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Entscheid des VerfassungsgerichtshofsVolksbegehren „Berlin autofrei“ ist zulässig

Schlappe für den Senat: Das Volksbegehren „Berlin autofrei“ ist laut Verfassungsgericht zulässig. Nun ist das Abgeordnetenhaus am Zug.

Mit einer klaren Mehrheit von 8 zu 1 gibt das Verfassungsgericht „Berlin autofrei“ recht Foto: Sebastian Christoph Gollnow/dpa

Berlin taz | Der Andrang im Saal des Berliner Verfassungsgerichts in Schöneberg am Mittwochmorgen ist groß. Kurz nach 10 Uhr treten dann die neun Rich­te­r*in­nen ans Pult und Gerichtspräsidentin Ludgera Selting verkündet: Das Volksbegehren „Berlin autofrei“ ist zulässig.

„Das Verfassungsgericht hat nicht entschieden, ob Berlin autofrei wird“, stellt Selting klar. „Sondern ob das Verfahren dazu eingeleitet werden kann.“ Und das haben die Rich­te­r*in­nen mit einer deutlichen Mehrheit von acht zu einer Stimme bejaht. Als Nächstes muss sich nun das Abgeordnetenhaus mit dem Gesetzentwurf beschäftigen.

Vier Monate haben die Abgeordneten dafür Zeit. Lehnen sie ihn ab, startet eine zweite Unterschriften-Sammelphase, bei der die Initiative innerhalb von vier Monaten Unterschriften von 7 Prozent der Berliner Wahlberechtigten sammeln muss, also rund 175.000. Sind sie damit erfolgreich, könnte es 2026 zum Volksentscheid kommen.

Der Gesetzentwurf sieht vor, dass nach einer Übergangszeit von vier Jahren innerhalb des S-Bahn-Rings Privatleute nur noch zwölf Fahrten pro Kopf und Jahr unternehmen dürfen – später dann nur noch sechs. Dabei soll es zahlreiche Sondergenehmigungen für Wirtschaftsverkehr und besondere Bedarfe geben, auch Taxis bleiben erlaubt. 50.000 Unterschriften hatte die Initiative im August 2021 für eine autoreduzierte Innenstadt gesammelt.

Die Innenverwaltung hält den Gesetzentwurf für grundgesetzwidrig und hatte ihn 2022 dem höchsten Gericht Berlins zur Prüfung vorgelegt. Und jetzt eine herbe Schlappe erlitten.

Gesetzentwurf „angemessen und verhältnismäßig“

In allen Punkten widersprach das Gericht der Argumentation des Senats. Demnach ist das Vorhaben der Initiative kein Eingriff in die Handlungs- oder Eigentumsfreiheit. Schließlich dürfen die Ber­li­ne­r*in­nen weiterhin Autos besitzen – nur eben nicht uneingeschränkt damit fahren. „Es gibt keinen Anspruch auf die Alleinnutzung öffentlicher Straßen durch Pkw“, so Selting. Die sind schließlich vielfältig nutzbar und nicht dem motorisierten Individualverkehr vorbehalten – und nur weil das derzeit so ist, muss es nicht so bleiben, stellt das Gericht klar.

Auch das Argument, dass das Land Berlin überhaupt keine Gesetzgebungskompetenz dafür besitze, wischen die Ver­fas­sungs­rich­te­r*in­nen beiseite. Berlin dürfe durchaus einen neuen Straßentyp, die autoreduzierte Straße, schaffen. „Es wird neu bestimmt, welche Nutzungen zulässig sind, also das ob und nicht das wie“, so die Gerichtspräsidentin. Und das ob falle unter das Straßenrecht des Landes – und nicht das Straßenverkehrsrecht des Bundes, das das wie regelt.

Eins nach dem anderen zerpflückt das Gericht die autozentrierte Argumentation des Senats, und hält fest: Die individuellen Einschränkungen durch eine Reduzierung des Autoverkehrs im Zuge des Volksentscheides sind zumutbar, da dieser „hochrangige Gemeinwohlziele mit Verfassungsrang“ verfolgt. Nämlich: Den Schutz von Leben und Gesundheit sowie des Klimas. Die vorgesehenen Mittel seien „geeignet und erforderlich“, da aktuell keine anderen Maßnahmen diese Ziele erreichen könnten.

