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9-Euro-Ticket und Hartz IVEin Armutszeugnis

Gereon Asmuth
Kommentar von Gereon Asmuth

Eine Anrechnung des 9-Euro-Tickets auf Hartz IV ist völlig daneben. Eine Regierung, die Entlastung für alle will, muss auch alle meinen und mitnehmen.

Willkommen im Land der Pfennigfuchser und Schikaneure Foto: Monika Skolimowska/dpa

D eutschland ist das Land der Pfennigfuchser und Schikaneure. Wenn es dazu eines Beweises bedurft hätte, dann ist es der Umgang mit dem 9-Euro-Ticket. Familien, die auf Hartz IV angewiesen sind, sollen in einigen Bundesländern nun tatsächlich Zuschüsse zurückzahlen, weil sie im Juni nicht den Normalpreis für ein Schülerticket zahlen müssen, sondern nur 9 Euro.

Der Skandal daran ist: Die Schikaneure haben recht. Also rechtlich gesehen zumindest. Sie dürfen, nein, sie sollen sogar bei jedem armen Schlucker nachprüfen, ob er nicht versehentlich den einen oder anderen Euro zu viel bekommen hat. Dafür investieren Mit­ar­bei­te­r:in­nen in den Ämtern ihre Arbeitskraft und Energie. Damit sie sich mit Rückforderungen nicht komplett überarbeiten, werden Zuschüsse für Schülertickets im Juli und August von vornherein gekürzt. Im Namen der Gerechtigkeit.

Die Schikane hat System: Mal werden Kindergelderhöhungen so gegengerechnet, dass sie überall, aber nicht ganz unten ankommen. Mal wird Betteln oder Flaschensammeln als abzugsfähiges Nebeneinkommen definiert. Und nun wird eben beim 9-Euro-­Ticket nichts gegönnt.

Dabei war es doch das große Ziel dieses revolutionären Superduper-Extra­tickets, dass alle mal günstiger den öffentlichen Nahverkehr ausprobieren und nutzen können. Leider heißt alle mal wieder nur: alle, die auch bisher genug Geld gehabt hätten, um ihr Auto vollzutanken. Aber eben nicht alle, die ohne ÖPNV nirgendwo hinkommen, weil es schlicht unbezahlbar ist.

Von einer Bundesregierung, deren größte Partei sich sozial nennt, deren zweitgrößte für soziale Teilhabe und ein Leben ohne Existenzangst kämpft und deren dritte eine unbürokratischere, mehr Würde wahrende Grundsicherung will, sollte man erwarten können, dass sie bei jeder staatlichen Erleichterung als Standard oben in die Beschlussvorlage schreibt: „muss in vollem Umfang auch und gerade Hartz-IV-Empfänger:innen zugutekommen“. Beim 9-Euro-Ticket wurde es vergessen. Ein Armutszeugnis für die Ampel.

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Gereon Asmuth
Ressortleiter taz-Regie
Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters
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30 Kommentare

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  • Der Artikel zeit in aller Deutlichkeit die soziale Kälte in diesem Land.



    Einlassungen der SPD oder Grünen sich für soziale Ziele? einzusetzten - nur Provaganda - danke für den Beitrag, der uns die Augen öffnen sollte....

  • Wenn dieselbe Akribie, Ausdauer und Hingabe auch im Bereich der Steuerprüfung angewandt werden würde… nun, dann wäre das immer noch nicht vertretbar, aber sicherlich unnötiger, da man mehr Geld zur Verfügung hätte, das man in Sozialtickets stecken könnte.

  • "Dafür bekommen Hartzer (synonym: GruSi-Empfänger) glatt € 3,- pro Monat mehr!"

    Nein! Unglaublich! Sofort das Bundesverfassungsgericht anrufen!

  • Senatorin Kipping hat wohl gesagt, dass Berlin so einen Quatsch nicht mitmacht.



    Seit langem mal wieder eine positive Nachricht aus Regierungskreisen.

  • Leute... die freie Marktwirtschaft ist die heilige Kuh Deutschlands. Wenn jedes Mal, wenn die Inflation steigt, die Löhne steigen oder Hartz 4, dann gibt es kein Plus für den Markt. Sondern es geht ins Minus. Sowas will eine neoliberale Regierung nicht.

