphärisch immer näher gefühlt habe. Vom internationalistischen Selbstanspruch her. Auch dass sie im kulturellen Sinne das Spießertum bekämpfen will, finde ich gut. Im Grunde fühle ich mich von denen ausgestoßen. Oder anders: Ich kann mich nicht nähern, wenn zwischen Anspruch und Wirklichkeit diese Diskrepanz besteht und fühle mich geschützter durch das konservative Deutschland.

Wenn Sie sich in Talkshows oder Inter­views ins Zeug legen, entsteht mit­unter der Eindruck, dass es nicht nur um Verstehen geht. Sondern auch um Lösen. Gar um Heilen. Die Konflikte heilen.

Wenn ich das nicht wollte, müsste ich gar nicht erst an Talkshows teilnehmen. Sonst wäre es nur noch Selbst­darstellung.

Sehen Sie eine Lösung für das politische Chaos in Israel?

Ja, ich habe es in meinem Buch zum Weltfrieden dargelegt. Es wäre eine Mischung aus bundesstaatlichen und ­staatenbündischen Elementen mit mehreren Kammern und Quoten­regelungen. In Ansätzen ein Schweizer Modell. Es gibt Möglichkeiten, einen friedlichen Weg zu finden, wenn man sich vom Nationalstaat als einziger Lösung löst. Was jetzt wieder gesagt wird, Zweistaatenlösung, das ist doch gar nicht durchdacht. Von den meisten Politikern aller Parteien bekomme ich auf mein Friedensmodell die Antwort, interessant, aber unrealistisch, auch von der Linken. Mit der AfD spreche ich nicht.

Sie haben vor ungefähr zwanzig Jahren einen Häuserblock in Berlin geerbt. Einst gehörte er mit dem Filmpalast „Lichtburg“ Ihrem Großvater. Er wurde von den Nazis enteignet und floh nach Israel. Kurz nach dem Krieg, kam er zurück und kämpfte sehr darum, sein Eigentum wiederzubekommen. Mit der Gartenstadt Atlantic, einer 20er-Jahre-Reformsiedlung, gelang es. Mit dem Kino nicht. Wie groß ist die Gartenstadt?

500 Wohnungen mit Kindergärten, einer Stiftung, Restaurants, mit Spenden und mit Fördergeldern finanzierte Lernwerkstätten in Physik, Musik, ­bildende Kunst, Kochen, Natur, Theater, Literatur und neue Medien. Mit 73.000 Teilnehmenden vor ­Corona pro Jahr.

Als Sie die Gartenstadt erbten, riet man Ihnen, sie zu verkaufen. Sie aber haben Kredite aufgenommen, sie saniert und vermieten bewusst an jüdische und muslimische Menschen, biodeutsch oder nicht.

Wir vermieten an alle.

Gelingt das Zusammenleben?

Ja, es ist eine friedliche Oase. Dass es klappt, hat nichts mit jüdisch oder muslimisch zu tun, sondern mit der Frage, was braucht der Mensch? Er braucht eben mehr als ein Dach über dem Kopf. Es geht darum, sich heimisch zu fühlen. Der Mensch muss im Vordergrund stehen und nicht die Frage, wie maximiere ich meine Rendite.

Ist die Gartenstadt die Plattform, wo Sie wenigstens ein bisschen das kulturelle, religiöse und politische Chaos heilen können?

Ja, aber Operation gelungen, Patient tot. Die Erfolge, die wir auf der ­Mikro­ebene herzerwärmenderweise haben, ­spiegeln sich auf der Makro­ebene nicht wider. Das erleben wir seit dem 7. ­Oktober mit „Tod den Juden und Tod ­Israel“. Das ist weltweit der Fall, und ­leider setzten sich die ­illusionsfreien Verständigungsbereiten nicht durch.

Ist die Macht der Worte also passé?

Das Judentum ist eine Wortreligion und das Schicksal der Juden zeigt, dass diese Worte nicht sehr mächtig sind.

Keine Hoffnung?

