35 Jahre nach der Wende: Das neue Ostbewusstsein
Nicht nur die Rechten beanspruchen den Osten für sich, auch vielen progressiven jungen Menschen ist ihre Herkunft wichtig. Wie kommt das?
A nna Stiede steht im Kosmonautenanzug in einem Hinterhof in Strausberg und fängt an zu weinen. Sie soll hier heute eine Ausstellung eröffnen, mit Musik und ein bisschen Show. „Ist die Wende zu Ende?“ heißt die Ausstellung, sie zeigt Interviews mit ehemaligen DDR-Bürger:innen über deren Wendeerlebnisse, über Rassismus und Arbeitskampf, Treuhand und Arbeitslosigkeit. Als „Erinnerungswerkstatt“ ist sie angekündigt, eine Mischung aus sozialwissenschaftlicher Forschung und Kunst.
Rund 40 Leute sitzen an diesem Septemberabend auf Plastikstühlen vor Anna Stiede. Die Spätsommerhitze liegt über der brandenburgischen Kleinstadt, es gibt Bier aus Flaschen. Auf Stiedes weißem Ganzkörperanzug steht in blau „Zukunft“ und „W-Ende“. Zusammen mit einem Musiker ist sie das Team „Zurück in die Zukunft“, ein Performance-Duo.
„Wir haben gerade die Wahlen in Sachsen und Thüringen hinter uns“, sagt Stiede ins Mikrofon, dann bricht ihre Stimme. Tränen steigen in ihre Augen, sie dreht sich weg. Ein spontaner Ausbruch, das war so nicht geplant.
Über den Sommer sind Stiede und ihr Team durch ostdeutsche Kleinstädte getourt, sie waren in Bautzen, Apolda, Freital. Dort haben sie die Wendegeschichten gezeigt, haben mit den Menschen gesprochen, haben deren Erinnerungen angehört, aufgenommen und auch: ertragen. Die Wut, den Frust. Eine Art demokratische Graswurzelarbeit. Und jetzt hat ein Drittel der Menschen in Thüringen und Sachsen eine faschistische Partei gewählt. Stiede kann das nicht fassen, auch heute nicht, fünf Tage nach der Wahl.
Als Anna Stiede sich wieder gefangen hat, hält sie einen Stapel Postkarten in der Hand. Auf denen hat sie in den letzten Ausstellungsorten die Wendegeschichten der Menschen notiert. Zu getragener Gitarrenmusik liest Stiede vor: Von einem, der schreibt, wie die FDJ an seiner Schule zerschlagen wurde, von einem, für den die Wende Freiheit bedeutete. Von jemandem, der enttäuscht war, dass die Ossis lieber das schnelle Geld wollten als die bessere Gesellschaft.
Stiede war zwei Jahre alt, als die Mauer fiel. Sie ist 1987 in Jena geboren. Und trotzdem, sagt sie, lässt der Osten sie nicht los. Er ist das zentrale Thema ihrer Arbeit. Stiede ist Performerin, sie kuratiert, schreibt und spielt Theater. Mit dem von Susann Neuenfeldt gegründeten Theaterkollektiv „Panzerkreuzer Rotkäppchen“ spielte sie die Massendemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz vom 4. November 1989 nach. Mit ihrer Kunstfigur Annamedea tritt sie auf ostdeutschen Plätzen auf, singt und schimpft: „Ey, nich mal mehr ’n Bäcker hat hier auf. Is doch kackeee.“ Eine ostdeutsche Wutbürgerin, ihr Publikum wird zum „Meckerchor“.