  • Die Sätze sind einfach viel zu niedrig. Ne 3 Euro Erhöhung, bei der momentanen Priissteigerung, da liegt der Skandal. Man könnte auch überlegen, ALG2 Empfängern generell und immer dieses 9 Euro Ticket zu gewähren.

    Aber dass es keine Förderung geben kann, die den Wert der Leistung übersteigt, ist dagegen völlig normal. Das hat auch mit Bürokratie nix zu tun.

  • Unverschämte Grundhaltung einiger Bundesländer!



    Hinweis zum 9 € Ticket: Es wäre gut, wenn in Anbetracht der zu erwartenden Erstattungsflut durch die Jobcenter im Kontext der Tickets, Tacheles e.V. oder andere Experten (Sozialrechtsanwälte) eine Vorlage zum Widerspruch erarbeiten würde. Nach meiner Auffassung sind Erstattungsforderungen im Kontext zum Beispiel der "Schülerjahrestickets" nicht gerechtfertigt. Möglicherweise muss man unterscheiden zwischen Jahres - und Monatstickets auf der Grundlage, dass niemand ahnen konnte, dass nun billigere Tickets angeboten werden und diese nicht zu BuT - Leistungen gehören. Von einer "ungerechtfertigten Bereicherung zu Lasten der Allgemeinheit", wie manche Medien bereits verbreiten, kann hier auf keinen Fall die Rede sein - weil der reguläre Anspruch zum Zeitpunkt der Antragsstellung und Bewilligung gegeben war, und es sich bei den 9 € Tickets um eine allgemeine Leistung für alle handelt - die erst jetzt auf den Weg gebracht wurde. Vielleicht könnte euer Team ja was erarbeiten, damit die Jobcenter ggf. auch "verklagt" werden können. Am einfachsten wäre natürlich, wenn die Jobcenter die Arbeitsanweisung erhielten, bereits bewilligte Leistungen nicht zurückzufordern. Das ist wohl aber eher ein Wunschdenken. Für meinen Fall werde ich jedenfalls auch klagen, falls das Jobcenter mit einer Rückforderung kommt. Denn Grundlage dafür ist: § 40 Abs. 6, S. 3 SGB II , der verhindert die Aufhebung und Erstattungsforderung - nur Widerruf nach § 29 V 2 SGB II ginge theoretisch? Dafür müsste aber zweckwidrige Verwendung vorliegen, was wohl kaum vorliegen dürfte. Eine Widerspruchs - und Klagewelle könnte hier eine abschreckende Wirkung auf die Jobcenter und die Länderverantwortlichen haben. Außerdem gewährt dieses befristete Ticket zum allererstenmal auch die Möglichkeit an gesellschaftlicher Teilhabe für die Ärmsten, weil man fast überall hinfahren kann.

  • Die Lebensmittel-Preise explodieren.

    Dafür bekommen Hartzer (synonym: GruSi-Empfänger) glatt € 3,- pro Monat mehr!

    (Auf Coronoa-Hilfen, wie den versprochenen FFP2-Masken warte ich heute noch *fg*)

    Diese Menschen werden komplett ausgeblendet.

    Sie gehen sowieso nicht mehr wählen.

    Es ist deutsche kollektive Kultur, sie zu maßregeln und zu denunzieren.

    Wer im Krankenhaus ist oder bei Familie/Freunden zum Essen eingeladen ist, verliert seine € 5,87 Ernährungspauschale (egal ob Maus oder Elefant).

    Wenn man es nicht meldet, riskiert man Leistungskürzungen.

    Hahaha!

    Dafür muss sich ein dreijähriges Kind, eine 85-jährige Rentnerin, der Schwerbehinderte, ein Aufstocker anhören, wie fault er*sie ist, der Gesellschaft auf der Tasche liegt etc pp

    Ich persönlich habe viele hunderttausende Euro in die Sozialsysteme eingezahlt, Kinder großgezogen, Eltern gepflegt, eine Familie ernährt, dieses Land verteidigt ... um mich jetzt im Alter universell beschimpfen zu lassen.

    Vom Tankrabatt und dem 9€-Ticket haben die Bedürftigen absolut nichts.

    Es sind nur weitere Beruhigungs-Pillen für die gierige Mittelschicht, die offentsichtlich Angst davor hat, selbst in zu Beginn genannte Gruppe abzurutschen...