Während die Ver­tre­te­r*in­nen des Senats das Urteil lieber nicht kommentieren wollen, ist die Freude bei den Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen groß. Das Gericht habe klar gemacht, dass der Gesetzgeber entscheiden kann, wie der öffentliche Raum genutzt werden soll, so der Anwalt der Initiative, Philipp Schulte. „Es gibt nach der Verfassung kein Grundrecht auf hemmungsloses Autofahren. Jetzt kommt der Verkehrsentscheid endlich wieder ins Rollen.“

Angesichts der vielen Verkehrstoten und der Klimakrise sei das höchste Zeit, findet die Sprecherin von „Berlin autofrei“, Marie Wagner. „Jetzt müssen wir die Berliner Verkehrspolitik aus dem Rückwärtsgang herausholen und endlich mit der Verkehrswende vorankommen.“ Die Initiative stellt sich derweil auf eine weitere Unterschriftensammlung ein. „Wir gehen nicht davon aus, dass das Abgeordnetenhaus das Gesetz annehmen wird.“

Alle Parteien zeigen sich skeptisch

Danach sieht es auch tatsächlich nicht aus. Neben SPD und CDU zeigen sich auch die Berliner Grünen skeptisch. Sie fürchten, „dass Menschen, die derzeit noch ein Auto besitzen, sich überrumpelt fühlen“, so die Landesvorsitzenden Nina Stahr und Philmon Ghirmai am Mittwoch. Wir teilen einerseits das Ziel, Berlin lebenswerter zu machen, sehen aber andererseits den Weg der Initiative kritisch“, hieß es weiter.

Ein weitreichendes Verbot von Autos im Innenstadtbereich könne zu einer Polarisierung zwischen Innen- und Außenstadt führen. Die Grünen sprechen sich stattdessen für eine Verkehrswende aus, „die alle mitnimmt“: „Der Volksentscheid bietet eine Chance, nun einen Prozess zu starten, bei dem gemeinsam über die Parteigrenzen hinweg und mit der Initiative zusammen ein Konsens in der Verkehrspolitik erarbeitet wird.“

Auch von der Berliner Linken sind kritische Stimmen zu hören. Zwar teile man das übergeordnete Ziel, den Autoverkehr zu reduzieren und damit Verkehrssicherheit, Luft- und Lärmbelastung zu verbessern sowie Emissionen zu reduzieren, so der verkehrspolitische Sprecher Kristian Ronneburg. Man wolle jetzt mit der Initiative das Gespräch suchen, wie und mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht werden kann. „Dabei gilt es auch kritische Punkte wie zum Beispiel den enormen bürokratischen Aufwand der Maßnahmen des Gesetzentwurfs zu diskutieren“, so Ronneburg am Mittwoch.

Der Verein Changing Cities freut sich auf die nun folgende „Debatte über die besten Wege zur Mobilitätswende“, so Sprecherin Ragnhild Sørensen. Für sie liegt der zentrale Hebel im Ausbau der Infrastruktur von ÖPNV, Rad- und Fußwegen.

Der Chef des Fußgängervereins Fuss, Roland Stimpel, findet die Idee, Zwang gegen das Auto statt Zwang durchs Auto hingegen verständlich: „Nur eine Minderheit in der Innenstadt fährt Auto“, so Stimpel, aber sehr viele Menschen würden gefährdet, von Lärm und Abgasen gequält, an der Mobilität zu Fuß, in Bus und Tram oder auf dem Rad behindert“, so Stimpel. Dennoch dürfe man nicht den Autozwang durch Anti-Auto-Zwang ersetzen. Senat, Parteien und Volksbegehren sollten stattdessen einen Konsens suchen. „Das ist möglich – mit einem Maß an Autoverkehr, das für die Mehrheit der Menschen verträglich ist.“

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5 Kommentare

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  • Schön, dass drüber diskutiert werden muss. Denn das Ergebnis einer solchen Regelung wäre sicher wünschenswert.



    Nur: Wie um himmelswillen, will man das umsetzen?



    Wer innerhalb des Rings wohnt, wird wohl kaum mehr ein eigenes Auto besitzen, wenn es nur 12 mal genutzt werden darf.



    Werden Gutscheine ausgestellt, die man bei Fahrtantritt einlösen muss? Darf man diese Gutscheine dann auch verkaufen? Wie viele Fahrten zählt eine Fahrt, wenn 4 Personen im Auto sitzen? Was, wenn eine Person vorher aussteigt? Wer kontrolliert, wie viele Fahrten eine Person schon hinter sich hat?



    Ich kann durchaus verstehen, warum dieser Entwurf im ersten Anlauf einfach nur belächelt und zu den Akten gelegt wurde. Ein Gesetz, das mehr Fragen als antworten liefert ist einfach kein gutes Handwerk.

  • Sehr schön. Klar haben die genannten Stimmen recht, man muss sich auch um Akzeptanz sorgen, aber insgesamt ist es gut, wenn Städte für Menschen da sind und nicht für Autos (ja, Autos gehören Menschen, aber auch das müsste nicht sein).

  • Mega. Wer nicht sieht, dass das über kurz oder lang die Zukunft urbaner Räume wird, ist schon abgehängt.



    Städte brauchen andere Konzepte der Zukunft, autofrei ist ein grundlegender Teil davon.

  • Visionär und näher am Nötigen als der Status Quo - und doch wird es nicht so kommen, wie im Entscheid vorgesehen, noch nicht. Vielleicht aber ein Anstoß, den Entzug vom privaten Auto wenigstens zu starten.

  • Ich würde für die Grünen gerne den Joker "Jette Nietzard" spielen, ist das möglich?