Abschluss G20-Gipfel in Brasilien: Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
Auf dem G20-Gipfel wurde deutlich, wie sehr sich die Gewichte in der Welt verschieben. Der Westen steht mit seiner Kritik am russischen Einmarsch allein da.
Chinas Staatschef Xi Jinping wurde vom Gastgeber, Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, sehr herzlich empfangen und bleibt nach Gipfelende zum Staatsbesuch. Was sich im vergangenen Jahr beim G20-Gipfel in Delhi beobachten ließ wurde nun noch einmal überdeutlich – niemand wartet mehr auf die Ansagen des Westens, die sogenannten Schwellenländer spielen ihr politisches Gewicht selbstbewusst aus und schaffen selbst Fakten.
Das zeigt sich auch in der Abschlusserklärung, auf die sich die Staatschefs, unter denen Frauen nahezu nicht vertreten sind, überraschenderweise bereits am ersten Gipfeltag verständigten. Gastgeber Brasilien konnte seine wichtigsten Punkte, nämlich den Kampf gegen Hunger und Armut dort prominent unterbringen. Außerdem bekennen sich die G20 zu einer effektiven Besteuerung von Superreichen, ohne freilich konkret zu werden.
Lula da Silva wuchs selbst in einer armen Landarbeiterfamilie im vom Hunger geplagten Nordosten Brasiliens auf. Zu Beginn der G20-Präsidentschaft kündigte er die Gründung einer globalen Allianz an, die bis 2030 rund 500 Millionen Menschen durch Transferprogramme und Sozialschutzsysteme erreichen will. Auf dem Gipfel wurde die Allianz nun offiziell gegründet, als eines der ersten Mitglieder trat Deutschland bei.
Kampf gegen Klimawandel ist abgeschwächt
Der deutsche Bundeskanzler betonte am Montag, Deutschland sei der zweitgrößte Unterstützer von Entwicklungszusammenarbeit in der Welt, und appellierte: „Wir werden diese Aufgabe auch weiterhin wahrnehmen müssen.“ Geht es ihm doch auch darum, auf diesem Wege Partner aus dem Globalen Süden zu gewinnen und gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Freilich hatte seine auseinandergebrochene Ampelkoalition gerade noch beschlossen, ein Zehntel des Entwicklungshaushalts zu kürzen. Dass eine mögliche unionsgeführte Regierung diesen Trend bricht, ist eher nicht zu erwarten.
Ein weiterer, für die Entwicklungsländer eher ungünstiger Punkt ist die schleichende rhetorische Verwässerung konkreter Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel. Zwar bekennen sich die G20 zum Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Allerdings fehlen konkrete finanzielle Zusagen, es heißt nur, man sehe die Notwendigkeit einer raschen und erheblichen Verbesserung zur Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen. Die Rede ist von Milliarden zu Billionen aus allen Quellen.
Außerdem wird mehrfach auf nationale Gegebenheiten bei der Reduzierung von Treibhausgase hingewiesen – Länder wie Saudi-Arabien wollen ihre Ölförderung bitte nicht beeinträchtigt sehen – und an einer Stelle sogar klar erklärt, dass Maßnahmen zum Klimaschutz kein Mittel sein sollten, um internationalen Handel zu beschränken.
Eigentlich erhoffte sich Brasilien vom Gipfel auch Weichenstellungen für die Klimakonferenz im nächsten Jahr, die ebenfalls in Brasilien stattfindet, in der Regenwaldmetropole Belém. Zugleich wollte man ein Signal für die parallel stattfindenden Verhandlungen der COP29 in Baku, Aserbaidschan, senden, wo die Gespräche bislang nur schleppend vorankommen. Beides ist nicht wirklich geglückt.
Scholz forderte klare Sprache
Genauso verschwiemelt kommen auch die Passagen zum Krieg in der Ukraine und zum Thema Nahost daher. Immerhin wird der Ukrainekrieg noch erwähnt, doch heißt es nur allgemein, dass sich alle Staaten zu den Prinzipien der UN-Charta bekennen und „auf die Androhung und Anwendung von Gewalt zum Gebietserwerb“ verzichten sollten. Der Name des Aggressors, also Russland, taucht anders als in den Abschlusserklärungen von Bali und Delhi gar nicht mehr auf. Scholz hatte noch am Montag eine „klarere Sprache gefordert“. „Zu diesen Prinzipien wollen sich alle bekennen, aber man muss dann auch Ross und Reiter benennen.“ Doch durchsetzen konnte er sich damit nicht.
