Lage im ukrainischen Kramatorsk: Von Raketen und Panik

Kramatorsk ist Knotenpunkt für die Flucht aus dem Donbass. Nicht erst seit Moskaus Attacke auf den Bahnhof ist die Lage dramatisch. Ein Ortsbericht.

Alte Frau steht an Straßenrand

Nächster Halt Dnipro: Anisija Worobjewa wartet auf den Bus, der sie aus Kramatorsk evakuiert Foto: Oleksii Ladyka

KRAMATORSK taz | Jetzt geht sie doch, die 80-jährige Anisija Worobjewa. Sie steht an einer Haltestelle in Kramatorsk und wartet auf einen Bus, der sie aus der Stadt bringen soll. In der Ferne sind Explosionen zu hören, aber Anisija scheint sie gar nicht wahrzunehmen und erzählt von ihrem Leben. Dann fährt ein weißer Bus mit dem Logo des Dynamo-Fußballklubs vor, sie steigt ein und fährt nach Dnipro. Dort wird sie von Freiwilligen abgeholt, bekommt etwas zu essen, kann sich ausruhen und wird dann in einen Zug zu ihrer Tochter gesetzt.

Schon am 8. April soll Anisija Worobjewa, wie viele andere auch, eigentlich mit einem Zug aus Kramatorsk evakuiert werden. Sie hat gerade die letzte Kreuzung vor dem Vorplatz des Bahnhofs überquert, da kommt es zu einer gewaltigen Explosion. „Jemand hinter meinem Rücken sagte: Oh! Mir knickten die Beine weg“, ich dachte, ich würde stürzen und versteckte mich hinter einem Haus. Peng, peng! Ein Mann kam vorbei, voller Blut. ‚Halt jetzt kein Auto an, geh zu Fuß. Ich komme gerade von dort, bin mit dem Vorortzug angekommen. Da sind nur noch zerfetzte Körper‘, sagte er“, erzählt Anisija.

An diesem Tag vor über zwei Wochen beschießen russische Truppen gezielt den Bahnhof von Kramatorsk, wo Tausende Menschen auf ihre Evakuierung warten. Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ist Kramatorsk der größte Knotenpunkt, über den die Mehrheit der Ein­woh­ne­r*in­nen der Region das Gebiet Donezk verlässt.

Bei dem Angriff auf den Bahnhof finden 38 Menschen den Tod, 21 weitere sterben nach wenigen Tagen im Krankenhaus. 110 werden verletzt.

50.000 sind geblieben, davon 35.000 Rent­ne­r*in­nen

Seit diesem schrecklichen Ereignis hat Anisija immer wieder Panikattacken. Sie stammt ursprünglich aus der Gegend von Winniza, hat jedoch ihr ganzes Leben im Donezker Gebiet verbracht und sie spricht Ukrainisch in dieser überwiegend russischsprachigen Region. Sie hat in ihrem Leben viele Schicksalsschläge erlitten. Ihr Mann ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, eine Tochter an Krebs gestorben. Eine Enkelin ist aus einer Wohnung im siebten Stock gefallen. Sie hat überlebt, aber schwere bleibende körperliche Beeinträchtigungen zurückbehalten.

Diese ganzen Erschütterungen haben Anisija krank gemacht. Sie ist Diabetikerin, leidet unter Nieren- und Magenproblemen – und jetzt noch die Panikattacken. Sie erträgt keine lauten Geräusche: Hundegebell, Klopfen an der Tür und erst recht keine Explosionen. „Wenn es losgeht, habe ich das Gefühl zu ersticken. Ich kann dann nicht mehr sprechen“, sagt sie.

Am 14. März wird Anisijas fünfstöckiges Wohnhaus Ziel eines russischen Raketenangriffs. Eine weitere Granate schlägt in der Nähe ein. „Da war ein riesiges Loch. Gott bewahre! Die Leute haben geschlafen, es war zwei Uhr morgens“, sagt die alte Frau, als ich mit ihr im Taxi an der Stelle vorbeifahre.

Durch den Beschuss gehen Fenster in den benachbarten mehrstöckigen Wohngebäuden zu Bruch und die Dächer von nahe gelegenen Privathäusern werden weggerissen. Die Menschen beginnen, die Region zu verlassen. In Anisijas Treppenaufgang wohnen außer ihr noch zwei weitere Familien – vor dem „großen Krieg“ waren es noch zwanzig.

Nach der Explosion am Bahnhof verlässt Anisija die Wohnung wegen neuer Panik­at­tacken zwei Wochen lang nicht, aber ihre zweite Tochter und Freiwillige überreden sie schließlich, sich aus Kramatorsk evakuieren zu lassen.

Die Anzahl derer, die dazu bereit sind, wird immer kleiner, auch wenn die Stadtverwaltung von Kramatorsk die Be­woh­ne­r*in­nen wegen der drohenden Offensive russischer Truppen inständig darum bittet. Der Bürgermeister Aleksandr Gontscharenko sagt, dass die Frontlinie jetzt 45 bis 50 Kilometer von der Stadt entfernt verlaufe.

