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Kommentar Beschwerden über Mathe-AbiSchülerprotest wirkt

Ralf Pauli
Kommentar von Ralf Pauli

Die Aktionen gegen das Mathe-Abi könnten das Bildungssystem umkrempeln. Und das ist erst der Anfang eines neuen Rollenverständnisses.

Ob Klima oder Mathe-Abi: Die neue Generation hat politische Forderungen und wird sie durchsetzen Foto: dpa

M anche gesellschaftlichen Reflexe sind so vorhersehbar, dass sie langweilen. Zumindest auf den ersten Blick. Ein vortreffliches Beispiel dafür ist die Häme, die zehntausenden AbiturientInnen seit Anfang der Woche entgegenschlägt, weil sie ihre Mathe-Prüfungen zu schwer fanden und sich darüber bei den zuständigen Ministerien beschwert haben. Eltern, Unternehmensvertreter und sogar Beamte überbieten sich seither im Netz mit bissigem Spott über den Unmut der Teenager.

Da witzelt die schwäbische Polizei über den „neuesten Leak zum #Mathe-Abitur“ („Addieren Sie Autofahren mit Handy. Multiplizieren Sie mit erhoehter Geschwindigkeit und Alkohol. Substrahieren Sie anschliessend Ihren Fuehrerschein“). Da postet der Schokoladenhersteller Ritter Sport ein Foto einer ausgepackten Tafel Schokolade und stellt den AbiturientInnen eine „(Denk-)Sport Aufgabe“ (Zitat: „Wie viele Quadrate siehst du hier?“). Da sinnieren Klugscheißer über Rechtschreibfehler bei den eingereichten Onlinepetitionen. („Wenn man sich den Petitionstext durchliest, bekommt man den Eindruck, dass es auch in den Deutschprüfungen schwierig werden könnte“). Und natürlich lassen die Ewiggestrigen in Schulfragen ihr ritualisiertes „Das Gymnasium ist halt nicht für jedermann!“ vom Stapel. So erwartbar, so daneben.

Schließlich haben die AbiturientInnen – zumindest im Prinzip – recht. Das deutsche Abitur ist höchst ungerecht, einzelne Mathe-Aufgaben hin oder her. Ein bayerisches Abi ist schwerer als eines in Thüringen oder Berlin, auch wenn das niemand öffentlich zugeben will. Jedes Bundesland hat seine eigenen Standards und (bis auf die wenigen gemeinsamen Abituraufgaben) seine eigenen Prüfungen.

Und dennoch wählen die Unis in München, Erfurt oder Berlin ihre BewerberInnen fast ausschließlich nach deren Abi-Schnitten aus. Von gerechtem Abi kann also nicht die Rede sein – nichts anderes aber fordern die SchülerInnen nun ein.

Eklatanter Missstands im Bildungssystem

Das wissen auch die KultusministerInnen. Es mag ein Grund dafür sein, warum einige von ihnen umgehend klar gestellt haben, dass sie die SchülerInnen ernst nähmen, deren Beschwerden prüfen und gegebenenfalls die Notenschnitte angleichen werden. Das ist zwar unwahrscheinlich, wie der Umgang mit ähnliche Beanstandungen in der Vergangenheit gezeigt hat.

Der entscheidende Punkt ist aber ein anderer: Die AbiturientInnen haben es binnen weniger Tage geschafft, einen eklatanten Missstand im Bildungssystem zu benennen, Zehntausende zum Unterzeichnen ihrer Online-Petitionen zu bewegen, und bräsigen LandespolitikerInnen eine öffentliche Reaktion abzuringen.

Das ging ganz nebenbei deutlich schneller als bei den „Fridays for Future“-Protesten, wäre aber ohne sie nicht denkbar. Bei den Schülerstreiks taten die MinisterInnen lange so, als seien diese fürs Klima nichts weiter als eine verwaltungstechnische Angelegenheit (Sanktionieren ja oder nein?), mit denen sich die Schulen rumschlagen sollten. Dass sie dabei selbst nicht die beste Figur machten, ist auch ein Grund dafür, warum sich die SchulministerInnen nun so beflissen zu Wort melden. „Lesson learned“, möchte man rufen.