    So far my tiny penny

    • @Annemarie Paysen:

      Die Hälfte der von Ihnen als Hartzer benannten Menschen könnten nicht mal wählen, selbst wenn sie wollten, weil es sich nicht um deutsche Staatsbürger handelt. Tendenz stark steigend. Deshalb kümmert es die Politik auch nicht.

      • @Šarru-kīnu:

        great point!!

  • Ja, das ist bitter - und typisch. Wenn etwas billiger wird, wird sofort und sogar rückwirkend gekürzt. Wenn vieles andere teurer wird, wird langwierig debattiert, ob und wieviel H4 erhöht werden könnte, und das natürlich mit Verzögerung von vielen Monaten. Und im Moment wird so ziemlich alles teurer. Nahverkehr ist so ziemlich die einzige Ausnahme.

  • Das ist ja seltsam, warum soll irgend jemand, eine Unterstützung für eine Leistung erhalten, die er/sie gar nicht so bezahlt hat. Also z. B. 50 € Zuschuss für Ticket und das kostet im Monat Juni nur 9 €. Damit ist es doch voll okay, wenn automatisch nur diese 9 € überwiesen werden!



    Die Aufregung im Artikel darüber ist mehr als künstlich und im Großen und Ganzen eigentlich Bildzeitungsstil!

    • @Fridolin:

      Man kann es auch andersherum aufziehen:



      Der Staat will uns (alle) wegen der Inflation entlasten.



      Eine Mittelschichtsfamilie mit zwei Kindern, die ansonsten 50 € je Kind für die Monatskarte zahlt und das sich auch leisten kann, hat pro Monat nun 82 € mehr in der Tasche.



      Eine Familie die auf Harz IV angewiesen ist, bekommt: nichts

    • @Fridolin:

      Es geht darum, dass hier mal wieder eine sture, technokratische auf den Punkt genaue Auslegung bzw. Befolgung des Gesetzes stattfindet. Eines Gesetzes, das oft genug ohnehin schon in erniedrigender Gängelung der Betroffenen mündet. Vor dem Hintergrund, dass die ALG2-Sätze so oder so für viele Menschen mehr (bzw. weniger) als "knapp auf Kante genäht" sind, hätte man hier auch "Gnade vor Recht" ergehen lassen können. Der Spielraum ist offensichtlich da, manche Bundesländer/Kommunen handhaben es ja etwas humaner.

  • Mir sieht das aus wie eine "formal korrekte Schikane" gegenüber den ALG2-Empfängern. Man gönnt sich ja sonst nichts. Ekelhaft!

  • Nun- wir haben einfach aufgehört ein Staat zu sein. Während die Lobbyistenmafia ALLES nimmt, was nicht niet und nagelfest ist, bekommen die Menschen immer weniger. Das gesamte System ist vollkommen korrumpiert. Andererseits werden gerade totalitäre Masnahmen immer opportuner, und der Widerspruch dagegen immer geringer. Alleine das gesamte System, Arme als Schuldige zu behandeln die als Büttel gesehen werden an denen man stets exekutieren kann, zeigt dass das Verständnis von Staat und demokratie einer täglich neuen definitionsfrage gewichen ist. Nicht daran, wie Reiche, sondern daran wie ALLE behandelt werden, sollst du Demokratie erkennen

    • @Cem:

      "Das gesamte System ist vollkommen korrumpiert"



      Gibt es eine Steigerung von "vollkommen"?. Oder wie würden Sie Staaten wie Venezuela, Syrien, Somalia und Südsudan auf den hinteren Plätzen des Korrptionsindex bezeichnen?

  • Der Staat übernimmt die tatsächlichen Fahrkosten. Damit gibt es keine zusätzlichen Belastungen im Zusammenhang mit dem ÖPNV für Hartz IV Empfänger.

    Irgendwie verdreht der Autor irgendwas.

    • @DiMa:

      Es sind aber auch alle sonstigen Lebenshaltungskosten gestiegen. Auch für diejenigen, die mit Alg2 am Existenzminimum herumkrebsen. Da könnte man natürlich human sein. Wenn man wollte.

      • @Kawabunga:

        Das bestreite ich gar nicht. Deshalb ist Hartz IV gegebenenfalls auch zu erhöhen. Nur dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage.