„Ostige emotroublemaker“ nennt sich Anna Stiede bei Instagram. So hart die Wahlergebnisse aus ihrer Heimat sie nun auch treffen, Anna Stiede findet: „Wir sind die erste Generation, die stolz darauf sein kann, ostdeutsch zu sein.“
Ostidentität, das klingt nach Trabi-Parade über die Karl-Marx-Allee. Nach Soljanka und Ostrock-Party. Aber Sozialwissenschaftler:innen beobachten seit Jahren, dass auch abseits von Osttümelei ein neues Ostbewusstsein entstanden ist. Der Soziologe Steffen Mau schreibt in seinem neuen Buch „Ungleich vereint“, ostdeutsche Identitätsdiskurse fänden heute nicht mehr nur im Trümmerfeld der Linkspartei statt. Sie seien vorgedrungen in Literatur und Theater, in die Fußballstadien und Führungskräfteseminare. Und das gilt, so schreibt Mau, nicht nur für die Generationen, die die DDR erlebt haben. „Selbst in der Nachwendegeneration verstehen sich viele als Ostdeutsche, sie bemerken Unterschiede zwischen Ost und West, die durch Westdeutsche kaum noch wahrgenommen werden.“
Dabei ist es gar nicht neu, dass sich junge Ostdeutsche mit ihrer Herkunft beschäftigen. Die Autorin Jana Hensel veröffentlichte vor gut 20 Jahren ihren Essayband „Zonenkinder“. Das Buch erzählte, was der Mauerfall und die Nachwendejahre für die ostdeutschen Kinder und Jugendlichen bedeuteten. Es folgten weitere Bücher, Netzwerke gründeten sich wie „Dritte Generation Ost“ oder „Wir sind der Osten“, es gab Biografie-Workshops, in denen junge Ostdeutsche ihre Herkunft aufarbeiten konnten. Das Ziel all dieser Initiativen war zu zeigen, dass der Osten vielfältig ist und dass auch die, die die DDR kaum noch erlebt haben, von ihr geprägt sind. Aber es war auch eine Suche nach Anerkennung, wie ein Schrei: Uns gibt es auch. Wir gehören auch zu eurem Deutschland dazu.
Eine Art ostdeutsches Empowerment, könnte man sagen. Oder ein endloses Fortschreiben von Ost-West-Differenzen?
Der Fall der Mauer jährt sich im November zum 35. Mal. 35 Jahre – in dieser Zeit ist eine ganze Generation nachgewachsen. Die Berliner Mauer ist inzwischen länger weg als sie gestanden hat. Wer kurz vor oder nach dem Mauerfall geboren ist, gehört zur ersten Ost-Generation, deren Kindheit auf Farbfotos festgehalten ist. Die Coca-Cola statt Vita-Cola trinken konnte und ganz legal MTV gucken durfte. Sie sind heute längst erwachsen, haben ihr ganzes Leben im wiedervereinten Deutschland verbracht, auch wenn es im brüchigen Nachwende-Ostdeutschland begonnen hat. Und trotzdem wendet sich ausgerechnet diese Generation dem Osten zu.
Der Brandenburger Rapper Finch, 1990 in Frankfurt/Oder geboren, nennt sich in seinen Songs einen „ostdeutschen Hasselhoff“. Bei Youtube dokumentiert die „Simson-Bande“, zehn Jugendliche aus Thüringen, wie sie an alten DDR-Mopeds rumschraubt.
Nach einer aktuellen Studie des MDR nehmen 84 Prozent der nach der Wende geborenen Ostdeutschen im Osten ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl wahr, bei den Älteren sind es 71 bis 75 Prozent. Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung von 2019 fand heraus, dass sich 68 Prozent der jungen Ostdeutschen noch mit Ostdeutschland verbunden fühlen. Eine ähnliche Westverbundenheit spüren im Westen demnach nur 59 Prozent. Der Osten gilt für viele junge Ostdeutsche offenbar immer noch als zentraler Bezugspunkt, als einer, der sie bis heute prägt.
Woher kommt dieses Ostbewusstsein bei Menschen, die kurz vor oder sogar nach der Wende geboren sind? Und was macht es aus?
Für Anna Stiede ist die Auseinandersetzung mit der DDR vor allem eine politische. Sie war in linken Gruppen aktiv, hat die Blockupy-Proteste zur Zeit der Finanzkrise mitorganisiert. Ostalgie interessiert sie nicht, sagt sie. Sie will verstehen, wie die Treuhand gewütet hat, wieso der Sozialismus gescheitert ist, woher die Wut vieler Ostdeutscher heute kommt.
