Rehabilitation in der Ukraine: Im Krieg wieder laufen lernen
In einer Klinik in der Westukraine arbeiten Therapeuten mit schwer verletzten Soldaten. Einer der Helfer kommt aus Nepal, ein anderer aus dem Libanon.
S erhii schaut nach unten auf seinen seinen linken Fuß und dreht ihn langsam nach innen. „Cool! Schau nur wie weit das schon geht“, sagt er und blickt auf. Seine braunen Augen werden ganz groß. „Vor drei Wochen konnte ich den Fuß gar nicht bewegen.“ Er sitzt im Rollstuhl und trägt einen graumelierten Jogginganzug, der an ihm etwas zu groß wirkt. So passt auch das Gestell aus Metallstangen und Schrauben in die Hose, das bei Serhii von der Hüfte abwärts das zusammenhält, was mal sein rechter Ober- und Unterschenkel war. Das untere Ende des Hosenbeins ist leer.
Der schlanke Mann mit den braunen Haaren ist gerade in den Raum gekommen. Er wartet auf seine tägliche Physiotherapie. Hier will er lernen, das linke Bein wieder voll zu belasten. Für das rechte möchte er eine Prothese bekommen.
Das helle Zimmer mit Blick auf den verschneiten Parkplatz befindet sich im Erdgeschoss einer Klinik in Winnyzja. Auf rund 30 Quadratmetern grauer Auslegeware sind Behandlungsliegen und allerlei Gerätschaften aufgebaut: Sprossenwände für Klimmzüge, ein Laufband, Medizin- und Sitzbälle sowie Yogamatten. Es ist warm. Die Patienten tragen T-Shirts.
Bis zu einem halben Dutzend Patienten sind gleichzeitig hier. Einer beugt sich auf einer Yogamatte seitwärts über einen Medizinball. Ein anderer liegt auf seiner Liege. Ein Physiotherapeut hilft ihm dabei, sein Bein zu bewegen. Es ist unterhalb des Knies amputiert. Am Fenster sitzt ein Patient im Rollstuhl. Er hat Erfrierungen an Beinen und Armen erlitten. Ein Therapeut arbeitet nun mit ihm an der Beweglichkeit seiner Finger. Er soll sie langsam immer weiter ausstrecken und dann wieder zur Faust ballen. Zwischen den Übungen haben Helfer und Patienten kurz Zeit für ein Gespräch.
Winnyzja liegt zirka 250 Kilometer südwestlich von Kyjiw. In beiden Städten betreibt Ärzte ohne Grenzen ein Projekt mit je einer Gesundheitseinrichtung, das die Rehabilitation von Kriegsverletzten unterstützt. Ein internationales Team von Physiotherapeut:innen und Psychiater:innen betreut dabei selbst Patienten und soll auch die einheimischen Mitarbeiter:innen weiterbilden. „Die Brutalität dieses Krieges erzeugte eine große Zahl an Patienten mit schweren Verletzungen und einen großen Bedarf an postoperativer Therapie“, heißt es in einem Bericht der NGO. Der Schwerpunkt der Klinik in Winnyzja liegt auf der Therapie von Patienten mit Amputationen. Andere Krankenhäuser haben sich auf Kopf- oder Rückenverletzungen spezialisiert.
Wie das Krankenhaus heißt, wo es genau liegt und wie es von außen aussieht, soll nicht öffentlich genannt werden. So will es Ärzte ohne Grenzen. Solche roten Linien ziehen sie auch in anderen ukrainischen Krankenhäusern bei der Berichterstattung. Russland hat schon häufig Krankenhäuser angegriffen, deshalb sollen möglichst wenig Informationen herausgegeben werden. Fotografiert werden darf nur im Inneren. Die Gesichter der behandelten Soldaten sollen ebenfalls nicht gezeigt werden, um sie und ihre Familien zu schützen. Und von den Menschen, mit denen die taz für diesen Text gesprochen hat, nennen wir nur die Vornamen.
Serhii kommt aus Winnyzja selbst. Mit dem Militär hatte er nie etwas zu tun, sagt er. Bis Russland im Februar 2022 versuchte, die ganze Ukraine zu unterwerfen. Zuletzt arbeitete er als Manager in einer Installationsfirma. Er spricht leise und hat eine weiche Stimme. „Ich wurde eingezogen“, sagt der 38-Jährige. In den ersten Kriegsmonaten war das selten. Selbst bei Freiwilligen hat die Armee meist nur solche mit militärischer Erfahrung akzeptiert. Serhii vermutet, dass er einberufen wurde, weil er mal fünf Jahre als Rettungssanitäter gearbeitet hat. „Das war wohl eine gefragte Qualifikation“, sagt er und legt den Kopf schräg.