        Sollte man dagegen einfach so (ungesetzlich) auf eine Rückzahlung verzichten, wäre sie Höhe der Förderung vom Zufall anhängi und zwar alleine davon, ob ein Ticket in der Regeion viel kostet oder wenig. Das kann wohl nicht ausschlaggebend sein.

        • @DiMa:

          Stimmt, stattdessen lieber den bürokratischen Mehraufwand wählen, anstatt gesetzlich nschzubessen. Kappa.

          • @MeineMeinungX:

            Gerne auch durch gesetzliche Nachbesserung. Kommt diese? Bis dahin ist halt zurück zu fordern, da es kein Ermessen gibt.

  • Klar, das Ticket war mit dafür da, gestiegene Preise abzufangen, deswegen muss es natürlich gegengerechnet werden, wo kämen wir denn sonst hin …

    (sarkasmus ende)

    dass Hartz4-Sätze aber *gleichzeitig* (oder besser vorher!) an die höheren Preise für Grundnahrungsmittel angepasst werden (also *deutlich* steigen) ist wohl undenkbar.

    Pfennigfuchser, aber nur *gegen* die Armen.

  • So langsam wird unübersehbar ruchbar, was wir uns da für Gestalten in den Regierungsapparatschik geholt haben.

    Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang daran, dass Harz'ler die seinerzeit von Hilfsorganisationen kostenlos abgegebenen Lebensmittel als "Geschenke" bei den Schikanebehörden (vulgo: Jobcenter) angeben sollten - die den Gegenwert dann sogleich "verrechnet" haben.

    Zum Dank wäre es allerhöchste Zeit, dass möglichst viele Angehörige von Menschen in Altenheimen in deren Namen die "BRD" (ja, diese alte Schreibweise scheint mit angemessen!) wegen der in den Heimen herrschenden unzumutbaren Zustände vor dem EuGH verklagt.



    Kosten tut das nichts da ja die Pfleglinge klagen (die ja ohnehin "pleite" sind)

  • Damit solche und andere Schikanen ein für alle Mal der Vergangenheit angehören ....deshalb muss ein menschenwürdiges bedingungsloses Grundeinkommen her!



    Diese Schnüffelei bei den Ärmsten der Gesellschaft muss ein Ende haben.

    • @Andy Krisst:

      Wenn das Grundeinkommen kommt, dann vermutlich mit Sozialkreditsystem im Doppelpack - und dann hört die Schnüffelei bei den Armsten nicht auf, sondern sie fängt für alle erst so richtig an!

  • Volle Zustimmung - dass geht gar nicht, liebe SPD (BM für Arbeit & Soziales).

  • Das ist so nicht ganz korrekt. Klar zahlt das Amt jetzt nur den günstigeren Ticketpreis, aber den Vorteil des 9,- € Tickets können die ALG2 Empfänger ja trotzdem nutzen. Die Schülermonatskarte gilt entweder für bestimmte Tarifzonen, oder für einen Verkehrsverbund. Das 9€ Ticket aber überregional. Da das Ticket ja extra bezahlt wird, geht auch nix an Einkommen verloren. Das ALG 2 viel zu wenig ist und betteln um jeden einzelnen Extraposten erniedrig ist aber auch richtig.

    • @Karlheinz:

      Wie gütig.



      Nur wer kein Geld hat kann sich eine Reise in ein anderes Bundesland eh nicht leisten. Und jetzt erst Recht nicht mehr.



      Dazu kommt noch die Inflation die gerade auf Lebensmittelpreise wirkt.



      Was bringt Ihnen so ein Kommentar?

    • @Karlheinz:

      Hat das Amt den Beziehern denn von Amts wegen das Ticket gekauft ?

      So wie ich den Artikel lese müssen die Bezieher die Zuschüsse schon allein wegen der Existenz dieses Ticket zurückzahlen.

      Es ist offenbar die richtige Zeit, dass Behördenchefs Blockwart-Schweine losschicken die in den Supermärken checken ob da nicht irgendwo ein welker Salat im Angebot ist und das dann mit den Sätzen verrechnen weil der Berliner Gesetzbrecher ähh ...geber ... das ja sicher bei Festlegung der Sätze nicht berücksichtigt hat.