Wenig.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

14 Kommentare

 / 
  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    Die Idee aus Gaza und den angrenzenden Regionen ein Handelszentrum entstehen zu lassen ist nichts neues - diese Ansätze spiegeln die bedeutende Wirtschaftsgeschichte in dieser Region im Altertum wieder.

    Schon in frühester Zeit war die Levante ein wichtiges Handelszentrum. Sumerer und Ägypter unterhielten Handelsbeziehungen mit der Levante, die als wichtigstes Erzeugnis Bauholz (die berühmten „Zedern des Libanon“) lieferte. Im 2. Jahrtausend v. Chr. entwickelten sich an der Küste der Levante phönizische Handelsstadtstaaten (Byblos, arab. Ǧubayl, Sidon, Tyrus, Haifa, Jaffa, Akkon (hebr. ‘Akko), die Niederlassungen im ganzen Mittelmeerraum anlegten. Wichtigste „Dependance“ der phönizischen Städte war Karthago, im heutigen Tunesien gelegen. Die Phönizier wurden im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. zur absoluten Handelsmacht im Mittelmeerraum; besonders der Handel mit Purpur (ein aus der in der L. heimischen Purpurschnecke gewonnener Farbstoff) erbrachte gewaltige Gewinne. Andere Luxusgüter waren Glaswaren, edle Stoffe (vornehmlich Seide), Gewürze, Weihrauch und Myrrhe.

    Die Levante lag am Endpunkt zweier großer Handelsstraßen: der Seidenstrasse, die China und Indien mit Europa verband, und der Weihrauchstrasse, auf der die Luxusgüter Afrikas nach Europa transportiert wurden.

    Bedingung für eine Entwicklung in dieser Richtung:







    1. Marginalisierung des Einflusses vorhandener Terrororganisation wie Hamas und Hizbollah. Neutralisierung von Hamas allein reicht nicht.

    2. Abbau oder zumindest Organisation einer starken Durchlässigkeit der Grenzen für Güter, Dienstleistungen und Reiseverkehr

    3.. gemeinsame Handelsvereinbarungen mit den benachbarten Staaten - in Richtung gemeinsamer Markt - Vorbild siehe Europäische Union.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""Nichts macht wütender als der Argumentationsstrang, der den völkerrechtswidrigen Terror der Hamas als zwingendes Resultat der israelischen Besatzung beschreibt. ""

    Quelle Zeit vom 18.07.2014

    So klein, eng und arm ist Gaza gar nicht. Singapur ist bloß doppelt, Hongkong nur drei Mal so groß, aber mit der dreifachen und vierfachen Einwohnerzahl. Gaza ist gesünder als Ägypten, wo die Kindersterblichkeit höher, die Lebenserwartung niedriger ist. Und Gaza ist reicher als Jemen. Zweifellos leidet der Landstrich unter Israels Besatzung. Aber ist Terror tatsächlich die einzige logische Antwort auf Fremdherrschaft? Würde jemand das mal bitte dem Dalai Lama erklären?

    (....)

    Israels Räumung Gazas mit dem Abriss von 22 Siedlungen 2005 hätten deswegen ein Neuanfang sein können: Es hätte das Singapur des Nahen Ostens werden können. Ideal gelegen zwischen Afrika, Europa und Asien, mit weißen Stränden und gebildeten Einwohnern, hätte Gaza an seine jahrtausendealte Tradition anknüpfen können. Die Stadt am Mittelmeer war die meiste Zeit der Geschichte größer, bedeutender und reicher als das arme, heruntergekommene Bergdorf in den Hügeln Judäas namens Jerusalem.

  • Jede Medaille hat zwei Seiten. Wolfssohn mag - durchaus borniert - dann doch nur eine Seite der Medaille betrachten - die Seite, die Ihm mehr behagt.