Aufgewachsen ist sie in den 90ern in der thüringischen Kleinstadt Apolda. Die Innenstadt ist damals grau, abgefuckt, wie Stiede sagt, aber sie selbst schillert. Stiede trägt bunte Doc Martens Schuhe, hat rot gefärbte Haare und hört Rage Against the Machine: „Fuck you, I won’t do what you tell me“. Regelmäßig seien sie und ihre Punker-Freunde von Nazis gejagt worden, erzählt sie.
Nach dem Abi 2005 will sie nur eines: weg aus dem Osten. Mit einem alten Opel Corsa und einer Freundin auf der Rückbank zieht sie nach Marburg, um dort zu studieren. Stiede erzählt davon an einem Nachmittag im September 2024 in Berlin, wo sie heute lebt.
Im Studium geht Stiede nach Italien. Dort beginnt sie, sich mit ihrer ostdeutschen Geschichte zu beschäftigen. „Die Arbeitskämpfe in Norditalien haben mich fasziniert“, sagt Stiede. Sie streift durch verfallene Fabriken, fotografiert die Ruinen und interviewt Zeitzeug:innen. „Je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto deutlicher wurde mir, dass diese Geschichten gar nicht so weit weg sind von der DDR.“ Auch in ihrer Familie gab es Arbeitskämpfe. Ihr Großvater hat beim VEB Automobilwerk Eisenach gearbeitet. Als 1990 Opel die Eisenacher Werke übernimmt und die Treuhand sie 1991 abwickelt, organisiert Stiedes Opa die Streiks mit. 4.500 Mitarbeiter:innen verlieren damals ihre Jobs, Stiedes Opa ist einer von ihnen.
Stiede lebt noch in Italien, als 2008 die Weltwirtschaftskrise das Land heftig trifft – und wieder fühlt sie sich an den Zusammenbruch der DDR erinnert. „Plötzlich wurden überall die Ellenbogen ausgefahren, eine krasse Privatisierungswelle lief über das Land, die Gesellschaftlichkeit musste dem Wettbewerb und der Konkurrenz weichen.“ Stiede kann die Parallelen kaum übersehen, ihre westdeutschen Freund:innen wissen nicht, was sie meint.
Das passiert ihr in dieser Zeit immer wieder: Ihre westdeutschen Freund:innen reden von 1968, in ihrer Geschichtsschreibung kommt die DDR nicht vor. Westdeutsche Politgruppen feiern die Individualität als Emanzipation, Stiede sucht lieber das Kollektiv.
Stiede, inzwischen in Berlin, gründet einen Ostsalon, ausschließlich mit Freund:innen aus dem Osten. Sie reden darüber, warum die Wende sie nicht loslässt obwohl sie damals noch so jung waren. Stiedes Salon wird zu so etwas wie einem safe space – ein Ort, an dem sie unter Ostdeutschen diskutieren können, ohne sich erklären zu müssen.
Es ist die Zeit, in der „Identitätspolitik“ zum Kampfbegriff wird. Linke auf der ganzen Welt sprechen öffentlich über Herkunft und Identitätsmerkmale. Es geht um Hautfarbe, um Stigmata, um Diskriminierung. Arbeiterkinder machen darauf aufmerksam, dass sie es schwerer in deutschen Schulen haben, Menschen mit türkischem Nachnamen, dass sie seltener eine Wohnung finden. Ist, in dieser Logik, Ostdeutschsein einfach eine weitere Checkbox in der langen Liste der Identitätsmerkmale?
In der Identitätspolitik geht es um Macht, wer sie hat und wie sie verteilt ist. In der Debatte über die Ungleichheit zwischen Ost- und Westdeutschland werden immer wieder die gleichen Fakten aufgezählt: kaum Ostdeutsche in DAX-Vorständen, geringere Einkommen, geringere Renten, geringere Lebenserwartung. Rechnet man Berlin raus, werden nur zwei Prozent der gesamtdeutschen Erbschaftssteuer im Osten gezahlt. Das ist die Folie, vor der sich manche Ostdeutsche als Bürger:innen zweiter Klasse sehen.
