Antisemitische Straftaten in Deutschland: Der Hass ist entfesselt
Brandsätze auf eine Synagoge in Berlin, heruntergerissene Israelfahnen: Seit den Hamas-Angriffen auf Israel steigen antisemitische Delikte rapide an.
Erst Dienstagnacht, nach den Explosionen am Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt, war es auch in Deutschland zu spontanen Protesten gekommen. In Berlin versammelten sich dabei mehrere Hundert Menschen vor dem Brandenburger Tor, die teils antiisraelische Parolen skandierten. Das benachbarte Holocaustmahnmal musste von Polizeikräften geschützt werden. In Neukölln kam es zu brennenden Barrikaden. Auch in Leipzig, Köln, Bochum oder Flensburg gab es Spontanproteste.
In derselben Nacht erfolgte in Berlin-Mitte ein Brandanschlag auf die jüdische Kahal Adass Jisroel-Gemeinde. Dort befinden sich neben einer Synagoge auch eine jüdische Schule und Kita. Laut Polizei hatten zwei Unbekannte zwei brennende Flaschen in Richtung der Synagoge geworfen. Die Flaschen schlugen auf dem Gehweg auf und zerbrachen, das Feuer erlosch. Ein zweites kleines Feuer löschten Mitarbeiter des Objektschutzes der Gemeinde. Als die Polizei erschien, tauchte wiederum ein 30-Jähriger auf, der in Richtung Synagoge lief und israelfeindliche Parolen rief. Er wurde vorübergehend festgenommen.
Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin, erklärte zu dem Anschlag, „die antijüdische Gewalt auf den Straßen Berlins hat eine neue Dimension erreicht“. 85 Jahre nach der Reichspogromnacht würden wieder Synagogen in Deutschlands Hauptstadt brennen. Juden und Jüdinnen in der Stadt fühlten sich „nicht mehr sicher“, klagte Joffe. Der „massive Anstieg islamistischer Gewalt“ hierzulande seit den Hamas-Angriffen sei „erschreckend“.
Allein in Berlin 369 antiisraelische Taten
Auch der Zentralrat der Juden zeigte sich „erschüttert über diesen Terrorangriff“. Familien vor allem aus dem Umfeld der Synagoge seien schockiert und verunsichert. Der jüngst von der Hamas verkündete „Tag des Zorns“ sei nicht nur eine Phrase, sondern „psychischer Terror, der in konkrete Anschläge mündet“.
Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte am Mittwoch, Anschläge gegen jüdische Einrichtungen und Ausschreitungen auf deutschen Straßen seien „menschenverachtend, abscheulich und nicht zu dulden“. Die Polizei und Versammlungsbehörden und Polizei müssten hier aktiv werden und würden das auch. Antisemitismus habe in Deutschland keinen Platz. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier betonte, Antisemitismus wolle und werde man in Deutschland „nicht dulden“.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nannte den Brandanschlag ebenso „eine abscheuliche Tat“. Sie zeige, wie wichtig „hohe Wachsamkeit und umfassender Schutz“ seien. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) erklärte, wer jüdisches Leben angreife, sei „kein Teil von Deutschland“. Er und Faeser forderten, der Rechtsstaat müsse hier „mit aller Härte vorgehen“.
Tatsächlich häufen sich seit dem Beginn des Hamas-Terrors gegen Israel am 7. Oktober in Deutschland antisemitische Straftaten. So bildete in Berlin die Polizei eine eigene Arbeitsgruppe „Nahost“. Dort wurden seitdem 369 antiisraelische Straftaten gezählt. Darunter fallen 110 Sachbeschädigungen, 31 Volksverhetzungsdelikte oder vier Propagandadelikte. Im gesamten Vorjahr hatte die Polizei in Berlin 381 antisemitische Straftaten erfasst.
Auch Nordrhein-Westfalen zählte seit dem 7. Oktober 73 antisemitische Straftaten. Darunter fielen vier verbrannte israelische Flaggen, 14 entwendete und 3 zerrissene. In 34 Fällen kam es zu Sachbeschädigungen, in 10 zu Diebstählen und in 7 zu Verstößen gegen das Versammlungsgesetz.
Sachsen wiederum erfasste 23 Straftaten – hier vor allem auf antiisraelischen Protesten in Chemnitz, Dresden, Leipzig oder Pirna. Dazu zählten Volksverhetzungen, das Verwenden von Symbolen terroristischer Gruppen, aber auch eine gefährliche Körperverletzung.
Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein meldeten antiisraelische Straftaten im „niedrigen zweistelligen Bereich“, in Brandenburg wurden 12 Delikte mit Bezug zu den Angriffen auf Israel erfasst. Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Bremen notierten „einstellige“ Deliktzahlen. Andere Länder konnten keine Zahlen vorlegen oder beantworteten die taz-Anfrage zunächst nicht. Die Länder betonten, dass die Zahlen zumeist noch weiterer Ermittlungen bedürften und sich die finale Einordnung noch ändern könne.
BKA richtet Info-Sammelstelle ein
Direkt nach Beginn der Hamas-Angriffe auf Israel hatte auch das Bundeskriminalamt eine Informationssammelstelle eingerichtet, in der antisemitische Straftaten erfasst werden. Öffentlich macht das BKA die Zahlen nicht. Diese müssten noch überprüft werden und seien kaum belastbar, heißt es in Sicherheitskreisen. So könne etwa nicht jede Widerstandshandlung auf den derzeitigen Protesten als antisemitisch gewertet werden. Ein Anstieg der Delikte sei aber „klar erkennbar“. Die Lage sei sehr dynamisch.
Auch die unabhängige Recherche- und Informationsstelle Rias berichtete am Mittwoch von einem „massiven“ Anstieg von Antisemitismus seit den Hamas-Angriffen. Die Stelle zählte zwischen dem 7. und 15. Oktober 202 Vorfälle – einen Zuwachs von 240 Prozent zum Vorjahreszeitraum. In 91 Prozent der Fälle gehe es um israelbezogenen Antisemitismus, bei dem etwa der Terror gegen Juden legitimiert wurde. In 21 Fällen wurden proisraelische Kundgebungen gestört, sechsmal auch mit Angriffen. 33 Mal seien Israelflaggen beschädigt worden. 15 Vorfälle hätten sich im Wohnumfeld von Betroffenen abgespielt, etwa mit Beschmierungen von Davidsternen. Rias-Geschäftsführer Benjamin Steinitz warnte vor den Folgen: „Viele Jüdinnen und Juden schränken ihren Alltag ein, um Maßnahmen zu ihrer Sicherheit zu ergreifen.“
Faeser und ihre Länderkollegen hatten zuletzt Schutzmaßnahmen für jüdische Einrichtungen hochfahren lassen. Zudem verboten die Versammlungsbehörden in mehreren Städten antiisraelische Proteste wegen zu erwartender Straftaten. Und das BKA erreichte mit Löschersuchen an Telegram, dass der Messengerdienst eine gute Handvoll Hamas-unterstützende Kanäle in Deutschland sperrte.
Faeser betonte am Mittwoch, der Schutz von jüdischen Einrichtungen habe „höchste Priorität“ und sei nochmal verstärkt worden. Scholz kündigte zudem an, am Sonntag an der Eröffnung der neugebauten Synagoge in Dessau teilnehmen zu wollen.
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