Schirdewan zur Linken und Wagenknecht: „Das ist vergossene Milch“

Martin Schirdewan gibt sich stoisch optimistisch. Den Austritt von Sahra Wagenknecht und ihren Gefolgsleuten sieht der Linken-Vorsitzende als Chance.

Martin Schirdewan steht im Freien, im Hintergrund ist der Berliner Fernsehturm zu sehen

Martin Schirdewan nach dem Abgang von Wagenknecht: „Wir brauchen eine Linke auf der Höhe der Zeit.“ Foto: Dominik Butzmann/laif

wochentaz: Herr Schirdewan, was passt besser zur gegenwärtigen Situa­tion der Linkspartei: „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ oder „Auferstanden aus Ruinen“?

Martin Schirdewan: Ich finde, da gibt es andere schöne Lieder, die die Situation noch besser beschreiben. „Ich liebe das Leben“ von Vicky Leandros zum Beispiel. Da geht es um einen Trennungsschmerz, der in einer großen Chance mündet, nämlich ein gutes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Das ist ein Song, an den ich gerade denken muss.

Haben Sie schon Zahlen, wie viele seit der Präsentation des Bündnisses Sahra Wagenknecht aus der Linken ausgetreten sind?

Es dauert immer etwas, bis wir alle Ein- und Austritte auch in den Kreis- und Landesverbänden gesammelt und aufbereitet haben. Aber was dieser Tage bei uns in der Bundesgeschäftsstelle eingegangen ist, deutet darauf hin, dass mehr Leute ein- als austreten. Das ist ein positiver Trend, über den ich mich sehr freue. Es ist gut, dass die Klärung jetzt final da ist. Denn es gibt viele, die bislang gezögert hatten, sich zur Linken zu bekennen. Und auch zu viele, die die Partei wegen des destruktiven Dauerstreits verlassen haben. Jetzt können sie zurückkommen, um mit uns gemeinsam für eine starke Linke zu kämpfen.

Was haben Sie sich gedacht, als Sie am vergangenen Montag die Pressekonferenz von Wagenknecht und ihren Getreuen gesehen haben?

Ich fand den Auftritt bemerkenswert, weil er keinen Zweifel daran gelassen hat, wie groß die Differenz zwischen der gesellschaftlichen Linken und diesem Projekt ist. Sich für die Linke wählen zu lassen und dann eine vollkommen andere Politik zu machen ist höchst unredlich. Ich erwarte, dass die zehn jetzt ausgetretenen Bundestagsabgeordneten ihre Mandate, die sie alleine der Linken verdanken, zurückgeben.

Das werden sie nicht tun. Warum sollten sie auch?

Ich sehe das so, wie unsere drei direkt gewählten Abgeordneten Gregor Gysi, Gesine Lötzsch und Sören Pellmann: Wer die Linke verlässt, um eine Konkurrenzpartei aufzubauen, aber sein Mandat nicht zurückgeben will, begeht einen „höchst unmoralischen Diebstahl“. Und dieser Diebstahl wird auch noch auf Kosten der mehr als 100 Beschäftigten der Linksfraktion begangen.

Aber ist es nicht so, dass das Wehklagen über einen „Mandatsklau“ von einer Partei immer dann angestimmt wird, wenn sie davon blöderweise nicht profitiert? Oder können Sie sich daran erinnern, dass die Linkspartei die heutige saarländische Landesvorsitzende Barbara ­Spaniol seinerzeit aufgefordert hätte, ihr Landtagsmandat zurückzugeben, als sie von den Grünen überwechselte?

Es geht hier nicht um ein einzelnes Mandat, sondern um die Existenz einer ganzen Bundestagsfraktion. Da berauben jetzt Leute, die auf der Basis des Programms der Linken ins Parlament eingezogen sind, diese Partei und ihre Wählerinnen und Wähler der ihr zustehenden Vertretung als Fraktion im Bundestag. Das halte ich für verwerflich.