Die Berliner Soziologin Naika Foroutan hat sogar die These formuliert, dass Ostdeutsche letztlich auch Migrant:innen sind. Ein bisschen zumindest. Denn beide, sagt Foroutan, machen ähnliche Erfahrungen. Sie haben ihre Heimat verloren, fühlen sich fremd in der Mehrheitsgesellschaft, erfahren Abwertung. Foroutan ist für diese These heftig kritisiert worden, schließlich machen Ostdeutsche, zumindest weiße Ostdeutsche mit deutschem Namen, eine zentrale Erfahrung nicht: Sie erleben keinen Rassismus.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Was Ostdeutsche zu Ostdeutschen macht, sind geteilte Erfahrungen – und der Blick von außen.
Der Soziologe Daniel Kubiak hat das Ostbewusstsein der Nachwendegeneration erforscht. Für seine Promotion hat er Menschen befragt, die zwischen 1990 und 1995 in Ost- und Westdeutschland geboren sind. Auch Kubiak stellt fest, dass junge Ostdeutsche ihre Identität sehr deutlich herausstellen. Viele von ihnen sagten, dass der Westen noch immer als Norm gesetzt sei, der Osten hingegen als das andere gelte, ausnahmslos als das Negative. Sie hätten das Gefühl, sie müssten den Osten verteidigen. Osttrotz statt Opfererzählung.
Junge Ostdeutsche zögen ihr Ostbewusstsein vor allem aus ihren Nachwendeerlebnissen, den eigenen, aber auch aus den Erzählungen der Eltern, sagt Kubiak. Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, nicht anerkannte Bildungsabschlüsse – daraus sei bei der Nachwendegeneration Solidarität mit der Elterngeneration erwachsen. Wie bei Stiede, die durch die Streikgeschichte des Großvaters zu ihrer Auseinandersetzung mit dem Osten kam.
Olivia Schneider entdeckt den Osten während des Studiums. Ihre Kommiliton:innen aus dem Westen kennen Jägerschnitzel, Würzfleisch und süße Tomatensoße – das Essen aus Schneiders Kindheit – gar nicht, stellt sie fest. Ostdeutsch sein geht für die 28-Jährige durch den Magen, bis heute.
Olivia Schneider sitzt an einem Nachmittag Ende Juli im Eisgarten Huß in Dresden. Hier kam sie erst neulich her, nachdem sie ihre Bachelorarbeit abgegeben hatte. „Ein richtiger Old-School-Eisbecher ist das Beste, um so was zu feiern“, sagt Schneider. Auf Instagram hat sie dazu dann direkt ein paar Bilder geteilt. Als @tumvlt kocht Olivia Schneider dort Rezepte aus dem DDR-Kochbuch „Wir kochen gut“ nach, sie filmt sich beim Eisessen an Orten, die am ehesten mit dem Wort „ostig“ zu beschreiben sind. „Ostfluencerin“ nennt sie sich auf ihrem Kanal, 27.000 Menschen folgen ihr dort.
Der Eisgarten Huß im Osten von Dresden, direkt an den Elbwiesen in Laubegast, ist ein Klassiker: Seit über 100 Jahren stellt Familie Huß Eis her. Die Sitzgarnituren im Eisgarten – sechs runde Höckerchen fest montiert an einem runden Tisch – sind noch aus den 70ern. Drinnen gibt es Eisbecher, natürlich den ostdeutschen Klassiker Schwedenbecher mit Vanilleeis, Apfelmus, Eierlikör und Sahne. Und Softeis, heute die wilde Mischung Kokos-Ananas.
Softeis ist keine DDR-Erfindung, aber es war das Eis, das es überall gab und das immer aus derselben VEB-Maschine kam. Viele Menschen in Ostdeutschland verbinden Kindheitserinnerungen mit diesem Eis – auch jüngere, wie Olivia Schneider, die erst 1996 in Bielatal bei Pirna geboren wurde. Das Eis, das ihre Eltern ihr als Kind kauften, war soft. Es war wie das Jägerschnitzel, das sie im Kindergarten bekam, ein Überbleibsel der Esskultur eines Landes, das es nicht mehr gibt.
