Abgeordneter zur Corona-Aufarbeitung: „Denen muss man ein Ventil geben“
Aus Sorge um die Unzufriedenen will Helge Limburg die Pandemiebekämpfung politisch aufarbeiten. In seiner Partei ist der Grüne damit eine Ausnahme.
taz: Herr Limburg, ein Online-Portal mit Nähe zur Querdenker-Szene hat am Wochenende interne Protokolle des Robert-Koch-Instituts veröffentlicht. Haben Sie die 1.000 Seiten aus der Corona-Zeit schon durchgelesen?
Helge Limburg: Nein, nur Ausschnitte. Ich finde auch unseriös, wie aus einzelnen Sätzen dieser Protokolle große Verschwörungserzählungen gesponnen werden. Positiv finde ich aber, dass jetzt eine Debatte darüber läuft, ob wir die Zeit der Pandemie und der Bekämpfungsmaßnahmen nicht noch mal kritisch reflektieren sollten.
Der 41-Jährige ist seit 2021 Bundestagsabgeordneter und sitzt für die Grünen im Rechtsausschuss. Zuvor saß der Jurist 13 Jahre lang im Landtag von Niedersachsen.
Welchen Zweck hätte das?
Die Grundrechtseinschränkungen während der Pandemie waren die massivsten in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit etwas Abstand einen Blick zurückzuwerfen, ist das Mindeste, was der Rechtsstaat machen kann. War selbst mit dem begrenzten Wissen der damaligen Zeit jede Entscheidung richtig? Dabei geht es auch um eine Würdigung des Unrechts, das manchen Personen widerfahren ist. Und: Was können wir besser machen, wenn wir wieder in so eine Situation kommen sollten?
Zu diesen Fragen gibt es doch schon Studien und Kommissionen.
Ja, aber wichtig finde ich, dass die Aufarbeitung auch breit öffentlich kommuniziert. Nehmen wir mal die Warnungen von Verbänden der Kinder- und Jugendpsychologie vor den Schäden der Lockdowns: Warum sind die zu wenig in Entscheidungen eingeflossen? Das muss Teil einer öffentlich wahrnehmbaren Aufarbeitung sein.
Also in Form einer Enquetekommission des Bundestags, wie die FDP fordert?
Eine Enquete kann ein Mittel sein. Die Legislaturperiode ist aber schon weit fortgeschritten und ich weiß nicht, ob so eine Kommission in der verbleibenden Zeit noch seriös zum Ergebnis kommen würde. Es können auch andere Arten von Gremien eingesetzt werden. Wichtig ist eben die öffentliche Sichtbarkeit und eine Würdigung dessen, was auch an falschen Maßnahmen getroffen wurde.
Robert Habeck hat sich am Dienstag auch für Aufarbeitung ausgesprochen. Sonst hört man solche Forderungen von Grünen selten. Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen hält eine Enquetekommission für Wahlkampfspektakel.
Natürlich gibt es bei uns zur Frage der Aufarbeitung interne Diskussionen. Auch der Einwand, dass eine Kommission von rechtsextremen und verschwörungstheoretischen Kreisen instrumentalisiert werden könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Es gibt aber auch jenseits solchen Gedankenguts viele Menschen, die noch immer massiv unzufrieden mit dem Krisenmanagement sind. Diesen demokratisch gesinnten Menschen muss man ein Ventil geben.
Die Grünen fuhren in der Pandemie selbst einen restriktiven Kurs. Vielleicht erklärt das, warum es in der Partei keine große Begeisterung für die öffentliche Aufarbeitung gibt.
Ich weiß, dass die Grünen in Teilen so wahrgenommen werden, als hätten wir immer die härtesten Maßnahmen befürwortet. Während der Corona-Zeit saßen wir aber, abgesehen von der Endphase, in der Opposition. Die Schuld vor allem auf uns zu schieben, halte ich für fehlgeleitet.
Haben Sie konkretere Beispiele für Fehler, mit denen sich eine Kommission beschäftigen sollte?
Wichtig ist, nicht jede Kritik mit dem Argument abzuwehren: Hinterher ist man immer schlauer. Es gab einige Maßnahmen, die schon nach damaligem Stand wissenschaftlich nicht angezeigt waren. Phasenweise wurden in Teilen des Landes Spielplätze abgesperrt. In München kam ein Mann in Gewahrsam, weil er im Freien ein Buch gelesen hat. Ich selber wurde mit meiner Kernfamilie vom Ordnungsamt aus einem Park vertrieben, weil wir für uns zu fünft eine Slackline aufgebaut haben. Ich finde es nachvollziehbar, dass solche Erfahrungen Menschen frustriert haben.
Wie erklären Sie es sich, dass die Politik manche Regeln beschlossen hat, die im Rückblick absurd wirken?
Nicht aus bösem Willen. Eher aus Unsicherheit und Angst, am Ende zu wenig getan zu haben. Was der Qualität der Entscheidungen ebenfalls geschadet hat, waren die politischen Entscheidungsprozesse: Die Parlamente wurden beiseitegeschoben. Stattdessen wurde die Ministerpräsidentenkonferenz, die im Grundgesetz überhaupt keine Legitimation hat, zum zentralen Entscheidungsgremium. Das darf sich in der Form nie wiederholen. Dazu kam auch noch die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft miteinander debattiert haben.
Wie meinen Sie das?
Wir haben vieles schwarz-weiß diskutiert – angefangen mit der absolut unwissenschaftlichen Frage, welchem Virologen man jeweils folgt. Schlimm war auch, wie sich Ungeimpfte beschimpfen lassen mussten, selbst wenn sie sich an alle geltenden Regeln gehalten haben. Mich sprechen heute noch Betroffene an, die das als krasse Stigmatisierung empfanden. Umgekehrt gab es wüste Drohungen gegen Politiker und Wissenschaftler wie Christian Drosten. Auch diese Auswüchse sollten wir reflektieren, um als Gesellschaft wieder stärker zusammenzuwachsen.
Würde eine Debatte darüber aber wirklich der Polarisierung entgegenwirken – oder nicht viel eher alte Wunden neu aufreißen?
Die Gefahr besteht. Der Schaden ist aber noch größer, wenn wir aus Angst davor die Aufarbeitung nicht angehen. In den Zirkeln der Unzufriedenen laufen die Debatten ja trotzdem weiter, und dort steigt der Frust, wenn wir keinen gemeinsamen Diskursraum schaffen.
Wenn wir schon über Aufarbeitung sprechen: Haben Sie als Politiker in der Pandemie Entscheidungen getroffen, die Sie ganz persönlich bereuen?
Ja. Ich saß damals noch im Landtag von Niedersachsen. Wir bekamen eine Petition von Eltern, deren Kinder in einem Heim für Menschen mit Behinderung untergebracht waren und für die ein komplettes Besuchsverbot galt. Darunter haben sie natürlich massiv gelitten. Intern im Ausschuss haben wir zwar diskutiert, ob sich da nicht irgendein Weg finden lässt. Aber durchgesetzt hat sich die Haltung: Nein, das Verbot ist absolut notwendig. Heute ärgere ich mich darüber, dass ich mich nicht vehementer für diese Familien eingesetzt habe. Diese Petition geht mir immer noch nahe.
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