Absturz der FDP in Corona-Zeiten: Hemdsärmlige Menschenverachtung
Wenn du glaubst, es geht nicht mehr tiefer, kommt von irgendwo ein noch schlimmerer FDP-Politiker daher. Über den endlosen Abstieg einer Partei.
Seit Jahrzehnten trickst die FDP das öffentliche Gedächtnis aus: Egal wie ablehnenswert das Ausgangspersonal der Partei auch immer ist – die fortschreitende Regression der jeweils nachfolgenden Generation lässt die Alten in deutlich gnädigerem Licht erscheinen. Man muss dabei nicht einmal bis in die Gründungszeit der Partei zurückschauen, als sie unter anderem ein Auffangbecken für frühere Nazis war und recht schamlos um deren Stimmen warb.
So war Hans-Dietrich Genscher mit dem Bruch der sozialliberalen Koalition 1982 einst der Buhmann aller progressiven Kräfte. Heute erinnert man sich aber vor allem an den weisen Staatsmann, der vom Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag aus 1989 die Mauer zum Einsturz brachte. Aus dessen Schatten zu treten, wollte den farbloseren Martin Bangemann und Klaus Kinkel nie so recht gelingen.
Otto Graf Lambsdorff schließlich qualifizierte sich als verurteilter Steuerhinterzieher für den Parteivorsitz. Gegen den aber wirkte der spätere Parteichef Guido Westerwelle wiederum wie ein Witz. Der erlangte nach der Amtsübergabe an Philipp Rösler jedoch selbst den Ruf eines umsichtigen und vertrauenswürdigen Politikers. Christian Lindner nun gibt sich die allergrößte Mühe, sämtliche seiner Vorgänger in den Augen der Spätgeborenen als mindestens irgendwie annehmbar zu rehabilitieren.
Und welcher künftige FDP-Chef wird Lindner rückblickend wie ein Bollwerk der Vernunft erscheinen lassen? Der thüringische FDP-Chef Thomas Kemmerich hoffentlich nicht. Andererseits empfiehlt er sich mit seinem gänzlich prinzipienlosen und rechtsoffenen Habitus eventuell doch für höhere Weihen. Gemeinsam mit bekannten Rechtsextremen demonstrierte er am Wochenende in Gera gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der aktuellen Pandemie. Und leider überrascht das überhaupt nicht.
Nichts ist peinlich
Dass Kemmerich, mit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten Thüringens von Gnaden der AfD Gesicht einer bundesweit nachhallenden politischen Krise geworden, nicht längst vom Hof gejagt und aller Ämter enthoben ist, nimmt der Distanzierung der Bundesparteiführung um Christian Lindner nach der Geraer Demo ein wenig den Druck. Klar, Kemmerich agiert unelegant. Im Kern spekuliert er aber auf dasselbe return of investment wie sein Parteifreund, Vizebundeschef Wolfgang Kubicki.
Dessen Lobbying für die Lockerung der Quarantänemaßnahmen und sein inzwischen viel zitiertes Statement „Wer Angst hat, soll eben zu Hause bleiben“, offenbaren die gleiche hemdsärmlige Menschenverachtung wie Kemmerichs Eskapaden, nur halt bei Anne Will statt auf einem thüringischen Marktplatz. Ihr Tun ist beiden keineswegs peinlich. Sie wollen genau so gesehen und gehört werden. Nur so haben sie eine Chance, am rechten Rand für ihr Portfolio zu werben.
Wäre die FDP eine Aktie, dann am ehesten ein volatiler Pennystock – von geringem Wert, aber starken Kursschwankungen unterworfen. Ihr Reiz bestünde darin, an größeren Marktbewegungen orientiert kurzfristig opportunistische Gewinne ohne Substanz einzufahren. Und dass ganz am rechten Rand Rendite zu holen ist, wusste schon der nationalliberale Fallschirmspringer Jürgen Möllemann. Dessen Spielernatur, die um jeden Preis gewinnen wollte, prägt die FDP bis heute erkennbar mehr als die traditionsliberale Linie eines Gerhart Baum oder einer Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Ganz im Irrsinn des Jetzt gefangen, versuchen Kemmerich, Kubicki und Lindner nun, in ihre Zukunft zu investieren, oder wenigstens kleine Kurssprünge zu provozieren. Das mag bei der einen oder anderen Wahl sogar funktionieren. Teil einer nachhaltigen Anlagestrategie wird diese FDP aber nie sein. Wäre die Partei eine Aktie, könnte es also ganz sicher keine Kaufempfehlung geben.
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