Serhii, 38 Jahre, Soldat
Nach einigen Wochen militärischem Training schickte ihn die Armee im Juni als Sanitäter an die Front im Süden. Dort, zwischen den Großstädten Cherson und Mykolajiw, trat er im Oktober auf eine Mine. „Wir haben versucht, einen verletzten Soldaten zu evakuieren“, erinnert er sich. Dabei sei es passiert. „Ich hatte Angst, beide Beine zu verlieren.“ Bei seiner Rettung hat alles gut funktioniert, sagt Serhii. „Zwei Stunden nach der Explosion war ich in Mykolajiw im OP.“ Doch nach 20 Tagen in Fixierung habe es Komplikationen gegeben. „Es gab eine Blutung. Ich habe das Bewusstsein verloren.“ Als Serhii wieder zu sich kam, fehlte ihm sein rechter Fuß.
Anschließend verbrachte er zwei Monate in einem Krankenhaus in Odessa, danach verlegten sie ihn nach Winnyzja. Auch hier mussten die Ärzte noch mal operieren. Sie hatten eine Nervenverletzung im linken Bein entdeckt. Serhii krempelt die Hose hoch und zeigt eine Narbe unterhalb des Knies. Die Stiche ziehen sich in einem Halbkreis unter seiner Kniescheibe entlang. Nun hofft er, dass die Fortschritte bei der Therapie weitergehen. „Ich will wieder arbeiten.“ Welche Möglichkeiten er später hat, hängt davon ab, wie seine Therapie verläuft.
Sicherheit bedeutet hier wenige Fenster und ein tiefer Keller
Während die Therapeuten die Patienten behandeln, hält Natalia als stellvertretende Projektleiterin die Fäden zusammen. Vor der Invasion war sie Englischlehrerin. Nun kommuniziert sie mit den ukrainischen Behörden und den internationalen Helfern. „Ich habe gefühlt, dass ich etwas tun muss“, erinnert sie sich. Dann sei sie auf Ärzte ohne Grenzen gestoßen, sagt sie beim Kaffee im Büro der NGO in einem Hochhhaus am Rande der Innenstadt von Wynnizja. Von der Klinik bis hierher sind es mehrere Minuten mit dem Auto. Es gibt wenige Fenster und einen tiefen Keller, deswegen hat Ärzte ohne Grenzen das Haus ausgesucht. Hier sind die Mitarbeiter bei Raketenbeschuss relativ sicher. Und hier bereiten sich die Helfer vor und erledigen Papierkram.
„Die Helfer von Ärzte ohne Grenzen bringen viel Erfahrung mit“, sagt sie. Davon wolle man so viel wie möglich lernen. „Wir werden das noch brauchen.“ Der Bedarf sei riesig. Im Krankenhaus will man bald einen dritten Therapieraum eröffnen. Man überlege, das Projekt auf eine weitere Rehaklinik in Winnyzja auszuweiten. „Wir haben es hier mit Verletzungen zu tun, die in Friedenszeiten selten sind. Das Krankenhaus hier hatte früher drei oder vier Amputationspatienten im Jahr, nun sind es drei oder vier am Tag.“ Viele der Patienten seien mehrfach verletzt. Zehn Operationen seien keine Seltenheit. Seit dem Projektstart habe man 294 Patienten behandelt. Davon 161 in Winnyzja.
Ärzte ohne Grenzen unterhält in der Ukraine eine ganze Reihe von Projekten. Kurz vor Jahreswechsel arbeiteten nach eigenen Angaben 116 internationale und 685 ukrainische Mitarbeiter für die Organisation. In mehreren Regionen, die vorübergehend von Russland besetzt waren, sind ihre Teams unterwegs. Die Angreifer haben oft auch die medizinische Infrastruktur zerstört. In anderen Regionen engagiert sich Ärzte ohne Grenzen in der Betreuung von Binnenflüchtlingen. Außerdem betreibt die Organisation einen Zug, der seit März 2022 ältere, behinderte und psychoneurologische Patienten aus Krankenhäusern in der Nähe der Frontlinie evakuiert.