Als Schneider Kunst in Dresden studiert, kommen viele ihrer Kommiliton:innen aus dem Westen Deutschlands. Es ist 2015, Pegida marschiert jeden Montag in Dresden auf. Die westdeutschen Studierenden sagen „Alles voll rechts hier“ und meinen, dass man hier ja nicht leben könne. Der Dresdnerin Schneider wird es in der eigenen Stadt unangenehm zu sagen, woher sie kommt. „Erst als ich mich mit meiner ostdeutschen Identität beschäftigt habe, konnte ich aussprechen, dass ich diese Abwertung von außen nicht cool finde“, sagt Schneider. Sie ändert ihre Haltung, wird selbstbewusster: Ostdeutsch zu sein geht auch in gut, nicht nur in Nazi.
Schneider tauscht sich mit ostdeutschen Freund:innen über Kindheitserinnerungen aus und merkt, dass sie manche Erfahrungen teilen. Etwa Erziehungsmethoden aus einer anderen Zeit: „Jeder musste aufessen, jeder musste schlafen.“ Vor allem aber stellen sie fest, dass das Essen ihrer Kindheit ein anderes war als das der westdeutschen Freund:innen. „Mir war auch gar nicht bewusst, dass diese süße Tomatensauce ein echtes Rezept ist“, sagt Schneider amüsiert. Die Sauce besteht vor allem aus Tomatenmark und Ketchup, im Internet findet man sie heute auf diversen Rezept-Websites: „Tomatensoße wie aus der DDR Schulküche“.
Im gemeinsamen Lesekreis arbeiten Schneider und ihre Freund:innen das Buch „Ostbewusstsein“ von Valerie Schönian durch. Die Zeit-Journalistin ist 1990 in Sachsen-Anhalt geboren. Dreißig Jahre später hat sie ein Buch über ihre Ostidentität als Nachwendekind geschrieben. Sie sucht Antworten auf die Frage, was der Osten heute noch ist und porträtiert dabei eine Generation von Nachwendekindern, die noch immer ein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen Ost und West hat – ein Ostbewusstsein. Schönian befragt auch ihre eigene Familie und lernt sie auf einmal kennen, die ostdeutsche Perspektive, in der die DDR für viele ein gutes Leben bot, die nach der Friedlichen Revolution zusahen, wie Infrastruktur und Arbeitsplätze verschwanden und die neuen Mitbürger:innen auf einen herabblickten.
Wenn man die Ostperspektive einmal hat, wird man sie nicht mehr los. Bei Olivia Schneider verändert sie grundlegend den Blick auf Essen. Einen Instagram-Kanal hatte sie sich bereits für ihr Kunstdiplom zugelegt und eine Influencer-Persönlichkeit entwickelt. Im März 2021 macht sie ein Video mit Tomatensoße, Jagdwurst und Nudeln. Caption: „offizielle ossi account jetzt“. Im Januar 2022 steht Schneider auf einem Foto mit Mettigel vor einer mit Stickern beklebten Altbauhaustür.
Im Sommer 2023 dann: „living la ostdeutsche vita“. Aus ihrer Perspektive ein ganz normales kleines Video mit Alltagsszenen ihres Sommers in Sachsen. Zu leichter Jazz-Musik zeigt Schneider im Video: selbstgeerntete Tomaten, einen Regenbogen über der Stadt, eine leere Kaufhalle Ost, einen Nussknacker, eine Flasche Vita Cola, eine Sachsenfahne im Garten und, wie im Eisgarten Huß zu besichtigen: einen Eisbecher und eine Sitzbank aus Waschbeton. Dieses Video macht Olivia Schneiders Account schlagartig bekannter. „Zu dem Zeitpunkt hatte ich 1.500 Follower, das Video bekam 520.000 Klicks, 11.000 Likes und so viele Kommentare!“ Extrem viel für einen so kleinen Account, wie Schneider ihn zu der Zeit betreibt.
Plötzlich folgen ihr auch AfD-Politiker und andere aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum. „Die Leute haben nicht verstanden, dass ich das ironisch meine, wenn ich eine Sachsenfahne zeige“, sagt sie heute. Schneider blockiert die Rechten nach und nach.