Die aus der Partei ausgetretenen Abgeordneten wollen allerdings allesamt erst mal in der Linksfraktion bleiben. Unterstützen Sie dieses Anliegen?

Wir haben zuerst mal ein politisches Anliegen und einen Auftrag unserer Wählerinnen und Wähler. Natürlich nehmen wir aber auch Rücksicht auf die Interessen der Beschäftigten unserer Bundestagsfraktion. Das machen diejenigen, die die Partei verlassen haben, leider nicht.

Sie halten es also für nicht vorstellbar, dass Wagenknecht und ihre Gefolgschaft bis zur angekündigten Gründung der neuen Partei im Januar in der Linksfraktion bleiben?

Nein, ich halte das nicht für möglich. Punkt.

Dass Wagenknecht und ihre Vertrauten ein Konkurrenzprojekt vorbereiten, konnte seit über einem Jahr jeder sehen, der es sehen wollte. Warum hat die Partei- und die Fraktionsführung das so lange nicht wahrhaben wollen?

Der Parteivorstand muss versuchen, die Partei zusammenzuhalten, dazu gehört auch ein gewisser Zweckoptimismus. Wir haben viel Geduld gezeigt, daran gearbeitet, Gräben zu überwinden und Brücken zu bauen. Im Nachhinein lässt sich selbstverständlich fragen, ob wir nicht zu viel Geduld hatten. Aber das ist vergossene Milch. Dieses Kapitel, das uns und der gesamten Partei viel Kraft gekostet hat, ist jetzt beendet. Jetzt blicken wir nach vorne und sammeln neue Kräfte.

Woher kommt Ihr Optimismus, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht nicht die Linkspartei in den Abgrund stoßen wird?

Ich sehe, was für eine Energie in dieser Partei steckt. Die Ziele, für die wir uns einsetzen, die Menschen, die dafür brennen, die sind ja noch da. Wir haben einiges vorzuweisen: Die Linke ist im Bundestag, im Europaparlament, in acht Landtagen und drei Landesregierungen vertreten. Wir stellen Oberbürgermeister und Bürgermeister. Tausende unserer Mitglieder machen in kommunalen Parlamenten praktische Politik. Ich bin sicher, dass von unserem Bundesparteitag Mitte November ein starkes Signal ausgehen wird: Wir wollen gemeinsam kämpfen für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse!

Wir sind die Partei, die für soziale Gerechtigkeit und Solidarität in dieser Gesellschaft, für sozialen Klimaschutz steht und ein klares antifaschistisches und bürgerrechtliches Profil hat. In den Landesregierungen machen wir konkrete Politik im Sinne der Beschäftigten mit Tariftreuegesetzen und Vergabemindestlöhnen, wir machen Sozialpolitik und Familienförderung mit beitragsfreien Kita­jahren. Mit dem Mietendeckel stehen wir wie keine andere Partei für eine Politik für Mieterinnen und Mieter. Damit werden wir jetzt wieder stärker durchdringen. Wir werden zeigen, welchen Wert linke Politik für die Menschen in diesem Land hat.

Sie glauben also, dass mit dem Abgang von Wagenknecht und Co alle Probleme der Linkspartei weg sind?

Nein, das glaube ich nicht. Aber jetzt besteht endlich die Chance, dass wir unsere Probleme lösen. Selbstverständlich brauchen wir einen Erneue­rungsprozess, den wir auch bereits eingeleitet haben. Wir müssen unsere Strukturen verändern und unsere Kommunikation verbessern, wir müssen endlich längst überfällige programmatische Diskussionen führen. Denn die Welt ist ja nicht seit unserem Erfurter Programm von 2011 stehen geblieben. Wir brauchen eine Linke auf der Höhe der Zeit. Aber was heißt das konkret in der größten Volkswirtschaft der Europäischen Union im 21. Jahrhundert? Um diese Antwort müssen wir miteinander ringen – mitunter sicher hart, wie das in einer pluralistischen Partei nicht anders sein kann. Aber respektvoll und das Gemeinsame nicht aus dem Blick verlierend.