An einer Sprossenwand im Therapieraum ist ein Gummiband angebracht. Der Patient, dem ein halber Unterschenkel amputiert wurde, soll es mit dem verletzten Bein zurückziehen. „Wir müssen die Balance vorbereiten für die Prothese“, erklärt Sudan. Er ist einer der Physiotherapeuten aus dem Ausland. Er trägt grüne Krankenhauskleidung und eine Maske. Man sieht an seinen Augen, dass er meist lächelt. Der Beinstumpf des Patienten ist nicht voll ausgeheilt und bandagiert. Trotzdem soll der Mann trainieren, damit sich die Muskulatur nicht zurückbildet.
Sudans Weg in die Ukraine war lang. „Ich komme aus Nepal.“ Als er im Februar die Bilder vom Krieg in der Ukraine sah, habe er gewusst, dass Hilfe nötig sei. 42 Stunden sei er schließlich unterwegs gewesen, als er im August ins Land kam. Der 32-Jährige arbeitet seit sieben Jahren als Physiotherapeut. Mitarbeiter wie Sudan findet Ärzte ohne Grenzen in vielen Ländern. Wer sich bereit erklärt, wird bei Bedarf einem konkreten Projekt zugeordnet. Internationale und einheimische Mitarbeiter werden meist für die Dauer von sechs bis neun Monaten angestellt.
Sein Einfluss sei leider begrenzt, sagt Sudan. Viele der Patienten hätten bereits viel Muskulatur verloren. „Oft dauert es vier Wochen, bis sie hier sind. Am besten für die Behandlung ist es aber, so früh wie möglich nach der Verletzung zu beginnen.“ Es wäre besser, wenn die Patienten schon ein, zwei Tage nach der Operation mit der Reha anfangen. „Manchmal sind ihre Beine nur noch so dünn wie die Arme.“ Sudan sagt, die Patienten sollten sich so bald wie möglich auf Krücken fortbewegen können. Das sei wichtig für die Muskulatur und außerdem für die Psyche.
Das gestaltet sich allerdings oft schwierig. Viele von Sudans Patienten haben multiple Verletzungen. „Die meisten wurden bei Minenexplosionen verwundet.“ Zur Wucht der Explosion kommen Splitter, die oft große Wunden reißen. „Viele Patienten haben viel Blut verloren und sind entsprechend schwach“, sagt Sudan. Sie haben zudem oft große Schmerzen. „Sie müssen aber schmerzfrei sein, sonst können wir hier nicht arbeiten.“
Sudan, 32 Jahre, Therapeut
Nicht allen Patienten kann Sudan hier in Winnyzja so helfen, wie sie es wünschen. „Manchmal ist es nicht realistisch“, sagt er. Gerade habe er einen Patienten gehabt, dem ein Bein direkt unterhalb der Hüfte amputiert worden sei. Er möchte gern eine Prothese. Aber Sudan darf auch keine falschen Hoffnungen wecken. Es ist einfach zu wenig übrig, um eine Prothese daran zu befestigen.
Es gibt zu wenige Physiotherapeuten im Land
Das größte Problem für die Versorgung: Es gibt zu wenige Menschen, die verletzte Ukrainer fachgerecht behandeln können. Nach den Daten der OECD kamen in der Ukraine vor dem Beginn der großangelegten russischen Invasion auf 10.000 Einwohner 0,68 Physiotherapeuten. In Deutschland sind es 24. Die geringe personelle Kapazität steht nach dem russischen Angriff im Februar 2022 einem enormen Bedarf gegenüber. Genaue Zahlen zu Verwundeten publiziert die ukrainische Regierung genauso wenig wie zu den Gefallenen. Aber angesichts des Umfangs der Kampfhandlungen und der Raketen- und Drohnenangriffe auf zivile Ziele sind es wahrscheinlich Zehntausende.
Mit so vielen Verletzten wäre wahrscheinlich jedes Gesundheitssystem stark belastet. In der Ukraine gilt zwar die Krankenhausversorgung zum Beispiel in der Chirurgie als vergleichsweise gut. Jahrzehntelang bildeten die Universitäten des Landes den medizinischen Nachwuchs für viele Entwicklungsländer aus. Die Behandlung ist für Ukrainer:innen kostenlos. Allerdings war das Gesundheitssystem jahrzehntelang unterfinanziert, sodass Kosten für Medikamente sowie Vor- und Nachsorge an den Patienten hängen blieben. Physiotherapie konnten sich viele einfach nicht leisten. Entsprechend schwach entwickelt ist der Sektor.