Keine andere Partei weiß das Thema Ostdeutschland so gut für sich zu nutzen wie die AfD. Im Wahlkampf plakatierte sie „Vollende die Wende“ und „Im Osten geht die Sonne auf“. Auf einem Plakat fährt der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke lässig auf einem Simson-Moped, darüber steht „Ja zur Jugend!“
Die kleine Schwalbe, die zu DDR-Zeiten in Suhl gefertigt wurde, ist Ost-Kult. Die jährlichen Simson-Treffen ziehen vor allem junge Männer an. Beim letzten Treffen im Juli in Zwickau dokumentierten Journalisten Hitlergrüße, „Sieg Heil“-Rufe, DDR- und Reichsflaggen. Dass das Thema Ostidentität vor allem Rechts mobilisiert, hört man auch in den Fankurven ostdeutscher Fußballstadien. Bei Spielen von Dynamo Dresden grölt die Fankurve regelmäßig „Ost-, Ost-, Ostdeutschland“.
Diese neue Ostidentität, sagt der Soziologe Daniel Kubiak, sei mitverantwortlich für den Erfolg der AfD bei den jungen Erwachsenen im Osten. Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen wurde die AfD bei den 18- bis 24-Jährigen stärkste Kraft.
Dabei war die AfD gar nicht die einzige Partei, die das Thema Ostidentität im Wahlkampf gespielt hat. Auch die sächsische Spitzenkandidatin der Linken, Susanne Schaper, posierte vor einem Trabi mit dem Slogan „Ostdeutsch, sächsisch, links“. Denn gerade diejenigen linken Ostdeutschen, die auch wirklich in Ostdeutschland bleiben, bestehen oftmals darauf zu sagen: Das hier ist meine Heimat, die lasse ich mir von Nazis nicht wegnehmen und von Westdeutschen nicht kaputt reden.
Letztlich sind auch Anna Stiedes Kunstaktionen der Versuch, ostdeutsche Identität als etwas Diverses sichtbar zu machen. Nur dringt die AfD mit dem Thema offenbar viel stärker durch. Stiede jedenfalls steckt seit den Wahlen in Sachsen und Thüringen in einer Krise. Sie fragt sich, ob ihre Arbeit zu Ostdeutschland überhaupt noch Sinn macht.
Lisa Trebs und Vanessa Beyer, beide 1997 im Leipziger Umland geboren, sind zehn Jahre jünger als Anna Stiede. Mit ihrem Projekt (K)Einheit wollen sie der Generation Z im Osten eine Stimme geben, also Menschen, die zwischen 1997 und 2012 geboren sind. Kurze Videos sollen die vielfältige Lebensrealität der ostdeutschen Gen Z zeigen. Das Projekt startete 2022, die Videos sind noch in Arbeit, aber mit Ausschnitten machen Trebs, Beyer und ihr Team deutschlandweit Workshops, arbeiten Handlungsempfehlungen aus. Die Gen Z im Osten wünscht sich Offenkundiges: Orte zum Treffen, und dass der Bus öfter fährt.
Trebs und Beyer erklären den Osten aus junger Sicht, waren beim Ostbeauftragten der Bundesregierung zu Gast, vernetzen sich mit Interessengruppen vor ihnen wie Dritte Generation Ost. Sie werden wahrgenommen. Trotzdem sagt Lisa Trebs im Gespräch mit der taz: „Wegen der Landtagswahlen schauen jetzt alle auf den Osten – aber sonst?“
Steffen Mau liefert in seinem Buch „Ungleich vereint“ Zahlen für das gefühlte Desinteresse. 2019 ergab eine Umfrage der ARD, dass etwa 17 Prozent der Westdeutschen noch nie privat im Osten des Landes waren – von den Ostdeutschen waren zu dem Zeitpunkt nur zwei Prozent noch nie „drüben“.
Das Gefühl von Minderwertigkeit wird jungen Menschen auch heute noch vermittelt. Vanessa Beyer erzählt von einem Gleichaltrigen aus Hessen. „Er hat mich gefragt, ob ich exotische Früchte essen möchte. Die gebe es bei uns ja nicht.“ Wie auch Olivia Schneider lesen Beyer und Trebs das Buch „Ostbewusstsein“ von Valerie Schönian und erkennen sich darin wieder. Ihnen gefällt der Begriff Ostbewusstsein auch besser als Ostidentität: „Unser Anliegen ist es nicht, dass alle, die irgendwie ostdeutsch sind oder fühlen, dies als Teil ihrer Identität anerkennen. Wir wollen eher ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es immer noch Unterschiede gibt zwischen Ost und West“, sagt Beyer.
