piwik no script img

Bürgerräte im BundestagGuter Rat nicht erwünscht

Hannes Koch

Kommentar von

Hannes Koch

Die Union findet Bürgerräte überflüssig bis gefährlich. Dabei stärkt das die Politik beratende Gremium die Mitte und die Demokratie.

Aufgelöst: Mitglieder des Bürgerrats „Ernährung im Wandel“ mit Bärbel Bas (SPD, M), Präsidentin des Deutschen Bundestages, am 14.1.2024 Foto: Christophe Gateau/picturer alliance

A nscheinend möchte die Union nicht, dass sich die demokratischen Verfahren behutsam erneuern. So sorgten vor allem die Christdemokraten dafür, dass die für Bürgerräte zuständige Stelle in der Bundestagsverwaltung aufgelöst wurde und der entsprechende Haushaltstitel verschwand.

Auf den ersten Blick mögen Bürgerräte merkwürdig erscheinen, denn die Mitglieder werden per Losverfahren bestimmt. Doch gerade dadurch werden antagonistische Meinungen nicht weiter auseinandergetrieben, sondern eher zusammengeführt. Oft stehen am Ende unaufgeregte, sinnvolle und konstruktive Vorschläge zur Lösung politischer Probleme. Das erste offizielle Experiment beim Bundestag vor zwei Jahren, der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“, brachte sein Ergebnis mit breiter Mehrheit zustande.

Das Verfahren stärkt die Mitte. Es schwächt die repräsentative Demokratie nicht, sondern kann das Gegenteil erreichen – auch wenn die Politik den Gremien bisher nur beratenden Charakter zubilligt. Wobei eine Weiterentwicklung hin zu einer gewissen Art von Verbindlichkeit der Ergebnisse sinnvoll erscheint. Sonst fragen sich die Teilnehmenden, warum sie Zeit und Kraft investieren.

Das Logo der taz: Weißer Schriftzung t a z und weiße Tatze auf rotem Grund.
taz debatte

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.

Die zeitgenössische Union betrachtet solche Innovationen und Entwicklungen jedoch als gefährlich, die Hartrechten wie die AfD sowieso. Dabei bleibt eine Gesellschaft nur lebenswert, wenn sich aus Nischen heraus neue gesellschaftliche und politische Bedürfnisse artikulieren und sie schließlich breiteren Einfluss gewinnen können. Zum Beispiel: neues Arbeitsrecht (Lieferkettengesetze), neue Formen von Mobilität (ohne Erdöl), neue Geschlechterverhältnisse (Regenbogenfamilien), neue Ausdrucksweisen (Gendern), neue Ernährung (mal keine Wurst).

Konservative und Rechte mögen so etwas nicht. Sie verhindern Fortschritt. Und befürworten Rückschritt. Wobei diese Einschätzung – das muss man einräumen – davon abhängt, was unter Fortschritt zu verstehen ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Hannes Koch
Freier Autor
Geboren 1961, ist selbstständiger Wirtschaftskorrespondent in Berlin. Er schreibt über nationale und internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik. 2020 veröffentlichte er zusammen mit KollegInnen das illustrierte Lexikon „101 x Wirtschaft. Alles was wichtig ist“. 2007 erschien sein Buch „Soziale Kapitalisten“, das sich mit der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen beschäftigt. Bis 2007 arbeitete Hannes Koch unter anderem als Parlamentskorrespondent bei der taz.
Mehr zum Thema

33 Kommentare

 / 
  • Ich persönlich halte Bürgerräte - insbesondere mit der hier angedeuteten Idee der Verbindlichkeit - keinesfalls für ein Instrument zur Stärkung der Demokratie.



    Die Personen werden per Losverfahren ausgewählt, jedoch besteht kein Mitwirkungszwang. Was wird passieren? Es werden sich vornehmlich Personen engagieren, die zum jeweiligen Thema bereits eine starke Meinung haben und vor allen Dingen Personen, die schlicht und ergreifend Zeit und Energie für so etwas haben.



    Während man bei ersterem noch argumentieren könnte, dass so wenigstens Personen mit verschiedenen Meinungen an einen Tisch kommen, anstatt nur in ihrem Dunstkreis zu verharren, entbehrt ein solcher Bürgerrat durch den zweiten Teil der erhofften Repräsentanz.



    Auch jetzt haben alle Bürger:innen schon die Möglichkeit, sich politisch zu engagieren, nämlich in Parteien. Wie ein weiteres Instrument, bei dem vornehmlich die gleiche Art von Personen aktiv werden wird, diese Möglichkeiten nun stärken soll, erschließt sich mir daher nicht.



    Am Ende wird damit lediglich das Prinzip 'Eine Person, eine Stimme' ausgehöhlt, und das finde ich alles andere als demokratisch.

  • Bürgerräte krankten bisher so gut wie IMMER daran, dass die weniger gut gebildeten und weniger gut verdienenden Milieus massiv unterrepräsentiert waren/sind, die akademisch gebildete, besser verdienende Mittelschicht dagegen überrepräsentiert.

    Da in Deutschland sowieso alles auf letztere zugeschnitten und von ihr dominiert wird (wie viele Journalisten/Politiker/Wirtschaftsbosse/Spitzenbeamte/Professoren/usw. aus der Arbeiterklasse gibt es? Na?), ist es nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich, ein Gremium zu schaffen, mit dem sich diese dominierende Klasse noch mehr Gehör und Einfluss verschaffen könnte.

    Wie gut, dass wenigstens das aber auch gar nicht funktioniert hat.

  • Das hängt doch mit der letzten Wahlrechtsreform zusammen. Wenn der/die Erste der Erststimmenkandidaten nicht mehr sicher in den Bundestag kommt, nützt nach Meinung des Wählers auch sein Wahlkreisbüro nichts. Losverfahren sind zwar gerecht gehören aber weder direkt noch nicht indirekt in die Legislative. Der Bürgerrat ist kein Ersatz für ein sicheres Erststimmenmandat eines Wahlkreises.

    • @Hans - Friedrich Bär:

      Losverfahren sind nicht gerecht, sie sind zufällig.



      Ist ein Gewinn auf ein Lotterielos gerecht?

  • Statt ausgeloste Bürgerräte in einer "beratenden Funktion" zu entsenden wären wohldosierte Volksentscheide das bessere Mittel um die Demokratie "direkt" zu stärken.

    Dafür lässt sich aber auch nicht jeder erwärmen.

  • Wir haben bereits eine Bürgervertretung, und die ist sogar demokratisch legitimiert. Nennt sich Parlament.

  • "Zum Beispiel: neues Arbeitsrecht (Lieferkettengesetze), neue Formen von Mobilität (ohne Erdöl), neue Geschlechterverhältnisse (Regenbogenfamilien), neue Ausdrucksweisen (Gendern), neue Ernährung (mal keine Wurst)."

    Und was wenn in den Bürgerräten das Gegenteil dabei rauskommt? Sind die Initiativen dann vom Tisch?

    Das ganze hat den bereits eingebauten antidemokratischen Fehler, dass die Befürworter sich daraus offenbar einen Aufwind nur für jene Anliegen erhoffen, die sie selber für gut und richtig halten. Es gibt also keine Ergebnisoffenheit - soll z.B. über Migrationspolitik beraten werden?

    Wie hier schon kommentiert wurde, sehe ich das Problem dass sich dort besonders jene engagieren, die ohnehin schon (partei)politisch aktiv sind und dann eben NICHT die Meinung der bisher nicht gehörten zur Geltung kommt.

  • Die Auslosung von Bürgerräten ist sicherlich nicht schlechter als die Auslosung von Wehrpflichtigen. Das Entscheidende wäre aber, dass in den Bürgerräten Menschen diskutieren, die von der Politik der staatlichen Parlamente selbst betroffen sind, was für die Parlamentarier selbst ja in der Regel nicht der Fall ist.

    Allerdings bräuchten die beratenden Bürgerräte sicherlich manchmal selber unterstützende Beratung unabhängiger Wissenschaftler:innen.

    Besser wäre es aber wohl, wenn zusätzlich die Parlamentsabgeordneten einer stärkeren Kontrolle durch alle Bürger:innen unterliegen würden anstatt nur ihrem Gewissen, welches ihnen allzuoft abgeht und manchmal nur eine Chiffre für Bayer oder die Deutsche Bank darstellt oder für diverse nationale Machtinteressen.

    Dass der Begründer der Bürgerräte - Schäuble - sich das so gedacht hat, sondern diese eher als Feigenblatt eines bürgerfernen Parlaments, ist klar. Aber man könnte daraus natürlich etwas Besseres machen.

  • Was man an den Bürgerräten kritisch sehen muss sind die beratenden "" Experten "". Hier ist einfach die Gefahr zu groß das Personen, Organisationen der Gruppe ihre Ideologie aufdrücken.

  • Eine unsinnige Idee wird nicht dadurch besser, dass sie von CDU/CSU abgelehnt wird! -- Wobei das Ironische darin besteht, dass ausgerechnet der rechte CSU-Mann Günther Beckstein zum Vorsitzenden des "Bürgerrats Demokratie" -- nein, nicht ausgelost sondern -- ausgekungelt wurde. Dann lieber doch reguläre Wahlen, bei denen auch Bürgerinitiativen eine Chance haben.

    • @Rudi Lipp:

      Was ist daran unsinnig, wenn die Meinung der BürgerInnen gehört und evtl. sogar berücksichtig wird?

  • Bürgerräte sind kontraproduktiv.



    Sie haben keine wirkliche Macht, schließlich sind sie auch nicht repräsentativ. Sie sind nicht demokratisch, denn durch das Los ist den meisten der Zugang grundsätzlich verwehrt - im Gegensatz zum "normalen" Politikbetrieb.



    Bürgerräte würden mit Sicherheit so missbraucht werden, wie es bei Ethikräten und anderen Feigenblättern der Fall ist:



    Die Berufspolitiker berufen sich auf sie, wenn es ihnen in den Kram passt.



    Die eigentliche Gebot der Demokratie sind Volksabstimmungen mit verbindlichen Ergebnissen wie in der Schweiz.

    • @Frauke Z:

      "Die eigentliche Gebot der Demokratie sind Volksabstimmungen mit verbindlichen Ergebnissen wie in der Schweiz."

      Auch diesbezüglich ist die Partei, die dies verhindert, und in der Vergangenheit verhindert hat, die CDU.

      • @Kaboom:

        Was auch schlich daran liegt, das Volksabstimmungen auf Bundesebene schlicht nicht möglich sind. Sie sind rechtlich gar nicht möglich, außer in den im Grundgesetz in Artikel 29 und 146 genannten Ausnahmen.

        Das hat also nichts mit der CDU zu tun (auf Bundesebene), sondern geltendem Gesetz…

    • @Frauke Z:

      Aber nur wenn es strenge Regeln gibt welche Mehrheiten für was gebraucht werden, wenn Wahlkampf transparent läuft insbesondere was Finanzierung und social Media angeht.

  • Es war CDU-Politiker Schäuble der dem ersten Bürgerrat den Weg geebnet hat.

    • @Franz Botens:

      Weil die Grünen das wollten und es zu der Zeit so aussah, als liefe alles auf eine schwarz-grüne Koalition hinaus.

  • Ein Problem beim Losverfahren ist die Personengruppe, aus der ausgelost wird. Bei Freiwilligkeit werden sich vor allem Menschen melden, die was verändern wollen. Menschen, die mit der aktuellen Situation dagegen zufrieden sind, bleiben zuhause. Aber Zwang zur Teilnahme an Bürgerraten wird auch niemand wollen. Dann haben wir wieder das alte Thema der schweigenden Mehrheit und der lautstarken Minderheit...

  • Wir brauchen keine durch nichts legitimierte Ersatzparlamente für die, die ihre politischen Vorstellungen im demokratischen Prozess nicht durchsetzen konnten. Wir haben den Bundestag, Land- und Kreistage, Stadt- und Gemeinderäte, alles demokratisch legitimierte Gremien. Die sogenannten Bürgerräte sind lediglich ein Tummelplatz für die ewigen Adabeis, die auf irgendwelchen Umwegen an diesen Gremien vorbei ihre politischen Vorstellungen durchsetzen wollen.

  • Vielleicht sollte man erst mal darüber nachdenken, was passiert wenn in den Bürgerräten die Konservativen und Rechten die Mehrheit haben!



    Und so manche Volksabstimmung - auch im Ausland - haben Ergebnisse hervorgebracht die den Linken garnicht geschmeckt haben.

    • @Bernd Simon:

      Man kann die Bürgerräte aus verschiedenen guten Gründen ablehnen. Das tue ich auch. Ihr Grund ist jedoch kein guter. Sie lehnen Bürgerräte und Volksabstimmungen ab, weil sie zu Ergebnissen führen könnten, die nicht links sind? Was für ein Demokratieverständnis!

  • C++ ist längst nicht mehr in der Mitte positioniert. Bleibt zu hoffen, dass dies von der wahlberechtigten Mehrheit erkannt wird, bevor es zu spät ist.

    • @Wolfgang Laux:

      Kanzlerkandidat Gerhard Schröder verortete damals die SPD in der "neuen Mitte". Wenn da die SPD steht, kann die CDU dort nicht sein. Wo liegt also das Problem?

    • @Wolfgang Laux:

      Die Mitre ist relativ, eingedenk das Union und AFd zusammen die Mehrheit haben und die AFD rechter als die Union ist, ist die Union automatisch Mitte.

      • @Machiavelli:

        Entweder die Merkel-CDU ist Mitte, oder die Merz-CDU ist Mitte. Beides geht nicht.

        • @Kaboom:

          Mitte ist relativ. Der Punkt zwischen linker Flügel Linkspartei und rechter Flügel afd.

        • @Kaboom:

          Doch das geht, denn die politische Mitte ist kein Fixpunkt, sondern ein ganzer Bereich.



          Und selbst wenn man es als Fixpunkt definieren würde, so läge die Mitte (50%) jetzt auch bei der CDU.

          • @Walterismus:

            Die Mitte ist da, wo der jeweils gleiche Abstand zu den Rändern links und rechts vorliegt. Und das ist garantiert nicht die Merz-CDU.

  • Die offiziellen Bürgerräte in ihrer bisherigen Form sind nichts weiter als Inszenierungen davon, wie sich die elitäre Parteienoligarchie demokratische Teilhabe vorstellt: gehorsam und ohne Konsequenzen. Das beginnt damit, dass die Bürgerräte nicht selbst bestimmen konnten, welches Thema sie für so wichtig und dringend halten, dass eine rechtliche Neuordnung als notwendig erachtet wurde. Es endet damit, dass Beschlüsse der Bürgerräte die parlamentarische Politik nicht als Mandat verpflichten, sondern also optionale Wunschliste abgelegt werden können. Entsprechend wenig Beachtung hat die Arbeit der Bürgerräte in den Medien und der Öffentlichkeit erfahren. Dabei könnte so ein Bürgerrat die Vielfalt gesellschaftlicher Interessen besser repräsentieren als jede gewählte Versammlung, ausgestattet mit der notwendigen Unabhängigkeit und verbindlichen Konsequenzen, die Interessen eines Querschnitts der Gesellschaft und ihrer Bereitschaft zu Kompromissen, Einschränkungen und Härten auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Wo die Republik Demokratie als Streit inszeniert, könnte ein kompetenter Bürgerrat demokratischen Gemeinsinn entgegensetzen.

  • Weshalb sollten Bürgerräte die Demokratie stärken? Solange ich nicht selbst teilnehme, haben sie nichts mit mir zu tun,ich habe sie nicht gewählt und sie repräsentieren mich nicht. Und da sie auch keine bindenden Entscheidungen treffen, sehe ich in ihnen auch überhaupt keinen Vorteil.

    • @DiMa:

      Die Aussage hat sehr wenig Substanz. Die mich vertretenden Representanten im Bundestag habe ich auch nicht gewählt.

      Und auch wenn die Bürgerräte keine bindenden Entscheidungen treffen, so bringen Sie wichtige Argumente in die Diskussion. Oder glauben Sie etwa, dass die Abgeordneten sich bei ihren Entscheidungen nicht vorab beraten lassen???

  • Bürgernähe scheint immer dann gewünscht zu werden, wenn es gerade in den eigenen politischen Kram passt. Irgendwie ist dieses Schauspiel ermüdend. Was ist denn eigentlich aus dem Wahlrecht ab 16 geworden? Merkwürdig still nach den Wahlerfolgen der Liberalen und Rechten bei den jungen Mitbügern. Immerhin zeigt es, wie opportunistisch solche Wünsche sind.

    • @Nachtsonne:

      Ein Wahlrecht für noch nicht Volljährige, die nur eingeschränkt Geschäftsfähig sind, völlig absurd.