Ein zweiter Serhii betritt den Therapieraum auf Krücken. Fast 1,90 Meter groß und ein Kreuz, als würde er seit seiner Jugend rudern und Zementsäcke schleppen. Aus seiner kurzen schwarzen Sporthose ragt nur ein Bein. Erst ein paar Tage vorher hat die deutsche Regierung angekündigt, der Ukraine auch Kampfpanzer zu liefern. „Jetzt kann ich auch wieder mit den Deutschen reden“, scherzt Serhii. Er sagt den Satz auf Deutsch, das unterrichten immer noch viele Schulen in der Ukraine.
Serhii Nummer zwei nimmt Platz. Der muskulöse Stumpf seines amputierten Oberschenkels wird sichtbar. Die Wunde ist gut abgeheilt. Die Narbe sieht glatt aus und ist nicht mehr rosa. Bald kann er eine Prothese bekommen. Doch das eigentlich gewünschte Modell würde 70.000 Euro kosten. Zu teuer für ihn. Stattdessen soll es nun ein anderes Fabrikat werden. „Damit kann man Fahrrad fahren“, sagt er. „Vielleicht sogar rennen.“
Die Therapie nimmt Serhii wie eine Trainingseinheit an. Damit kann er umgehen. Er hat Gürtel in mehreren Kampfsportarten und hat im Gym des Boxweltmeisters Oleksandr Ussyk trainiert. Die Statur für das Schwergewicht hat er. Er zeigt auf dem Smartphone ein Video. Der kurze Film zeigt ihn bei der Therapie. Serhii macht Sit-ups und hält dabei einen fünf Kilo schweren Medizinball über dem Kopf. Wie zur Bestätigung seiner Fitness macht er gleich noch ein paar Klimmzüge.
Er war Kommandeur einer Einheit im Donbass. Offizier im Rang eines Hauptmanns. Doch wie sein Namensvetter ist auch dieser Serhii kein Berufssoldat. Der 38-Jährige stammt aus Oleksandria in der Zentralukraine. Nach der Schule sei er damals in die Akademie der Grenztruppen eingetreten. Nach dem Wehrdienst habe er aber Jura studiert und als Staatsanwalt gearbeitet. Als Russland 2014 die Ukraine angriff, wurde er mobilisiert, weil er Reservist war. Ein Jahr hat er seinerzeit im Donbass gekämpft. „Aber danach wollte ich etwas anderes“, sagt er. Und machte sich als Anwalt selbstständig.
Als Russland seine großangelegte Invasion am 24. Februar begann, war Serhii zu Hause. Zuerst habe er seine Frau, seine sechsjährige Tochter und den dreijährigen Sohn in Sicherheit gebracht. „Sie wohnen jetzt in der Nähe des Bodensees. Sehr schön dort.“ Drei Tage später stieß er zu seiner Einheit in der Nähe des Flughafens von Donezk. „Dort habe ich fünfeinhalb Monate gekämpft.“ Dann wurde er verwundet.
Er zeigt auf dem Smartphone ein Video aus der Zeit vor seiner Verwundung. Man sieht ukrainische Soldaten in einem Schützengraben. In einer Ecke liegt etwas Grünes, das wie Laub aussieht. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine sogenannte Schmetterlingsmine. Meist werden sie als Streumunitiuon verschossen. Sie sind kaum zu entschärfen und müssen an Ort und Stelle gesprengt werden. Auf dem Video sieht man erst, wie Serhiis Soldaten die Mine in dem Graben aus einiger Entfernung mit einem Holzknüppel bewerfen, bis sie hochgeht. Auf eine andere schießen sie.