    Der Oslo-Prozess ist nicht zuletzt daran gescheitert, dass zentrale Streitpunkte aus der Diskussion ausgeklammert wurden. Zu diesem gehörten der Status von Jerusalem und insbesondere die aggressiv-expansionistische jüdische Siedlungsaktivität im Westjordanland. Letztes ist bis heute der eigentliche Herd des Konflikt. Er wird es auch nach dem Ende dieses brutalen Schlagabtausches bleiben; denn Frieden ist nach diesem Krieg sicher nicht zu erwarten.

  • Michael Wolffsohn sagt: "Die Pläne von israelischen, wie auch arabischen Akteuren, Gaza, ich sag es mal salopp, zu einem Hongkong oder Singapur des Nahen Ostens werden zu lassen, waren fix und fertig in der Schublade."

    Es wäre nett, wenn Wolffsohn das mal etwas näher erläutert und auf Quellen verwiesen hätte. Aber vielleicht weiß ja die Autorin oder ein/e Leser/in Näheres darüber?

    • 0G
      06438 (Profil gelöscht)
      @Uns Uwe:

      Quelle :NZZ vom 7.06.2018



      Gastkommentar

      www.nzz.ch/meinung...inenser-ld.1391444

      Stattdessen sollte ein international konzertiertes und streng überwachtes Programm zum Aufbau eines florierenden Technologie-, Tourismus- und Dienstleistungszentrums in Angriff genommen werden. Gaza besitzt eine junge, wissensdurstige Bevölkerung sowie traumhafte Strände, und es liegt geopolitisch im Schnittpunkt dreier Kontinente. Was die Überbevölkerung angeht, so genüge der Hinweis, dass Singapur, einer der wohlhabendsten Staaten der Welt, eine gut fünfzig Prozent höhere Bevölkerungsdichte aufweist.



      Eine Rolle für die Schweiz

      Wenn Palästinenser und Israeli wirtschaftlich auf Augenhöhe stehen, einen Wissens- und Technologietransfer praktizieren und beiderseitig zunehmend an Kooperation interessiert sind, werden bisher kaum denkbare politische Lösungen möglich sein. Man wird miteinander statt gegeneinander auf demselben Land existieren und prosperieren wollen, in welchen politischen Formen auch immer sich das am Ende niederschlagen mag.

  • Hi, habe ich Herrn Wolfsohn richtig verstanden, dass die Gründung des Staates Israel eine Entscheidung "für" die Sicherheit Juden war, bei der der "Clash" mit der "örtlichen Bevölkerung" vorhergesehen und in Kauf genommen wurde?

    Weil, wenn das so ist, scheint es mir als wäre die dahinterstehende Argumentation:



    Unsere Sicherheit ist wichtiger als eure Sicherheit. Oder nicht?

    Jetzt fehlt mir die Expertise das zu beurteilen, aber so richtig "links" klingt das für mich vom Grundgedanken her nicht.

    • @ApA:

      aus dem Interview, vom Interviewten gesagt: "Wenn die Maxime von Israel ist, nie wieder Opfer, dann ist das militärische Übergewicht Israels zwingend. Das ist die Quittung, die die christ­liche und die islamische Welt bekommt für ihren Jahrtausende währenden Umgang mit den Juden."

      Dieser Satz hat mich am meisten zum Nachdenken gebracht.

      Und: es ist eine Reaktion, eine "Quittung", noch kein Frieden oder Versöhnung, sondern massiv bewaffnete Sicherheit.

    • @ApA:

      Damals war es auf jeden Fall links.

      Gucken Sie sich nur an, wieviel Menschen 1945 in Osteuropa aus Sicherheitsgründen durch die Gegend geschickt wurden.

  • Guter Mann !

  • Danke - „Sagen - was man denkt & vorher was gedacht haben“ - fein ist das! Woll

  • Sehr guter Beitrag. Sehe ein paar Dinge anders doch das ist kein Problem. Wie Helmut Schmid gute und vor allem lesbare nachvollziehbare Argumentation.