Eine ganze Generation politisiert sich

Und das ist erst der Anfang eines neuen Rollenverständnisses. Und zwar nicht nur bei der Debatte um das Mathe-Abitur. Schon jetzt haben die SchülerInnen die alte Diskussion um das bundesweite Zentralabitur (das die Länder ablehnen) neu angestoßen. Jede unterstützende Wortmeldung aus der Wissenschaft, von Lehrerverbänden oder Bundestagsabgeordneten – die gibt es alle bereits – können sie als persönlichen Erfolg verbuchen. Das wird auch den Jahrgängen unter ihnen nicht entgehen.

Kaum vorstellbar, dass sich künftig noch ein Abiturjahrgang mit der Begründung abspeisen lässt, die Prüfungen seien dieses Mal halt etwas schwerer ausgefallen. Oder hätten, wie der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband lakonisch meint, halt aus sehr viel unnötigem Text bestanden.

Besten Dank! Nein, die Politisierung, die die Schulen seit den ersten „Fridays for Future“-Demos erfasst hat, sie richtet nun den Blick nach innen, zurück auf das Schulsystem. Und die AbiturientInnen von heute sind die Studierenden, Auszubildenden, ErzieherInnen, LehrerInnen und ProfessorInnen von morgen. Ganz klar, die Proteste gegen das Mathe-Abi haben das Zeug, das Bildungssystem umzukrempeln. Und das heißt für die Bildungsministerien in diesem Land: Es wird unangenehm. Denn Missstände an deutschen Kitas, Betrieben, Schulen und Hochschulen gibt es zur Genüge.

Sei es die Chancenungleichheit zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Sei es die Überforderung vieler Lehrkräfte im Umgang mit Mobbing. Oder sei es die unzureichende digitale Ausstattung und Kompetenz an den Schulen. Oder – an den Unis – die Abhängigkeit der wissenschaftlichen MitarbeiterInnen vom Gutdünken eines quasi feudalen Lehrstuhlinhabers. Und so weiter und so fort. Wir müssen uns darauf einstellen – nein, wir dürfen uns darauf freuen – dass nicht mehr nur ForscherInnen, PädagogInnen, JournalistInnen und AktivistInnen diese Schwachstellen anprangern werden, sondern die aktuelle und künftige SchülerInnen-Generationen.

Das neue Selbstbewusstsein der SchülerInnen

Um nur ein kleines erstes Beispiel für das neue Selbstbewusstsein der SchülerInnen zu geben: Am Dienstag postete eine Schülerin auf Twitter eine Aufgabenstellung aus dem Englischunterricht, nach der sie für ein fiktives Streitgespräch Argumente für den Sklavenhandel vorbringen soll. Dafür sollte sie sich vorstellen, selbst eine Sklavenhalterin zu sein. Ihr Kommentar dazu („einfach nur ekelhaft und unüberlegt“) brachte weit über tausend Likes ein. Und das ist nach einer Schnellhochrechnung deutlich mehr, als die 16 BildungsministerInnen in einem gesamten Monat an virtueller Zustimmung einheimsen.

taz am wochenende
taz am Wochenende vom 11./12. Mai

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Wie bei den beanstandeten Mathe-Prüfungen liegt auch in diesem Fall ein gravierendes Problem im Bildungssystem zu Grunde, das bislang noch nicht konsequent genug angegangen wurde: die mangelnde Qualität von Schulbüchern. Dass in einigen rassistische oder stereotype Darstellungen beim Thema Migration, Integration, Islam und Judentum verbreitet werden und diese Bücher immer noch zum Einsatz kommen, sagt viel aus über das Bewusstsein in den entsprechenden Ministerien und Schulbuchverlagen.

So gesehen müssten sich KultusministerInnen dieses Landes ehrlich freuen, wenn SchülerInnen ihre Eindrücke vom Schulsystem wahrnehmbar artikulieren und sich stärker für ihre eigenen Interessen einsetzen. Denn so wird aus den Schulen auch das, was bei all dem Lern- und Lehrplanstress viel zu kurz kommt: eine wahrhaftige Demokratiewerkstatt.

Und damit hätten die Schülerinnen und Schüler in Zeiten von Fake News, AfD und Dexit-Fantasien schon das wichtigste Lernziel überhaupt erreicht. Eines mit Stern. Und bitte bloß nicht wieder setzen!

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Ralf Pauli
Redakteur Bildung/taz1
Seit 2013 für die taz tätig, derzeit als Bildungsredakteur sowie Redakteur im Ressort taz.eins. Andere Themen: Lateinamerika, Integration, Populismus.
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15 Kommentare

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  • (Un)eigentlich nichts wirklich Neues …



    www.taz.de/Ungleic...schancen/!5546736/

  • „Ein bayerisches Abi ist schwerer als eines in Thüringen oder Berlin, auch wenn das niemand öffentlich zugeben will. Jedes Bundesland hat seine eigenen Standards„

    Eine Online-Petition wurde von Hamburger Schülern gestartet. Aber wohl nicht deswegen, weil die Hamburger Schüler bei der Abiturquote mies abschneiden würden. Bundesweit liegt Hamburg nach Berlin dabei auf Platz zwei.

  • Sehr guter Artikel, vielen Dank!

  • "Eine ganze Generation politisiert sich"



    Hoffentlich!

  • Mein Abitur liegt 58 Jahr zurück



    Ich habe mir soeben mal die Matheaufgaben aus Bayern für das Abitur 2019 näher angesehen und einige davon selbst -ohne Hilfe- nachgerechnet (und auch gelöst) Allerdings nicht die Aufgaben aus den Gebieten Stochastik und Analytische Geometrie, dazu gab es damals in 1961 praktisch keine Abituraufgaben, denn wir hatten ja neben dem Bleistift nur noch Rechenschieber und Logarithmentafeln zur Verfügung. Zur Lösung solcher Aufgaben fehlt mir heute einfach die Übung.



    Ich habe nach dem Abitur weder studiert noch mich ständig mit Mathematik beschäftigt. Trotzdem mein Fazit: Wer nach einem Leistungskurs in Mathe diese Abitur-Aufgaben als zu schwer empfindet, ist an einer Uni fehl am Platz, unabhängig, davon ob er nun ein MINT oder ein geisteswissenschaftliches Fach wählt, denn es mangelt dann grundsätzlich an der Fähigkeit zum logischen Denken und zur Abstraktion von Textaufgaben

    • @ROMIE:

      Ich habe die Kritik so verstanden, dass die Zeit für die gestellten Aufgaben einfach zu knapp bemessen war. Das kann ja durchaus der Fall sein.

  • Es ist unmöglic, jedes Jahr unterschiedliche Aufgaben zu stellen, die aber trotzdem gleich umfangreich, gleich verständlich und gleich schwer sind und die gleichen Lernziele genau gleich abbilden. Nur weil die Schüler*innen jetzt einen Weg gefunden haben, öffentlichkeitswirksamer zu protestieren heißt noch nicht, dass sie auch grundsätzlich recht haben - es gibt schließlich (auch aus dem Kreis der Schüler) andere Stimmen. Zudem hilft es einer Diskussion überhaupt nicht, jede Gegenrede als "hämisch" abzustempeln.

  • Die Schülerin zu beklatschen, die sich weigert Argumente FÜR den Sklavenhandel für ein fiktives Streitgespräch zu finden, halte ich für grundverkehrt. Wie soll man denn lernen vernünftig zu diskutieren, wenn man sich weigern darf, auch nur kurz die Argumente des Gegenübers nachzuvollziehen? Sollen wir auch diejenigen beklatschen, die sich aus Überzeugung weigern, Argumente für die Aufnahme von Geflüchteten zu finden?

    • @hans27:

      Es reicht doch den Kids zu lernen was gut und was schlecht ist. ;-) Wer braucht Debattenkultur und warum sollten die Schüler lernen was ein Streitgespräch ist?

  • Ich habe das Gefühl, dass hier eher der Artikel daneben liegt. Die Welt auf Rassismus und Diskriminierung zu reduzieren kommt mir zu simpel vor. Sklaven gab es in unterschiedlichsten Varianten in allen Kontinenten und Kulturen. Erst das ganz moderne Europa hat als "Sonderweg" (zum Glück) damit Schluss gemacht. Warum sollte man also nicht einmal darüber nachdenken wie das von der Sklavenhalterseite her aussah anstatt wieder nur außer der europäischen Sicht nichts mehr diskutieren zu wollen. Diskutieren heißt nicht akzeptieren.