Mit ihrem Video „living la ostdeutsche vita“ visualisiert Olivia Schneider diese Unterschiede: den Waschbeton, aus dem die Blumenkästen in der DDR waren; die Gartenzäune, die sich im ganzen Land ähnelten; der B22-Bungalow, der überall stand. In der DDR gab es viel Einheitlichkeit, sie ist bis heute Teil des Alltags. Das zeigt Schneider.
In einem Video kreiert sie einen „deftigen Schlemmerbecher“ aus Bautz’ner Senf-Eis: Zu 80er-Jahre-Tanzmusik holt sie einen Eimer Bautz’ner Senf aus dem Tiefkühlfach, formt daraus drei Kugeln Eis und garniert sie mit Spreewald-Gürkchen, Röstzwiebeln, Filinchen Knäckebrot und einem Stängel Dill. Genüsslich löffelt sie ihn aus. So funktioniert Internetironie: Mehr als 1,4 Millionen Mal wurde das Video angeschaut, 24.000 Leuten gefällt es.
Schneider nutzt ihren Kanal vor allem zur Unterhaltung, Geld verdient sie damit nicht. Die Firmen, deren Produkte auftauchen, bezahlen nichts dafür. Von Filinchen bekam sie einmal ein Probepaket mit Knäckebrot und Filinchen-Käppy zugeschickt.
Olivia Schneider findet, dass mit ihrer Reichweite auch Verantwortung einhergeht, aber nach ihrer Rolle sucht sie noch. Vor einigen Wochen schreibt Schneider auf Instagram, dass sie zweifle, ob sie angesichts der politischen Lage überhaupt das Schlemmerbecher-Video posten solle. Viele ermutigten sie, also macht sie weiter – und wird gefeiert, auch von linken sächsischen Aktivist:innen. Schneiders Kanal ist wohl auch deshalb so erfolgreich, weil sie nicht von oben herab auf Sachsen guckt. Weil sie Klischees so sehr ins Lächerliche zieht, dass sie niemandem mehr wehtun können.
Wer Schneiders Obsession mit dem Osten zunächst gar nicht versteht, sind ihre Eltern. „Mein Vater war total perplex“, erzählt Schneider. Er ist 60, die Mutter 53. Beide haben die Wende gut überstanden, er war Elektriker, sie Köchin. „Mein Vater fand das anstrengend, dass 30 Jahre nach der Wiedervereinigung alle immer noch über die Unterschiede sprechen wollen.“
Auch das ist vielleicht eine ostdeutsche Erfahrung: Erst werden die jungen Menschen zu Ostdeutschen gemacht – hier, eine Banane! – und wenn sie diese Identität dann annehmen, folgt aus anderer Ecke der Vorwurf, dass es Ost und West doch gar nicht mehr gebe.
Mittlerweile sprechen Olivia Schneider und ihre Eltern mehr über deren Erfahrungen. Gerade erst war sie mit ihrer Mutter in einer Ausstellung über die Jugendwerkhöfe in der DDR. Ihre Bachelorarbeit im Fach Soziale Arbeit schreibt Olivia Schneider zum Thema Arbeitslosigkeit nach der Wende: „Drei von vier Personen, die ich befragt habe, hatten mir meine Eltern vermittelt.“
Auch Anna Stiede hat mit dem Generationenunterschied zu tun. Egal in welchem Projekt sie sich zum Thema Ostdeutschland engagiert, in Politgruppen oder im Theater, Stiede merkt, dass den jüngeren Ostdeutschen viel eher zugehört wird als den älteren. Presseanfragen? Landen bei Stiede. Für das 30-jährige Mauerfall-Jubiläum 2019 führten sie und andere aus dem Ostsalon Interviews mit Zeitzeugen. Den Applaus dafür bekommen die Jungen. Wie war das damals? Solche Fragen sollen plötzlich Stiede und ihre Freund:innen beantworten und nicht etwa die, die das Damals erlebt haben. „Ich glaube, aus der Sicht der westdeutschen Öffentlichkeit sind wir Jüngeren nicht so beschmutzt von der DDR wie die Älteren“, sagt Anna Stiede heute dazu. Das Wort beschmutzt setzt sie mit ihren Fingern in Anführungszeichen.