Das klingt ziemlich allgemein.

Na, dann konkreter: Wir erleben derzeit gewaltige Umbrüche, die viele Menschen tief verunsichern. Wie gelingt es angesichts der vierten indus­triellen Revolution, also der Digitalisierung, und der Notwendigkeit der Bekämpfung des menschengemachten Klimawandels, die industrielle Basis zu erhalten, gute Arbeitsplätze der Zukunft zu schaffen und gleichzeitig für Klimaschutz zu sorgen? Oder nehmen wir die Inflation: Die Menschen leiden unter den steigenden Preisen, wir fordern ganz konkret einen automatischen Inflationsausgleich bei Sozialleistungen und einen Lebensmitteldeckel. Menschen haben Angst, die Rechnungen für Grundlegendes nicht mehr bezahlen zu können. Wie ermöglichen wir ein Leben ohne Existenzangst für alle? Darauf müssen wir überzeugende Antworten geben.

Haben Sie eine?

Es braucht mehr als eine. Wer leugnet, dass der Klimawandel eine Veränderung unserer Produktionsweisen erfordert, ist ein politischer Scharlatan. Wer andererseits die abhängig Beschäftigten die Kosten des notwendigen industriellen Umbaus tragen lassen will, der handelt unsozial und letztlich demokratiegefährdend. Da wiederum definiert sich auch unsere klare Oppositionsrolle zu dieser Bundesregierung. Solange die Ampelkoalition so weitermacht mit dieser brutalen Kürzungspolitik und ihrem Fetisch Schuldenbremse, die faktisch eine Investitions- und Zukunftsbremse ist, wird der Umbau nicht gelingen, sondern nur die Verunsicherung der Menschen weiterwachsen.

Wir brauchen massive staatliche Investitionen in die sozialökologische Transformation und gleichzeitig Umverteilung von oben nach unten. Und wir brauchen auch eine Umverteilung der Arbeit. Wir werben für die Viertagewoche. Die Grundidee ist: Es muss doch besser gehen, als dass sich die einen mit Bergen von Überstunden krank arbeiten und die anderen ohne Perspektive in der Arbeitslosigkeit sitzen. Dann bleibt auch bei denen, die Arbeit haben, mehr Zeit für Familie und gesellschaftliches Engagement.

Sie glauben also ernsthaft noch an eine Zukunft für die Linkspartei?

Ja, selbstverständlich. Ich denke, dass sich die gesellschaftliche Linke in Deutschland neu sortieren wird. Ungeachtet meiner persönlichen Enttäuschung über die Gruppe, die sich jetzt abgespalten hat, sehe ich die große Chance in der Trennung, dass meine Partei wieder zum zentralen Bezugspunkt dieser gesellschaftlichen Linken werden kann. Wer stellt sich sonst im parlamentarischen Raum dem gegenwärtigen massiven Rechtsruck noch entgegen?

Schauen Sie sich doch nur den Überbietungswettkampf in Inhumanität an. Inzwischen wird ja nicht mehr nur von den klassischen rechten Parteien das individuelle Recht auf Asyl infrage gestellt. Auch die Ampelkoalition ergeht sich mittlerweile in Kraftmeierei auf Kosten von Geflüchteten. Ich bin entsetzt, wie sich diese Regierung verhält. Das gilt auch und gerade für die Grünen. Die jüngsten Aussagen von Robert Habeck bezüglich Abschiebungen hätte man vor wenigen Jahren bei den Grünen allenfalls Boris Palmer zugetraut. Es ist enorm wichtig, dass es eine Partei gibt, die auch bei gesellschaftlichem Gegenwind Haltung zeigt und die Grundrechte für alle verteidigt. Dafür kämpfe ich.

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