    Bezüglich der Abiprüfungen sollte man auch bedenken, dass andere Länder sich nicht daran halten was wir als diskriminierend oder ungerecht empfinden sondern mehr was funktioniert. Auch die meisten Leute hier wollen, dass ihr Chirurg zuallererst seine Arbeit beherrscht und werden ihn danach auswählen - recht unabhängig davon ob er aus einem als gerecht empfundenen Bildungssystem kommt oder nicht.

  • Anhang einer egozentrischen Petition zu einer Politisierung einer Generation zu kommen, von Mathe Aufgaben in einigen Bundesländern zum Dexit, ist schon nicht schlecht. Dabei ein bisschen bashen auf andere gesellschaftliche Gruppen, natürlich mit Verweis, dass deren Reaktion unangebracht ist, und schon kann man alles mit wegfegen. Wenn nur die 1000 likes als Qualitätskriterium nicht wären.



    Etwas weniger wäre mehr gewesen.

  • Hier wird deutlich mehr in den Protest hineininterpretiert, als es die Realität hergibt. Hier geht es "nur" um einige Mathe-Aufgaben, die (gefühlt) zu schwer/umständlich formuliert waren.

  • Etwas hochgegriffen, die Beschwerde wegen der eigenen Aufgaben zu einer Systemkritik hochzustilisieren.

    Es ging keinem Schüler um das allgemeine Problem der unterschiedlichen Anforderungen im Rahmen des Abiturs zwischen den Bundesländern.

    Einmal ganz abgesehen davon, dass das hier ja nun das herzlich schlechteste Beispiel ist, denn dass es die Petitionen länderübergreifend gibt, liegt ja daran, dass sich mehrere Bundesländer aus dem gemeinsamen Pool bedient haben.

  • Alter Hut!



    Es ist wahrlich keine neue Erkenntnis, dass das Abitur bundesweit betrachtet ungerecht ist, da es in einzelnen Bundesländern anspruchsvoller ist, als wiederum in anderen.



    Dieser eklatante Missstand im Bildungssystem ist aber hausgemacht, da der Föderalismus hier seine Blüten treibt.



    Neu ist, dass man sich online besser darüber informieren kann, auch wenn der Artikel hier den Lesenden ein X für ein U vormachen möchte. Der Schülerprotest richtet sich nämlich nicht gegen die Dezentralisierung von Abiturprüfungen, sondern ganz konkret gegen den Bewertungsmaßstab der Mathematikprüfungen in diesem Falle der angeblich zu schweren Aufgaben. Dass dieses in der Verlängerung einer Argumentationskette für ein gerechteres Zentralabitur enden könnte, wird im Artikel aber als bereits gegeben beschrieben. Ist aber nicht der Fall!



    Die angeblich zu schweren Aufgaben werden gefühlt von allen Schülern als soches wahrgenommen, glaubt man der medialen Aufmerksamkeit. Was zu seltsamen Blüten führt, wenn eine Online-Petition an einem gewissen Zeitpunkt un in einem gewissen Bundesland bereits 60.000 Unterstützer hatte, wo doch nur 39.000 Schüler die Prüfung ablegten.



    Es mag sein, dass die Aufgaben für einige zu schwer waren, aber in gleich allen Bundesländern und bei so vielen Abiturienten? Und weil es eben keine bundeseinheitlichen Aufgaben gab, sondern nur einige wenige Länder sich am Aufgaben-Pool der zur Verfügung stand bedienten, kommt der Verdacht auf, dass es sich hier nur zum Teil um gerechtfertigte Proteste handeln mag. Der größte Teil wird wie immer von Mitläufern bestimmt die sich einen Vorteil erhoffen wenn man die Sache nur lang und breit genug tritt.

  • "Dass in einigen rassistische oder stereotype Darstellungen beim Thema Migration, Integration, Islam und Judentum verbreitet werden und diese Bücher immer noch zum Einsatz kommen"

    Wo soll das der Fall sein? Beispiele?