  • Sehr, sehr aufschlussreich, aber eine Sache irritiert mich sehr. Sind alle "Links" die sich selbst so bezeichnen? Auch die Regierung in Nordkorea? Oder sollte man sich nicht endlich dazu durchringen diese und auch alle, wirklich alle Anhänger von jüdischen Weltverschwörungstheorien vielleicht Nazis oder Rechtsradikal oder von mir aus auch als übel lost zu bezeichnen aber auf keinen Fall als links? Allmählich wird mir dieses Adjektiv viel zu beliebig um überhaupt noch anwendbar zu sein.

    • @da Customer:

      Die kurze Antwort: "ja"

      Die lange: Die gesündeste Antwort wäre "ja". "Links" ist ein selbst definierbarer Begriff, da kann man in der Theorie drunter schmeißen was man will. Wenn Sie alle Spinner, Verbrecher und Menschenfeinde pauschal vom "links-sein" ausschließen, wie können Sie einem Rechten verwehren alles was irgendwie gruselig war pauschal als "nicht rechts" abzuurteilen, "weil Rechte Ehrgefühl haben". Zack, schon ist das rechte Lager ein Leuchtturm der Menschlichkeit, während sich Diktatoren, Massenmörder und Tyrannen irgendwo "mitte bis links" rumtreiben.

      Sie können natürlich erwidern "was interessiert mich was der Rechte denkt" und das mag auch stimmen, aber Sie laufen trotzdem in eine Falle. Die DDR hat die Vergangenheit im Dritten Reich nie aufgearbeitet, denn "wir sind der Antifaschismus, wir sind die Guten" - da kann es keinen Rassismus geben. Die linke, kulturschaffende Szene? "Wir können keine Rassisten sein, wir sind links. Das ist Antikolonialismus"

      Salopp gesagt: Sie lügen sich die Hucke voll und werden blind für gefährlichen Unfug aus Ihrem eigenen Umfeld. Weil nicht sein kann was nicht sein darf.

      Ich bin mal ins Gespräch mit einem Pastor gekommen und der hatte eine überraschend charmante Definition des ähnlich schwammigen Begriffs "Christ": "Christ ist, wer in Jesus seinen Heiland sieht". Keine externen Kriterien, keine Ausschlüsse, sondern die reine Selbstdefinition. Das mag mitunter nicht jedem schmecken, aber es bedeutet auch dass niemand die Macht hat diesen Teil der Identität abzusprechen.

    • @da Customer:

      Da machen Sie es sich ein bisschen einfach; in etwa so einfach wie jene Muslime bzw. deren Vertreter, die meinen der Islam sei per se friedlich und wer nicht friedlich sei, sei dementsprechend kein Muslim und fertig ist die Auseinandersetzung ist deren Auseinandersetzung mit im Namen des Islam ausgeübter Gewalt. Oder wie es im Lexikon des Sozialismus zum Thema Verbrechen hieß: Das Verbrechen sei dem Sozialismus wesensfremd und komme im Sozialismus daher nicht vor.

      Wer sich auf Marx bezieht, oder aktuell auf den Dekolonialismus oder sonstige linke Theorien und dann auf welchen schrägen wegen auch immer dazu kommt Antisemit zu sein, der ist ein Linke Antisemit. Das kann man, außer vielleicht in der bundesdeutschen Statistik, schwerlich den Rechten in die Schuhe schieben. Hier muss die Linke ihre Hausaufgabe machen, Punkt.

      Ansonsten ein sehr erhellendes und leider auch ernüchterndes Interview. Herr Wolffsohn hat dabei besonders klar herausgearbeitet, wie planlos die Palästinenser vorgehen und sich am Ende vor allem selbst im Wege stehen. Diese einfache Erkenntnis ist zweifelsohne bitter für die Palästinenser, kann und darf aber weder für diese noch für Linke ein Grund sein Israel für alles übel der Welt verantwortlich zu machen. Die Palästinenser wollen Verantwortung, am besten für einen eigenen Staat, vergessen aber vollkommen, dass Verantwortung bei einem selbst anfängt und zeigen damit ungewollt, dass sie kaum in der Lage sind Verantwortung zu übernehmen.