Anna Stiede und Olivia Schneider gehen sehr unterschiedlich mit ihrer Herkunft um. Die eine führt stundenlange Interviews, die andere bastelt kurze lustige Videos für das Internet. Was die beiden verbindet, ist ihr Anspruch, Ostdeutschland sichtbar zu machen. Anna Stiede geht es dabei um eine verpasste Chance: „In der Wende steckte so viel zivilgesellschaftliches Potenzial. Die Runden Tische, die Streiks und Betriebsbesetzungen – daraus hätte eine bessere Gesellschaft werden können.“ Olivia Schneider sagt, sie wolle vor allem den Charme Ostdeutschlands zeigen. Die jetzige Realität von Orten, an denen sich nicht viel verändert hat.
Nur, wo ist die Grenze zur Ostalgie, zur Ostdeutschtümelei? Steckt darin nicht eine Verharmlosung? Kann man das Gute an der DDR zeigen, ohne das Schlechte mitzuerzählen?
Stiede und Schneider sind beide überzeugt, dass das geht. „Ich will nicht wieder in der DDR leben“, sagt Olivia Schneider. Eine Einladung auf einen Campingplatz an der Ostsee, wo alles wie in der DDR aussieht, hat sie dankend abgelehnt. In ihrem Kanal teilt sie einen Podcast über die so genannten Tripperburgen in der DDR, Kliniken, in denen Frauen und Mädchen wegen angeblicher Geschlechtskrankheiten eingesperrt wurden. Sie ruft zwischen Videos aus dem Nussknackermuseum in Neuhausen zu Spenden für Anti-Nazi-Vereine auf. Ihre Videos seien „definitiv keine Ostalgie,“ versichert sie, es gehe ihr um Sachsen heute, um die Spuren der DDR im Jetzt.
Auch Anna Stiede wünscht sich die DDR nicht zurück. Wenn sie sagt, ihre Generation könne sich als erste wieder Oststolz erlauben, dann will sie damit nicht die Diktatur verharmlosen. Ihr geht es um einen zugewandten Blick auf ostdeutsche Erfahrungen, die Bearbeitung von Verlust und die Suche nach Selbstwirksamkeit in der Wendezeit. „Unsere Familien haben den Westdeutschen viel voraus“, sagt sie. „Wir haben den Versuch von Sozialismus erlebt. Wir haben eine große Transformation überstanden und die Baseballschlägerjahre überlebt. Wer sich dafür interessiert, wie sich die Gesellschaft zum Wohle aller umgestalten lässt, kommt weder an migrantischen noch an ostdeutschen Erfahrungen vorbei.“
In Strausberg beendet Anna Stiede ihr Programm. Sie hat gesungen, den Soundtrack aus dem DDR-Klassiker „Solo Sunny“, und die Postkarten mit den Erinnerungen vorgelesen. Die Beklemmung vom Anfang ist verflogen, die Stimmung gelöst.
Nun beginnt der inoffizielle Teil. Auf dem Marktplatz in Strausberg steht ein großer Kasten aus Aluminium, wie ein kleines Haus. Stiede schließt eine Tür auf, öffnet eine Klappe nach vorn. Ein Kiosk entsteht, der „Kiosk of Solidarity“. Er ist Teil des Konzepts, hier werden Stiede und ihr Performance-Partner Hans Neva in den kommenden Tagen Suppe und Getränke austeilen, sie wollen mit den Strausberger:innen ins Gespräch kommen. Über ihre Wendeerinnerungen, ihr Ostdeutschsein, ihren Blick auf Deutschland heute.
Es ist der 5. September, noch gut zwei Wochen bis zu den Wahlen in Brandenburg. In allen Umfragen liegt die AfD aktuell auf dem ersten Platz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld