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Kämpfe im Osten der UkraineWo die russische Offensive beginnt

Die Ukraine verteidigt im Osten die letzte Versorgungsroute. Wenn die Stadt in russische Hände gelangt, könnte es für Kyjiw schwierig werden.

Die 80-jährige Natascha hat ihr Haus in Kramatorsk durch den russischen Angriff verloren Foto: Unai Aranzadi Ormaechea

Kramatorsk taz | Ein ukrainischer Soldat lässt den Blick in Richtung des Horizonts schweifen – über die Landstraße zwischen den Städten Tschassiw Jar und Bachmut, im Herzen des umkämpften Gebiets Donezk, im Osten der Ukraine. Hinter ihm feuert eine Gruppe seiner Mitkämpfer Granaten ab, während gleichzeitig russische Geschosse niedergehen. Diese ukrainischen Soldaten halten die Stellung, um die Kontrolle über diese strategische wichtige Straße nicht zu verlieren, über die die belagerte Stadt Bachmut versorgt wird. Dort sind sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite bereits Tausende Toten zu beklagen.

Welche alternativen Versorgungsrouten bleiben den ukrainischen Soldaten, die in Bachmut ausharren? Nur eine: Parallel zu dieser Landstraße verläuft eine Schotterpiste. Robert, ein australischer Lkw-Fahrer, führt seit Monaten Hilfstransporte im Gebiet Donezk durch, er kennt die Gegend gut. Alle anderen Zufahrtswege Richtung Bachmut sind von russischen Soldaten blockiert. Wenn sich die Lage nicht bald ändert, fehlt nicht mehr viel, bis die Stadt vollständig eingekesselt ist.

Was wird in diesem Fall mit den Kyjiwer Truppen passieren? Weder ukrainische Kommandeure noch Rekruten möchten diese Frage beantworten, aber sie sind offensichtlich besorgt. „Ein taktischer Rückzug der ukrainischen Armee aus Bachmut wird eventuell in Erwägung gezogen, um ein Szenario ähnlich der Einkesselung in Mariupol zu vermeiden“, räumt einer der Soldaten ein. Gegenwärtig verlagert sich die Kriegsfront nach Westen.

In der benachbarten Kleinstadt Tschassiw Jar, über die Bachmut mit Lebensmitteln und Munition versorgt wird, ist die Lage ebenfalls kritisch, weil sie ständig unter Beschuss steht. Von ursprünglich rund 13.500 Be­woh­ne­r*in­nen sind nur einige hundert geblieben, sie hausen in Kellern ohne Wasser und ohne Strom. Drei Läden haben noch geöffnet. Ziaur, ein Mann mittleren Alters, verkauft hier Lebensmittel. „Wir haben inzwischen gelernt, ukrainische von russischen Angriffen zu unterscheiden“, sagt er stolz. Dann knallt es und zwei ältere Frauen laufen angsterfüllt weg.

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Flucht in Richtung Westen empfohlen

Die ukrainischen Behörden haben in Bachmut und Tschassiw Jar provisorische Notunterkünfte eingerichtet, um die Situation erträglich zu machen. Allerdings werden die Be­woh­ne­r*in­nen nachdrücklich aufgefordert, in Richtung Westen zu fliehen. Ein Teil der Bevölkerung will trotzdem bleiben. Diese Menschen wollen ihr angestammtes Zuhause nicht verlassen, auch wenn das bedeutet, künftig unter russischer Besatzung zu leben. Auch diese Ansichten gibt es – ein Realität, der sich die Regierung in Kyjiw nicht entziehen kann.

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Westlich von Bachmut und Tschassiw Jar liegt die Stadt Kostjantyniwka. Auch sie ist derzeit häufig Ziel russischer Angriffe. Von dort aus fahren ukrainische schlammverschmierte Fahrzeuge auf einer vereisten Straße voller Schlaglöcher mit enormer Geschwindigkeit zur östlichen Frontlinie, circa zehn Minuten entfernt. Es geht darum, Drohnen und russischer Artillerie zu entgehen. Erschöpfung und Anspannung sind den Soldaten ins Gesicht geschrieben.

Die russische große Offensive rückt näher

Normalerweise versucht der ukrainische Präsident, Wolodimir Selenski, Optimismus zu verbreiten, wenn es um die Fähigkeiten seiner Truppen geht. In den vergangenen Tagen äußerte er sich jedoch zunehmend besorgt über die Lage an der östlichen Flanke, die mit jedem Tag schwieriger werde. Wenn die Achse Bachmut-Tschassiw Jar-Kostjantyniwka den Russen in die Hände fallen würde, rückte die Eroberung zweier großer Städte im Donezk, die Moskau noch nicht kontrolliert, in greifbare Nähe: Kramatorsk und Slowjansk.

Kramatorsk ist ein wichtiges Industriezentrum, Slowjansk für Russland und die Ukraine von großer Symbolkraft. Hier begann 2014 der Krieg im Gebiet Donezk, und nach pro-russischer Besatzung wurde Slowjansk von ukrainischen Streitkräften befreit.

In Kramatorsk arbeiten einige Männer an einem Schützengraben. „Die Russen werden es hier nicht leicht haben. Monate haben sie gebraucht, um bis Bachmut zu kommen. Ein paar Wochen werden auf keinen Fall reichen, um Kramatorsk und Slowjansk einzunehmen“, sagen sie. Derzeit häufen sich Informationen, wonach diese seit Jahren verschanzten Städte rund um den 24. Februar, den ersten Jahrestag des Angriffskrieges, eine große russische Offensive zu erwarten haben.

Viele hier glauben fest daran, dass das wirklich so kommen wird. Am vergangenen Donnerstag gab es allein in Kramatorsk drei tödliche Bombenangriffe auf zivile Infrastrukturen. „Sie wollen uns terrorisieren“, empört sich einer der Feuerwehrleute, die in einem völlig eingestürzten vierstöckigen Wohnblock nach Überlebenden suchen. Neben ihm sitzt Natascha, eine Achtzigjährige. Zwar habe sie ihr Haus verloren, sei jedoch erleichtert, mit dem Leben davon gekommen zu sein. Während sie das erzählt, werden drei Leichen aus den Trümmern geborgen, sie waren ihre Nachbarn.

Aus dem Spanischen Gemma Terés Arilla

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9 Kommentare

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  • Jetzt hat wohl die russische Offensive begonnen und der Westen hat die Zeit nicht genutzt, die ukraine mit Nachschub für den augezwungenen Krieg zu versorgen. Es ist zu befürchten das die Verfügbarkeit von Nachschub zu spät kommt.

  • Mal eben so nach Westen fliehen. Die Wenigen, die noch dort sind, können zum Teil nicht mehr laufen, haben Krücken, sitzen im Rollstuhl, sind gebrechlich oder ernsthaft krank. Oder haben und versorgen entspr. Angehörige. Manche sind auch wirklich verängstigt, das kommt hier find ich nicht richtig rüber, RFE/RL u.a. war noch vor Kurzem in Bachmut, die Eindrücke sprechen für sich. Das hier so als Heimatverbundenheit oder gar Gemütlichkeit hinzustellen find ich schon mal schwierig, zumindest aber unglücklich verkürzt. Diese Menschen müssten da richtiggehend rausgeholt werden und das dürfte nicht so einfach sein, oder nicht mehr lange. Personell zweifelhaft, die nötige Hardware haben sie jetz schon mal nicht, ihr wisst alle warum. Und auch Selenskyj weiß das, der weiß überhaupt, was er macht und sagt, nicht nur hilflos fordert, vor allem was es bedeuten würde und dass die Konsequenzen hier - wie verständlicherweise in den US-Kalkulationen - nie nur militärische sind sondern eben auch humanitäre. Und wenn es (auch) dort zu Gräueltaten kommen sollte, dann sind nicht die Menschen Schuld, weil sie faul waren, oder nicht schnell genug laufen konnten. Warum seht ihr alle dabei zu? Das ist Schuld.

    • @Tanz in den Mai:

      Leider wird hier nur über Panzer oder andere schwere Waffen geredet. Über das Elend der Menschen wird kaum und wenig konkret informiert. Deshalb kommen die Bellizisten auch nie auf die Idee, über deren Schicksal bzw. über Hilfe für die Opfer nachzudenken.

      • @Rolf B.:

        Europa nimmt Millionen Flüchtlinge auf, es gibt unzählige Spendenaktionen für Essen, Generatoren etc. Da läuft sehr viel. Das Elend muss aber dauerhaft beendet werden und das geht nur durch eine russische Niederlage.

        • @Machiavelli:

          Ich bezweifle stark, dass eine russische Niederlage unter geopolitischen Aspekten für mehr Sicherheit sorgt. Armenien/Aserbaidschan oder auch Tadschikistan/Kirgisistan sollten da eigentlich schon abschreckende Beispiele genug sein. Ausserdem ist eine russische Niederlage laut den meisten westlichen Generälen (Milley, Burkhard usw) sehr unwahrscheinlich. Und nehmen wir Mal den unwahrscheinlichen Fall an, dass Russland kurz vor eine Niederlage steht. Wie sollte das denn aussehen ohne das dass in einer Kathatrophe endet? Die Ukraine erobert die Krim samt Nuklearwaffen in Sewastopol zurück ohne das etwas schlimmes passiert?



          Auch wenn vielen diese These nicht gefällt, der Krieg wird nur mit einem Friedensvertrag enden können der für beide Seiten passabel ist. Und um so länger der Krieg dauert, um so schwieriger wird es!



          Wir reden viel zu viel darüber den Krieg zu gewinnen. Wäre es es nicht besser darüber zu reden den Frieden zu gewinnen!? In Äthiopien war doch zb alles noch viel festgefahrender und trotzdem hat man am Ende eine passable Lösung gefunden!

          • @Alexander Schulz:

            Auf der Krim sind keine Nuklearwaffen stationiert.

            • @Barbara Falk:

              Die Aussage stimmt so nicht! Aber vielleicht spielen sie auf strategische Nuklearwaffen an - falls dieses der Fall ist haben Sie nicht ganz unrecht. Die Vermutungen von Experten, ob es inzwischen auch wieder U-Boote der Schwarzmeerflote gibt, die mit strategischen Atomwaffen ausgestattet sind, sind unterschiedlich.

          • @Alexander Schulz:

            Armenien/Aserbaidschan war schon vor dem Ukrainekrieg, der zweite Krieg dort 2020. Ich finde auch das Argument Russland darf nicht verlieren weil es so instabil wird ein bischen absurd, wenn Russland so instabil ist wird es früher oder später kollabieren.

            "Wie sollte das denn aussehen ohne das dass in einer Kathatrophe endet? " So wie Israel im Südlibanon, Pakistan in Kargil, USA in Vietnam, China in Vietnam suchen sie sich was aus. Die Regionalmacht zieht sich geschlagen zurück und lässt ihren Nachbarn in Ruhe.

            "Die Ukraine erobert die Krim samt Nuklearwaffen in Sewastopol zurück ohne das etwas schlimmes passiert?" So weit sind wir ja lange noch nicht und wenn es soweit ist kann man Russland ja den geordneten Rückzug anbieten. Ein Atomwaffeneinsatz verschärft Russlands Niederlage nur, stellt also keine Lösung da.

            "Auch wenn vielen diese These nicht gefällt, der Krieg wird nur mit einem Friedensvertrag enden können der für beide Seiten passabel ist. " Wie soll der aussehen? Russland fing diesen Krieg mit dem Anspruch an Weltmacht zu sein, wenn es jetzt irgendeinen Kompromissfrieden schließen muss ist das die absolute Niederlage, für Russland gibt es außer Sieg kein passables Ende. Auch hat Russland seit 1991 keinen einzigen Friedensvertrag der für beide Seiten passabel ist geschlossen, kein einziger Krieg Russlands endete mit einem Friedensvertrag.

            "Wir reden viel zu viel darüber den Krieg zu gewinnen. Wäre es es nicht besser darüber zu reden den Frieden zu gewinnen!?" Gewinnt man den Krieg gewinnt man den Frieden.



            Und in Äthiopien hatten sich beide Seiten zur Ermattung gekämpft da sind wir noch lange nicht. Die Grundlage für Friedensverhandlungen wurde bisher in 100% der Fälle durch das Schlachtfeld kreiert, weil eine oder beide Seiten nicht mehr konnten oder wollten.

            • @Machiavelli:

              User kartöfellchen ist ja an anderer Stelle schon deutlich auf die Schwachpunkte Ihrer Argumentation eingegangen (siehe Beitrag zum Artikel Gefangenenaustausch).

              Trotzdem möchte ich noch Mal darauf hinweisen, dass auch in Äthiopien noch "Potential" war weiterzukämpfen.

              Von Ihren Beispielen ist am ehesten noch Vietnam zutreffend, obwohl hier der entscheidende Unterschied ist, dass Vietnam nicht vor der Haustür der USA war. Ja, es mag unter Umständen möglich sein die Ukraine in ein zweites Vietnam zu verwandeln ohne daß es zu einem Atomkrieg kommt. Aber ein 10 jähriger Krieg ( genau genommen hat der Vietnamkrieg ja sogar 20 Jahre gedauert) mit unermesslichen Opfern sollte doch nun wirklich keine Option darstellen! Ich kann Ihnen nur empfehlen sich etwas genauer mit den humanitären Folgen des Vietnamkrieges auseinander zu setzen.