Dazu passt, dass Lula da Silva nicht bereit war, auf Drängen der USA und Deutschlands, den ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenskyj nach Rio einzuladen oder zuzuschalten. Die Begründung Lulas lautete, er wolle Kriege aus den Gesprächen heraushalten, um nicht von anderen wichtigen Themen abzulenken. Gleichzeitig wirbt der brasilianische Präsident auch um die Gunst Chinas, das den Krieg zwar ärgerlich, aber nicht wirklich schlimm findet, weil er Russlands Abhängigkeit von China erhöht.
Die fehlende Präsenz der Ukraine zeigt auch, wie begrenzt der Einfluss der größten und der drittgrößten weltweiten Volkswirtschaft gerade ist. Sowohl US-Präsident Biden als auch Bundeskanzler Scholz, die in ihren Heimatländern als „lame ducks“ gelten, sind politisch stark geschwächt. Während Scholz in Rio am Montagabend mit den Staatschefs von Singapur und Vietnam sprach und Dienstagmorgen Chinas Staatschef Xi Jinping zum 25-minütigen Gespräch traf, braute sich in der Heimat ein Putsch gegen ihn zusammen, mit dem Ziel, ihn als erneuten Kanzlerkandidaten zu verhindern.
Noch deutlicher lässt sich die Schwäche des Westens in den Passagen zum Nahostkonflikt ablesen. Die G20 bringen ihre „tiefe Besorgnis über die katastrophale humanitäre Situation im Gazastreifen und die Eskalation im Libanon zum Ausdruck“, unterstreichen das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung und fordern einen Waffenstillstand. An keiner Stelle ist aber der Auslöser des gegenwärtigen Krieges erwähnt, das Massaker der Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres.
Scholz lobte am Ende des Gipfels, dass es gelungen sei, auf Augenhöhe miteinander zu reden. Das Thema Klimaschutz habe am zweiten Tag eine größere Rolle gespielt. „Wir müssen und wollen an dieser Stelle zusammenarbeiten.“ Mehr als, dass man sich einig sei „dranzubleiben“, konnte der Kanzler allerdings nicht vermelden. Und konstatierte: „Der Wind in den internationalen Beziehungen wird rauer.“
Seinem Unmut über die laschen Formulierungen in der Abschlusserklärung zu den Kriegen in Nahost und der Ukraine macht Scholz ebenfalls Luft. „Ich will nicht verhehlen, dass ich mir gewünscht hätte, dass wir an dieser Stelle noch ein paar weitere Worte finden, zum Beispiel zum Selbstverteidigungsrecht Israels und ganz besonders dazu, dass die Hamas die Verantwortung für die aktuelle Eskalation trage mit dem furchtbaren und menschenverachtenden Angriff auf israelische Bürger.“ Gleiches gelte für den Krieg, den Russland gegen die Ukraine führe.
Scholz bekräftigte dennoch keine Taurus-Raketen zu liefern. Die Ukraine könne sich auf Deutschland verlassen. Mit einer Ausnahme. Die Lieferung von Taurus wäre eine Fehler. „Ich sage ausdrücklich, ich bleibe bei meiner Entscheidung diese Waffe nicht zu liefern.“
Die Schwäche des Westens lässt sich deutlich ablesen
Eigentlich hätten weder die USA noch Deutschland einer solchen Abschlusserklärung zustimmen können, gemessen an ihren Solidaritätsbekundungen zu Israel. Doch offenbar entschloss man sich, das Ganze nicht platzen zu lassen. Ohnehin wurden die Erwartungen im Vorfeld tief gehängt. Man solle den Erfolg des Gipfels doch nicht daran messen, welche Adjektive in der Abschlusserklärung auftauchten, hieß es vor Scholz’ Abreise nach Rio aus dem Kanzleramt, und ohnehin sei die Bindewirkung solcher Dokumente doch eher eine politische.
Das ist wahr, gleichzeitig sind solche Erklärungen Haltepunkte für praktische Politik, sie markieren Festlegungen, hinter die die Staaten dann nicht mehr zurückgehen können. Eigentlich.
Wie wenig man sich auf einmal getroffene Vereinbarungen verlassen kann, erfährt der deutsche Bundeskanzler gerade am eigenen Leib. Dass Scholz beim nächsten G20-Gipfel in Südafrika noch auf dem Familienfoto ist, ist derzeit eher unwahrscheinlich.
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel wurde nachträglich um die Rede von Olaf Scholz nach dem G20-Gipfel ergänzt.
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