Es war knapp für Serhii, in mehrerer Hinsicht. „Am 16. August hatten wir ein Gefecht mit einer Einheit der Wagner-Söldner“, erinnert er sich. Serhii wurde getroffen. Aber das Projektil blieb in seiner Schutzweste stecken. Als die Soldaten versuchten, die Stellung zu wechseln, muss jemand auf eine Landmine getreten sein. „Bei der Explosion hat ein Soldat beide Augen verloren, ein anderer beide Beine.“ Serhii selbst durchtrennte ein Schrapnell die Arterie in seinem linken Bein. Er habe es geschafft, sich schnell genug das Tourniquet selbst anzulegen und die Blutung abzubinden. „Dann habe ich die anderen bandagiert.“
Serhii träumt vom Spielen mit seinen Kindern
Doch auch bei diesem Serhii gab es Komplikationen. Bei der Notoperation wurde offenbar ein Teil des Schrapnells übersehen, sagt er. Die Folge: Blutvergiftung. „Das Bein musste amputiert werden.“ Serhii wurde erst nach Kyjiw gebracht, im September dann nach Winnyzja. Allerdings heilte die Wunde nicht gut und er musste noch mal operiert werden. Wovon er nun träume? „Ich will mit meinen Kindern Fangen spielen können.“
Um mit der Physiotherapie zu beginnen, müssen die Patienten sie auch wollen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Nicht selten verlieren Verwundete den Lebensmut, wenn sie begreifen, dass vieles, was ihr Leben bis dahin ausgemacht hat, nicht mehr möglich ist. „Viele Patienten zweifeln am Sinn ihres Daseins. Einige sind selbstmordgefährdet“, sagt Psychiater Hassan im Besprechungsraum mit der Glasfront und den weißen Wänden. Der 34-Jährige gehört zum internationalen Team von Ärzte ohne Grenzen und kommt aus dem Libanon. Er trägt einen gestutzten Vollbart, die dunklen Haare zusammengebunden.
Für die NGO war er auch schon in Liberia, Jordanien und im Irak. Dort, wo die Terrorgruppe Isis gewütet hat, habe es auch viele Amputationspatienten gegeben. Seit August 2022 ist Hassan in der Ukraine. Anfangs arbeitete er in einem Projekt, das Patienten aus Gebieten in Frontnähe evakuiert hat. Im Oktober habe er dann in der Reha angefangen. „Alle zwei, drei Wochen pendele ich zwischen Kyjiw und Winnyzja“, erzählt er im Büro der NGO. Er fühle sich verantwortlich, zu helfen. „Wenn ich die Patienten sehe, weiß ich, ich bin am richtigen Ort.“
Dabei gehen die Patienten sehr unterschiedlich mit ihren Verletzungen um. „Die meisten haben keine militärische Erfahrung und haben sich trotzdem gemeldet.“ Das sei beeindruckend. „Viele haben die Kapazität, damit klarzukommen.“ Er hätte beispielsweise mehr Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen erwartet. Normalerweise würde viele Menschen den Ort ihrer Traumatisierung meiden. „Aber viele der Soldaten wollen sogar zurück an die Front.“ Offenbar sei das eine Bewältigungsstrategie.
Andere Soldaten gingen weniger offen mit ihren Verletzungen um. Manchmal wissen die Familien noch nach Monaten nicht, was für eine Verletzung ihr Vater, Bruder, Mann oder Freund eigentlich hat. „Sie machen sich Sorgen, wie ihre Kinder reagieren. Sind sie noch deren Superheld?“ Andere sind enttäuscht, machen sich Vorwürfe, empfinden Scham. „Wir haben es auch mit toxischer Männlichkeit zu tun“, sagt Hassan. Man gestehe sich nicht zu, zu trauern und zu weinen. Das stehe dann aber dem eigenen Umgang mit dem Erlebten im Weg. „Oft dauert es bis zu drei Wochen, bis die Patienten überhaupt reden wollen.“ Die Zeit fehle in der Therapie, denn die meisten seien nur vier bis sechs Wochen in der Klinik. Umso wichtiger sei es, dass die psychiatrische Behandlung danach fortgesetzt werde.
Wie es mit Patienten wie den beiden Serhiis weitergeht, hängt vom Erfolg ihrer Therapie ab. Und von der Schwere ihrer Verletzungen. Bei Serhii im Rollstuhl dauert die Behandlung sicher noch Wochen. Allein das Entfernen des Metallgestells verlangt nach einer eigenen Operation. Erst danach kann er mit der Physiotherapie für das amputierte rechte Bein beginnen. Der andere Serhii geht mit seinen Krücken am Tag nach dem Treffen im Krankenhaus schon im Zentrum von Winnyzja spazieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Neue israelische Angriffe auf Damaskus