Die Russen greifen Kramatorsk jeden Tag mit Raketen an. Sie versuchen, Industrie- und Militäranlagen ins Visier zu nehmen, treffen aber hauptsächlich Wohngebiete. Sie haben bereits eine Schule, ein Institut, ein fünfstöckiges Gebäude und ein einstöckiges Wohnhaus zerstört, in dem eine Großmutter mit ihrer Enkelin lebte. Bei mehr als 50 Wohnhäusern sind alle Fenster oder ein großer Teil von ihnen zerbrochen, oder es gibt andere Schäden.

Doch das Schlimmste ist: Es sterben Menschen. Der Beschuss des Bahnhofs ist das größte Massaker in der Geschichte von Kramatorsk seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber die russischen Raketen kosteten nicht nur da Menschenleben: Als beispielsweise das fünfstöckige Gebäude zerstört wird, sterben drei Menschen, 25 werden verletzt. Am 19. April beschießen russische Truppen einen Ort, an dem Hilfsgüter entladen werden – ein Freiwilliger wird getötet, zwei weitere werden verletzt.

Aber auch nach all diesen Grausamkeiten bleiben Menschen in der Stadt, sie wollen einfach nirgendwo anders hin. „In den vergangenen Tagen sind täglich maximal 300 bis 400 Menschen in die Züge eingestiegen, auf dem Höhepunkt der Evakuierungen waren es 1.500“, sagt Aleksandr Gontscharenko. Seit dem Angriff auf den Bahnhof ist der Zugverkehr eingestellt. Stattdessen werden Evakuierungswillige mit Bussen nach Pokrowsk gefahren, von dort geht es dann mit dem Zug weiter in die Westukraine.

Schätzungen der Stadtverwaltung zufolge haben mittlerweile 160.000 Menschen Kramatorsk verlassen. Geblieben sind 45.000 bis 50.000, davon sind rund 35.000 Rentner*innen. „Das sind dieselben Leute, die auch während der Besatzung durch prorussische Kämpfer der Donezker Volksrepublik vor acht Jahren in der Stadt ausgeharrt haben. Für sie ist ihr Haus alles, was sie in ihrem Leben haben. Selbst wenn es zu einer Eskalation und stärkerem Beschuss käme, würden diese Leute nicht an einen anderen Ort gehen. Sie fürchten, dass ihre Häuser zum Ziel von Plünderern werden könnten“, glaubt der Bürgermeister.

Freiwillige wollen die Stadt verteidigen

Unter denen, die in Kramatorsk bleiben, sind die Freiwilligen der Kramatorsker Territorialverteidigung. Am 1. Januar dieses Jahres ist in der Ukraine ein Gesetz in Kraft getreten, wonach in jeder Region und jeder Stadt eine Territorialverteidigung aufzubauen ist. Das sind Einheiten der Streitkräfte der Ukraine, zu deren Aufgaben der Schutz ihrer eigenen Siedlung gehört. Für diejenigen, die aus irgendeinem Grund den regulären Verteidigungseinheiten nicht beitreten können, ermöglicht das Gesetz die Schaffung einer Freiwilligenformation.

Diesen Weg hat Wladimir eingeschlagen, der vor dem Krieg Staatsbediensteter war. Er und andere Mitglieder haben eine Initiativgruppe gegründet, sie registrieren lassen und in sozialen Netzwerken zum Beitritt aufgerufen. Dutzende sind dem gefolgt – von 17-jährigen Schülern bis zu über 70-jährigen Rentnern. Der eine hat bereits in der Armee gedient, der andere hat noch nie eine Waffe in der Hand gehabt, weiß mittlerweile jedoch damit umzugehen. „Viele sind durch unsere Ausbildung gegangen. Ein Teil von ihnen ist natürlich wegen des Krieges nicht mehr hier, aber wir haben immer noch eine Gruppe, die bereit ist, bis zuletzt zu bleiben, um ihre Stadt zu verteidigen“, sagt Wladimir.

Spezialisten mit Kampferfahrung schulen Freiwillige im Umgang mit Waffen und führen taktische Trainings durch. Solange es in Kramatorsk noch relativ ruhig ist und es in der Stadt selbst keine Kampfhandlungen gibt, unterstützen die Kämpfer kommunale Versorger, entladen Fahrzeuge, die Hilfsgüter bringen und helfen, die Folgen von Angriffen zu beseitigen. Sollten die Kämpfe jedoch die Stadt erreichen, werden die Verteidiger auch mithelfen, die Angreifer zurückzuschlagen.

Ein junger Freiwilliger mit dem Spitznamen „Okun“ hat vor dem Krieg in einer Fabrik in der Nachbarstadt Slowjansk gearbeitet. Er war auf dem Sprung nach Polen, um sich dort einen Job zu suchen. Doch als Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar begann, hat er seinen Eltern gesagt, dass er nirgendwo hinfahren, sondern bleiben werde, um sein Land zu verteidigen.

„Ich bin für mich zu folgender Schlussfolgerung gekommen: Es braucht diejenigen, die zuallererst nicht an sich, sondern an das Leben ihrer Mitmenschen denken. Es gibt eine 40-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass in der Stadt Häuserkämpfe beginnen werden, aber wir werden zurückschlagen – weil wir Ukrainer sind“, sagt Okun.

Das sieht auch der Bürgemeister Aleksandr Gontscharenko so. „Ich rede viel mit den Soldaten, sehe, in welcher Stimmung sie sind. Niemand wird Kramatorsk, Slowjansk oder die Region Donezk aufgeben. Das ist meine persönliche Meinung: Der Sieg wird bald der unsere sein.“

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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