Armut in Deutschland: Riesen-Andrang auf Tafeln

Die Zahl der Kun­d:in­nen bei den Tafeln ist auf einem Rekordhoch. Immer mehr Menschen sind langfristig auf Hilfe angewiesen.

Eine Mitarbeiterin übergibt einer Person einen Eisberg Salat

Ehrenamtliche Mitarbeiter kommen mit dem Verteilen nicht hinterher Foto: Christophe Gateau/dpa

BERLIN taz | Ein Höchststand an Bedürftigen: So viele Menschen wie noch nie nutzen derzeit das Angebot der Tafel in Deutschland. Das geht aus den gestern veröffentlichten Ergebnissen einer Umfrage des Vereins hervor, an der über 600 Ausgabestellen der Organisation teilnahmen. Demnach hat sich die Zahl der Ta­fel­kun­d:in­nen in der ersten Hälfte dieses Jahres um mehr als die Hälfte erhöht. Der gemeinnützige Verein verteilt derzeit Lebensmittel an über zwei Millionen Menschen.

Aufgrund der Rekordnachfrage musste ein Drittel der 960 Ausgabestellen bereits die Aufnahme von neuen Kun­d:in­nen stoppen. „Bei uns in Bayreuth kamen innerhalb kürzester Zeit 900 neue Personen an. Das kann eine mittelgroße Tafel einfach nicht stemmen“, berichte Peter Zilles, Vorsitzender der Tafel in Bayern. Aufgrund des hohen Andrangs kann mehr als die Hälfte der Ausgabestellen in Deutschland derzeit weniger Lebensmittel pro Haushalt als sonst üblich verteilen.

Die Tafel sieht vor allem zwei Ursachen. Zum einen nutzen zahlreiche Geflüchtete aus der Ukrai­ne das Lebensmittelangebot. Dabei kritisiert der Dachverband des Vereins, dass Sozialämter und Behörden Geflüchtete oft direkt zu den Ausgabestellen der Tafel schicken würden.

Letztere versteht sich aber nicht als vollständiger Ersatz des sonstigen Einkaufsangebots, erklärt Jochen Brühl, Vorsitzender des Tafel-Dachverbands: „Wir helfen, so viel wir können, aber bleiben ein Zusatzangebot. Dass alle Menschen in Deutschland genug zu essen und zu trinken haben, muss der Staat gewährleisten, nicht das Ehrenamt.“ Eigentlich sieht sich die Tafel als Möglichkeit zur kurzfristigen Überbrückung für Notsituationen. Doch immer häufiger benötigten Kun­d:in­nen die Hilfe langfristig.

„Die Spenden werden knapper“

Neben dem Zuwachs an ukrai­nischen Geflüchteten sorgt zum anderen die steigende Armut in Deutschland dafür, dass immer mehr Menschen auf die Tafel ­angewiesen sind. Besonders Personen mit geringem Einkommen, Rent­ne­r:in­nen und Arbeitslose hätten in den vergangenen Monaten zum ersten Mal Lebensmittel bei einer Tafel abgeholt, berichtet der Dachverband.

Die aktuelle Situation bringt den Verein personell an seine Grenzen. „Das belastet unsere Helferinnen und Helfer stark, denn mehr Kundinnen und Kunden bedeuten längere Ausgabezeiten und einen höheren Aufwand“, sagt Sirkka Jendis, Geschäftsführerin der Tafel. Vor allem das Gefühl, das Engagement reiche trotzdem nicht aus, löse einen „psychischen Druck“ auf die Ehrenamtlichen aus.

Während das Bedürfnis nach bezahlbaren Lebensmitteln wächst, werden immer weniger im Handel übriggebliebene Produkte gespendet, berichten mehrere Tafeln. „Der Handel scheint beim Thema Lebensmittelverschwendung etwas vernünftiger geworden zu sein. Das ist natürlich gut, aber die Spenden werden knapper“, sagt Frank Hildebrandt, Vorsitzender der Tafel in Schleswig-Holstein und in Hamburg.

Für die aktuelle Situation macht der Dachverband vor allem die Politik verantwortlich. Von der Bundesregierung verlangt die Tafel neue Soforthilfen, die die von Armut Betroffenen besser erreichen. „Wir fordern für das angekündigte Bürgergeld armutsfeste Regelsätze von mindestens 678 Euro“, sagt Verbandsvorsitzender Jochen Brühl, auch mit Blick auf die Inflation und die steigenden Lebenskosten in Deutschland.

Schon im vergangenen Jahr ist die Zahl der Menschen, die von Armut betroffen sind, stark angestiegen. Laut dem Paritätischen Armutsbericht 2021 waren das 13,8 Millionen Personen in Deutschland. Das ist faktisch je­de:r Sechs­te in der Bundesrepublik.

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